p-4ra-1W. ReslR. WillyJ. BergmannB. VariscoT. K. Oesterreich    
 
TRAUGOTT KONSTANTIN OESTERREICH
Das Ich

"Die Identität des Ich soll auf den Erinnerungen beruhen. Dieser Gedanke ist ebenso unhaltbar wie unklar. Das Gedächtnis ist vollständig unfähig, zwischen zwei aktuellen Prozessen, wie etwa dem Sehen einer Farbe und dem Fällen eines Urteils, irgendeine Verbindung herzustellen, die die Zusammengehörigkeit zu einer Bewußtseinseinheit bedeuten würde. Vielmehr müssen im Gegenteil die beiden Prozesse bereits demselben Ich zugehören, damit überhaupt eine unmittelbare Erinnerung an sie stattfinden kann."

Alle eigentlichen psychischen Prozesse sind Zustände oder Funktionen eines Subjektes, gehören zu einem Ich, gehen von ihm aus und sind ohne ein solches nicht möglich. (1) Bei allen solchen Vorgängen, wie dem Perzipieren, dem Apperzipieren, dem Vorstellen, dem Urteilen, dem Zweifeln, dem Fühlen und Wollen, überall ist die Frage unabweisbar:  Wer  perzipiert,  wer  apperzipiert,  wer  stellt vor usw. Und stets kann die Antwort nur lauten: Ein Ich perzipiert, apperzipiert usw. Von allen diesen Vorgängen ist ihrem Wesen nach das Subjektmoment unabtrennbar. Damit ist aber auch bereits fast alles gesagt, was sich von diesem Subjekt, diesem Ich selbst, abgesehen von seinen Zuständen und Funktionen, aussagen läßt.

Zu beachten ist, daß das Ich nicht etwa in einer Reihe mit den übrigen Gegenständen der Apperzeption steht.

STUMPF nun meint: "Der Ich-Gedanke hat nichts mit dem allgemeinen Gegenstandsbegriff zu tun; er ist nicht etwa das notwendige Korrelat dazu, sondern selbst nur eine besondere Form davon." (2) Auch ich erkennen natürlich an, daß das Ich ein besonderer Gegenstand der apperzeptiven Wahrnehmung ist. Wir vertreten sogar mit Nachdruck die Ansicht, daß das Ich sich zumindest innerhalb gewisser Grenzen in seinen Zuständen und seiner Funktionstätigkeit selbst zu beobachten, eigentlich wahrzunehmen vermag. Unrichtig würde es mir dagegen erscheinen, anzunehmen, daß das Ich sich von den übrigen, den objektiven Apperzeptionsinhalten nicht unterscheidet, sondern ein Gegenstand wie die übrigen objektiven Inhalte, bzw. die psychischen Prozesse ist. Es ist weder ein Objektives,, wie die Sinnesinhalte usw., noch auch ein psychischer Vorgang neben den übrigen, kein Affekt, keine Funktion. Sondern es ist eben das diesen Zuständen und Funktionen zugrunde liegende rätselhafte Etwas, dessen Zustand oder Funktionen jene Prozesse sind (3).

Die Eigenart und damit überhaupt das spezifisch Wesentliche am Ich wird völlig verkannt, wenn man es zu einem Gegenstand wie die anderen macht.

Auch mit den von REHMKE ausgesprochenen Anschauungen decken sich die hier vertretenen nicht. Es scheint mir nicht angängig, das Subjekt zu einer Bestimmtheit des Bewußtseins selbst werden zu lassen. Das Bewußtsein ist eine Funktion des Subjekts, dies letztere ist das erste. Nicht das Bewußtsein zeigt eigentlich Bestimmtheiten, sondern das Subjekt.

Nur durch die Nichtbeachtung dieses eigentümlichen Charakters des Ich ist es zu erklären, wie ferner HUME schreiben konnte:
    "Wenn ein Eindruck die Vorstellung des Ich veranlaßte, so müßte dieser Eindruck unser ganzes Leben lang unverändert derselbe bleiben; denn das Ich soll ja in solcher Weise existieren. Es gibt aber keinen konstanten und unveränderlichen Eindruck. Lust und Unlust, Freude und Kümmernis, Affekte und Sinneswahrnehmungen folgen aufeinander; sie existieren nicht alle zu gleicher Zeit. Also ist es unmöglich, daß die Vorstellung unseres Ich aus irgendeinem dieser Eindrücke oder überhaupt aus irgendeinem Eindruck stammt; folglich gibt es keine derartige Vorstellung." (4)
Auch diese Äußerungen verkennen gänzlich die spezifische Eigenart des Ich. Das Ich ist kein Gefühl oder eine besondere Funktion oder gar ein Empfindungsinhalt, sondern es ist das, dessen Zustand das Gefühl ist, von dem die Funktionen ausgehen, und in dessen Bewußtsein die Empfindungsinhalte gegenwärtig sind.

Abstrahiert man von den Zuständlichkeiten und Akten des Ich, so ist es freilich ebenso schwer zu fassen, wie etwa die Farbe, die keine Intensität mehr hat. Überall, wo immer uns ein Ich entgegentritt, befindet es sich auch in einem bestimmten Zustand oder vollzieht es eine Funktion. Sucht man es noch außer den Akten und Gefühlen, so kann es niemals gefunden werden.

SCHUPPE hat deshalb geradezu sagen zu können geglaubt, daß das Ich, das keine Bewußtseinsinhalte mehr hat, aufhört, ein individuelles Ich zu sein, und etwas Abstraktes wird. (5) Das Subjekt, aus dem die Reflexion alle Bewußtseinsinhalte hat verschwinden lassen, also das Subjekt  kat exochen [schlechthin - wp], sei "das ärmste und leerste Ding der Welt".
    "Seine Existenz ist unbewzweifelbar, aber es existiert doch nur in dem wirklichen ganzen bewußten Ich, gegenüber, d. h. also zusammen mit seinem Inhalt, für sich gedacht aber ist es eine Abstraktion ... Dieses Ich ist ein nur abstrahendo denkbares begriffliches Moment des ganzen und wirklich bewußten Ich." (6)
Am besten wird man die Sachlage dadurch charakterisieren, daß man das Ich-Moment - im Sinne von HUSSERLs Terminologie (7) - als einen unselbständigen Gegenstand bezeichnet. Es scheint mir jedoch keineswegs, daß das isolierte Ich aufhört, ein individuelles Ich zu sein, und zum Begriff wird, wie das besonders scharf REHMKE ausgesprochen hat:
    "Wenn wir ... vom Subjekt der Seele reden, so meinen wir nicht etwa ein Einzelwesen, sondern die das Einzelwesen begründende einheitstiftende Bestimmtheit der Seele. Dieses Subjekt der Seele also ist, wie die anderen seelischen Bestimmtheiten, Allgemeines und nicht etwa Einziges, was ja nur Einzelwesen sein kann ... Das Subjekt der Seele ist mithin ein einfaches Allgemeines, aber ist trotz alledem eine besondere Bestimmtheit jedes Seelenaugenblicks. Keineswegs aber gibt es - was daraus, daß das Subjekt der Seele einfaches Allgemeines ist, klar sein muß - besonderes Subjekt, sei es des einen Seelenaugenblicks gegenüber dem des anderen, sei es der einen Seele gegenüber dem anderer Seelen. Dieses Subjekt ist eben als einfaches Allgemeines für alle Augenblicke einer Seele und für alle Seelen ein und dieseselbe einheitsstiftende Bewußtseinsbestimmtheit. Jede der anderen drei besonderen Bestimmtheiten irgendeines Seelenaugenblicks, z. B. jedes einzelne Wahrnehmen, ist zu zergliedern in sein Allgemeines,  Wahrnehmen schlechthin und in seine Besonderheit, die das, was wir gerade in diesem Augenblick wahrnehmen, ausmacht."

    "Das einheitsstiftende Subjekt der Seele ist als einfaches Allgemeines notwendig ein und dasselbe für alle Seelen und jeder einzelnen Seele notwendig zugehörig als die einer ihrer wesentlichen Bestimmtheiten. Was nun die einzelnen Seelen verschiedene Einzelwesen sein läßt, kann also in keiner Weise im Subjekt der Seelen seinen Grund haben, sondern das beruth einzig und allein auf der verschiedenen Besonderheit, in der die anderen drei Bestimmtheiten, die gegenständliche, die zuständliche und die denkende Bewußtseinsbestimmtheit, auftreten können." (8)
Diese Ausführungen scheinen mir nicht haltbar zu sein. Wodurch sollten sich in diesem Fall etwa zwei Seelen unterscheiden, die überhaupt nur zuständliche Bestimmtheiten von genau derselben Art hätten? Sie müßten identisch sein, was durchaus nicht einleuchtet. Überhaupt müßten nach dieser Auffassung Seelen stets identisch sein, sobald sie in jener dreifachen Weise gleichartig bestimmt wären, was doch ganz offenbar nicht der Fall wäre. Sie bleiben nichtsdestoweniger zwei Individuen. Ferner schließt jenes Bewußtseinhaben bereits den Begriff des Ich in sich. Es gibt kein Bewußtsein, das nicht von einem Ich ausgeht.

Von größter Wichtigkeit ist das Axiom, daß es immer dasselbe Ich ist, dessen Zustände unsere Gefühle sind, und von dem die Funktionen ausgehen. Sonst wären es eben überhaupt nicht  unsere  Funktionen und Gefühle (9), die erlebt zu haben wir uns erinnern. Wir blieben nicht dauernd wir selbst im Wechsel der Zeit.

Selbstverständlich ist ein zwingender Beweis für die Identität unseres Ich in dem Sinne, daß keine "Vertauschung" unseres Selbst in der Art wie KANT sie fingiert, stattgefunden hat, unmöglich. KANT hat vollkommen recht, wenn er bemerkt:
    "Eine elastische Kugel, die auf eine gleiche in gerader Richtung stößt, teilt dieser ihre ganze Bewegung, mithin ihren ganzen Zustand (wenn man bloß auf die Stellen im Raum sieht) mit. Nehmt nun, nach der Analogie mit dergleichen Körpern, Substanzen an, deren die eine der anderen Vorstellungen samt deren Bewußtsein einflößte, so wird sich eine ganze Reihe derselben denken lassen, deren die erste ihren Zustand samt dessen Bewußtsein der zweiten, diese ihren eigenen Zustand samt dem der vorigen Substanz der dritten, und diese ebenso die Zustände aller vorigen samt ihrem eigenen und deren Bewußtsein mitteilte. Die letzte Substanz würde also aller Zustände der vor ihr veränderten Substanzen sich als ihrer eigenen bewußt sein, weil jene zusamt deren Bewußtsein in sie übertragen werden, und dem unerachtet würde sie doch nicht eben dieselbe Person in allen diesen Zuständen gewesen sein." (10)
Eine solche Hypothese ist aus den Bewußtseinsinhalten selbst in der Tat niemals zu widerlegen (11), obschon sie niemand für wahrscheinlich halten und ernsthaft vertreten dürfte. Aber selbst wenn das geschähe, würde dieser Punkt für unsere theoretischen Grundansichten nur sekundär sein. Ob das Ich, das glaubt, dann und wenn dieses oder jenes erlebt zu haben, es damals wirklich erlebt hat, oder ob es sich nur um eine Pseudoerinnerung handelt, das ist für uns im Prinzip sehr belanglos. Wichtig ist für uns nur, daß, um wirklich etwas selbst erlebt zu haben, das damals vorhandene Ich identisch sein muß mit dem jetzigen. Eine These, die durch KANTs Ausführungen nicht erschüttert, sondern vielmehr durch sein Beispiel nur bekräftigt und als unaufgebbar erhärtet wird. (12) Es sei, um Mißverständnisse zu vermeiden, auch noch ausdrücklich bemerkt, daß wir mit dem Ich nicht irgendeine Substanz  hinter  den Funktionen und Gefühlen meinen - einen solchen Standpunkt hat besonders EDUARD von HARTMANN vertreten, er hält ein absolutes Weltsubjekt für den Träger der Prozesse (13) - sondern wir meinen das Ich, das  in  den Funktionen und Gefühlen unmittelbar zutage tritt. Jedes Denken, jedes Fühlen und Wollen ist eben das Denken, Fühlen und Wollen eines bestimmten Ich, das mit und in diesen Vorgängen gegeben ist. Es würde also keineswegs unserem Standpunkt entsprechen, wenn man ihn etwa mit dem folgenden von STUMPF so formulierten (und abgelehnten) identifizieren wollte:
    "Bewußtsein der psychischen Funktionen ist nicht ohne weiteres Bewußtsein einer Substanz hinter den Funktionen. Die Funktionspsychologie ist verträglich mit der Anschauung, daß die Seele zu fassen sei als ein Ganzes von Funktionen und Dispositionen, wobei dann natürlich auch der Körper ebenso nur als ein Ganzes physischer Vorgänge, Eigenschaften, Kräften, Dispositionen gilt, die Ansichten über das Verhältnis dieser beiden Komplexe zueinander aber zunächst völlig frei bleiben. Glaubt man gleichwohl Gründe zu haben zu jenem Ganzen psychischer Funktionen und Dispositionen, das wir Seele nennen, noch eine uns nicht gegebene Konstante hinzuzudenken, oder sie als einen zwar mitgegebenen, aber nicht für sich bemerkbaren Teil jenes Ganzen zu betrachten, so ist sie doch eben immer nur erschlossen, nicht unmittelbar gegeben." (14)
Eine solche Substanz hinter dem psychischen Leben nehmen auch wir nicht an. Aber insofern besteht ein prinzipieller Unterschied zu STUMPF, als daran festgehalten werden muß, daß das psychische Leben bereits selbst eine höchst zusammengesetzte Zuständlichkeit und Funktionsweise  eines Ich  ist, und daß dieses Ich auch im Bewußtsein in den psychischen Prozessen unmittelbar gegenwärtig ist. Es wird nicht erschlossen, hinzugedacht, sondern es ist unmittelbar in der Erfahrung gegeben, als in allen psychischen Vorgängen enthalten. - Diese Auffassung liegt dann auch praktisch - nicht notwendig stets auch theoretisch - jeder psychologischen Untersuchung zugrunde. Es ist nicht abzusehen, wie sonst überhaupt psychologische Analysen stattfinden sollen. Nur solange keine faktische Analyse vollzogen wird, sondern allgemeine theoretisch-konstruktive Aspekte geboten werden, kann davon abgewichen werden, wenn auch dann natürlich nur unter inneren Widersprüchen.

Eine ganz eigentümlichen Weg hat THEODOR LIPPS eingeschlagen: er nimmt neben oder gleichsam unterhalb des empirischen Ich, in Bezug auf dessen Bestimmung eine wesentliche Differenz gegenüber dem hier vertretenen Standpunkt wohl nicht besteht, noch ein reales Ich an. In seiner römischen Kongreßrede, "Die Wege der Psychologie", heißt es (15):
    "... Es gibt nur eine einzige Antwort auf die Frage, was die Verschiedenheit der individuellen Iche für uns ausmacht. Diese Antwort liegt schon im Wort  individuelles Bewußtsein. Wir meinen damit das Bewußtsein eines bestimmten einzelnen Individuums.  Dieses individuelle Bewußtsein ist das Bewußtsein jenes Individuums, d. h.  dieses Bewußtsein ist das Bewußtsein, das diesem Individuum,  jenes Bewußtsein ist dasjenige, das jenem Individuum zugehört oder von ihm gehabt wird."

    "Und was ist hier mit dem Individuum gemeint? Nun eben dasjenige, dem ein Bewußtsein  zugehört oder das ein Bewußtsein  hat. Dies aber ist notwendig etwas von  dem Bewußtsein Verschiedenes. Das Individuum, dem ein Bewußtsein zugehört, oder dessen Bewußtsein es ist, ist nicht wiederum ein Bewußtsein, weder ein einzelnes Bewußtseinserlebenis noch ein Zusammenhang von solchen, sondern was wir mit diesem Individuum meinen, ist etwas Reales; es ist eine Stelle im Zusammenhang der dinglich-realen Welt. Das Bewußtsein dieses und nicht jenes Individuums, das ist das Bewußtsein, das gebunden ist an diese und nicht an jene Stelle der dinglich-realen Welt. Indem ich von verschiedenen Bewußtseinseinheiten oder Ichen spreche, binde ich unweigerlich, mag ich mir darüber Rechenschaft geben oder nicht, jedes der verschiedenen Iche an so ein dinglich Reales, ihm selbst Transzendentes. Ich lege dem individuellen Ich ein solches zugrunde oder gebe es ihm als reelles Substrat. Dieses Reale, das  Individuum, ist für unsere Erkenntnis das einzige  principium individuationis für die individuellen Iche."

    "Sofern dieses reale Substrat dem individuellen Bewußtsein zugrunde gelegt wird, und das Bewußtseinsleben dasjenige ist, was wir zunächst als  seelisches Leben bezeichnen, dürfen wir dieses  Substrat die Seele nennen. Sofern dasselbe dem individuellen  Ich zugrunde gelegt wird, kann es ebensowohl  das reale Ich heißen. Was es ist, das bleibt vorerst unbestimmt. Es ist zunächst nichts als das unbekannte Etwas, das Bewußtsein hat."
Es ist völlig zutreffend, wenn LIPPS betont, den psychischen Prozessen liege ein identisch bleibendes Moment zugrunde. Das ist es ja gerade auch, was uns den Versuchen, das Seelenleben in eine Summe freischwebender Prozesse aufzulösen, widersprechen läßt. Es gibt keine Funktionen, die nicht von einem realen Etwas ausgehen. Dieses Reale aber ist das Ich, das wir alle kennen. Ich verstehe es deshalb nicht völlig, weshalb LIPPS hier noch anstelle und hinter dem erlebten Ich ein transzendentes reales Ich einschieben will. Es will mir scheinen, als ob das ganz unnötig ist und als ob diese Annahme nur eine Verdoppelung, ein Spiegelbild des erlebten Subjektes bedeuten würde. Tatsächlich gibt LIPPS ja auch diesem Realen den gleichen Namen: (reales)  Ich, und er schreibt ihm alle die Funktionen zu, die wir (und im Grunde sonst auch er) dem empirischen Ich beilegen.

Der Übergang vom phänomenalen zum transzendenten realen Ich wird bei LIPPS meines Erachtens nirgends völlig deutlich. Ich vermag keine Notwendigkeit dazu einzusehen. Die Antwort auf die von ihm berührte Bewußtseinsfrage scheint mir nicht anders lauten zu können als:  Ich  habe Bewußtsein, ich, das Subjekt, als das ich mich beim Bewußtseinhaben oft wie mit einem Seitenblick selbst erhasche. Es ist wohl LIPPS radikal ablehnende Stellung zur Selbstwahrnehmung, die ihn an dieser Stelle stutzig werden läßt und ihn zur Theorie des realen Ich vorwärts getrieben hat.

Erkennt man dagegen an, daß das Ich innerhalb gewisser Grenzen die Aufmerksamkeit auch auf seine eigenen Zustände und Funktionen zu richten vermag, daß es sich selbst zum Gegenstand der Apperzeption werden kann, so ist das Ich, das Bewußtsein hat, eben jenes, das wir in der unmittelbaren Selbstwahrnehmung, soweit sie möglich ist, bemerken. Aber auch wenn die Möglichkeit jeder echten Selbstwahrnehmung völlig bestritten wird, bleibt das Ich, das Bewußtsein hat, jenes, das ich in den rückerinnerten psychischen Zuständen bemerke.

Ein gewisses Analogon zu LIPPS' Lehre vom realen Ich bildet die JOHN STUART MILLs. Sie stellt zugleich ein überaus merkwürdiges und typisches Beispiel dar, wie durch unbrauchbare Analogien zuweilen ein richtiger Gedankengang auf ein falsches Geleis gerät. MILL ist ansich völlig auf dem richtigen Weg. Er sieht im Grunde ein, daß das Ich in den Funktionen enthalten ist, er erkennt ferner, daß es sich in den beobachteten psychischen Prozessen aber wohl nicht völlig erschöpft. Dieser Umstand nun veranlaßt ihn in Gemeinschaft mit dem Übergewicht der naturwissenschaftlichen Tendenzen seiner Zeit das Ich in einer Parallele mit den physikalischen Körpern zu setzen, die wir überhaupt nur hypostasieren [vergegenständlichen - wp] und von denen wir in keinem Punkt eine unmittelbare Wahrnehmungserkenntnis besitzen. Im Verlauf dieser analogischen Betrachtungsweise rückt nun das Ich den Körpern immer näher, und die Einsicht, daß wir das Ich ja unmittelbar erleben, geht ihm dabei völlig verloren. Und so ensteht folgender seltsamer Gedankengang:
    "Wie unsere Vorstellung des Körpers die einer unerkannten erregenden Ursache von unseren Sinnesempfindungen ist, so ist unsere Vorstellung des Geistes die eines unerkannten Empfängers oder Wahrnehmers derselben und nicht dieser allein, sondern aller unserer Gefühle. Wie man in einem Körper das geheimnisvolle Etwas erblickt, das den Geist zum Fühlen anregt, so ist der Geist das geheimnisvolle Etwas, das fühlt und denkt. ... Es ist notwendig zu bemerken, daß wir über die innerste Natur des denkenden Prinzips (mag unter innerster Natur was auch immer verstanden werden), ebenso wie über die innerste Natur der Materie völlig im Dunkeln sind und mit unseren Fähigkeiten immer bleiben müssen. Alles, wovon wir selbst in Bezug auf unseren eigenen Geist etwas wissen, ist ... eine Reihe von Gefühlen, d. h. von Sinnesempfindungen, Gedanken, Gemütsempfindungen und Willensakten, die mehr oder weniger zahlreich und zusammengesetzt sind. Es gibt etwas, was ich mein Ich oder in einer anderen Ausdrucksweise meinen Geist nenne und das ich als etwas von jenen Sinnesempfindungen, Gedanken usw. Unterschiedenes betrachte; ein Etwas, das ich mir nicht als die Gedanken, sondern als das Wesen vorstelle, das die Gedanken hat und das ich mir als für immer in einem Zustand der Ruhe ohne irgendwelche Gedanken denken kann. Aber was dieses Wesen ist, davon habe ist, obgleich ich selbst es in, keine Kenntnis, ausgenommen die Kenntnis von der Reihe seiner Bewußtseinszustände. Wie sich mir Körper nur durch die Sinnesempfindungen kundgeben, als deren Ursache ich sie ansehe, so gibt sich das denkende Prinzip oder der Geist in meiner Natur nur durch die Gefühle kund, deren er sich bewußt ist." (16)
Wir haben jetzt noch einige andere Auffassungen vom Ich Revue passieren zu lassen und zu ihnen Stellung zu nehmen.

Einer der häufigsten Fehler, der gemacht worden ist, besteht darin, daß das Ich mit der Summe seiner Zuständlichkeitsweisen und Funktionen verwechselt und diese selbst als einfaches Aggregat angesehen wird.

So vergleicht TAINE das Ich mit einer Wandtafel. Wie diese ein höheres Ganzes aus verschiedenen Teilen ist und sich nicht von diesen ablösen läßt, so ist es auch mit dem Ich.
    Die Psyche bilde "in Wahrheit ein fortlaufendes Gewebe, in dem unser Blick willkürliche Abschnitte abgrenzt. Wir machen es, wie jemand, der eine große Tafel, um sie besser zu übersehen, durch Kreidestriche in Dreiecke, Quadrate und Rhomben teilt. Die Tafel bleibt eins und ungeteilt; man kann nicht sagen, sie sei die Reihenfolge dieser aneinander grenzenden Stücke, weil sie ja nur für das Auge geteilt ist; und gleichwohl ist sie der Reihenfolge dieser Stücke gleich; nähme man dieselben fort, so ist sie nicht mehr da; sie setzen sie zusammen. In gleicher Weise bleibt das Ich ungeteilt und eins; man kann nicht sagen, es sei die Reihe seiner aneinander grenzenden Ereignisse, denn es ist nur für unsere Wahrnehmung in Ereignisse geteilt, und gleichwohl ist es der Reihenfolge dieser Ereignisse äquivalent. Nähme man sie weg, so wäre es nicht mehr da, sie setzen es zusammen; wenn wir es von ihnen trennen, so machen wir es wie jemand, der die Teile der Tafel durchgehen und sagen wollte: »Diese Tafel ist hier ein Quadrat, soeben war sie ein Rhombus, weiter links ist sie ein Dreieck; ich mag vor- und rückwärts gehen, mir das Vergangene neu vergegenwärtigen, das Zukünftige ins Auge fassen, immer finde ich die Tafel unveränderlich, sich selber gleich und einheitlich, während ihre Einteilung wechselt, sie ist ein bestimmtes, dauerndes Wesen, d. h. eine unabhängige Substanz, von der die Rhomben, Dreiecke, Quadrate nur sukzessive Zustände sind.« Mittels einer optischen Jllusion schafft dieser  jemand ein wesenloses Etwas,  die Tafel ansich. Durch eine ähnliche optische Jllusio schaffen wir uns ein wesenloses Etwas,  das Ich ansich." (17)
Mir scheint diese Argumentation eine recht schwache zu sein. Die Tafel hört streng genommen auf, die Tafel zu sein, sobald ich einen Teil von ihr vernichte. Das Ich dagegen hört niemals auf, das bestimmte Ich zu sein, wenn sein Zustand und die Art, wie es Akte ausübt, sich noch so sehr ändert. TAINE beachtet nicht, daß das Ich im vollsten Umfang bereits in jeder einzelnen Funktion enthalten ist, die Tafel dagegen zu ihrem Bestehen alle ihre einzelnen Teile voraussetzt. -

Es ist hier der geeignete Ort, auch die Stellungnahme HUSSERLs zu erwähnen. Der ausgezeichnete Denker wendet sich mit folgenden Worten gegen das Ich als Beziehungszentrum:
    "... In der Tat erscheint in der natürlichen Reflexion nicht der einzelne Akt, sondern das Ich als der eine Beziehungspunkt der fraglichen Beziehung, deren zweiter im Gegenstand liegt. Achtet man dann auf das Akterlebnis, so scheint sich das Ich notwendig durch dasselbe oder in demselben auf den Gegenstand zu beziehen, und in letzterer Auffassung möchte man sogar geneigt sein, jedem Akt das Ich als wesentlichen und überall identischen Einheitspunkt einzulegen ..."

    "Aber leben wir sozusagen im betreffenden Akt, gehen wir z. B. in einem wahrnehmenden Betrachten eines erscheinenden Vorgangs auf, oder im Spiel der Phantasie, in der Lektüre eines Märchens, im Vollzug eines mathematischen Beweises und dgl., so ist von einem Ich als Bezugspunkt der vollzogenen Akte nichts zu merken. Die Ich-Vorstellung mag  in Bereitschaft sein, sich mit besonderer Leichtigkeit hervordrängen, oder sich vielmehr neu vollziehen; aber nur wenn sie sich wirklich vollzieht und sich in eins mit dem betreffenden Akt setzt, beziehen  wir uns so auf den Gegenstand, daß diesem Sich-Beziehen des Ich etwas deskriptiv Aufzeigbares entspricht. Was da deskriptiv im wirklichen Erleben vorliegt, ist ein entsprechend zusammengesetzter Akt, der die Ich-Vorstellung als einen, und das jeweilige Vorstellen, Urteilen, Wünschen usw. der betreffenden Sache als zweiten Teil in sich enthält." (18)
Diese Argumentation HUSSERLs (19) scheint mir nicht halbar zu sein. Es ist selbstverständlich, daß, wenn wir mit unserer Aufmerksamkeit im Akt vollkommen aufgehen, wir vom Ich als Zentralpunkt des Aktes nichts ausdrücklich wissend wahrnehmen. Das bedeutet aber nicht, daß er nicht vorhanden wäre. Wenn ich einem Klavierspieler aus der Nähe aufmerksam zuhöre, so brauche ich auch nichts vom Geräusch beim Umschlagen der Noten oder bei der Benutzung des Pedals zu bemerken, kein ausdrückliches Wahrnehmungsurteil darüber fällen und trotzdem sind diese Geräusche da und werden nach allgemeiner Auffassung auch perzipiert. Ebenso werde ich mir der Intervalle zwischen den einzelnen Tönen und ihrer Intensitätsverhältnisse nicht ausdrücklich bewußt, obwohl auch sie da sind. Es ist etwas durchaus Selbstverständliches, daß ich meist nicht alle Seiten eines Vorgangs gleichzeitig gleichmäßig urteilsweise zu bemerken imstande bin. Wenn das schon für das rein Objektive gilt, wieviel mehr wird es für die Akte selbst der Fall sein. Bezeichnet doch HUSSERL selbst die Richtung der Aufmerksamkeit auf die Akte als eine widernatürliche Anschauungs- und Denkrichtung (20). Kann es da befremden, daß, wenn ich im Akt innerlich aufgehe, d. h. völlig dem inhaltlichen Moment zugewandt bin, daß ich die subjektive Seite nicht in allen ihren Momenten beachte und beurteile ? (21) Zu dieser subjektiven Seite gehört aber auch das Ich, das den Akt ausübt. Dieses Ich ist es, das wahrnimmt, in die Lektüre versunken ist oder sich um einen mathematischen Beweis bemüht. Ein Wahrnehmen, ein Lesen, ein Nachdenken sind nur denkbar als das Wahrnehmen, Lesen und Denken eines Subjekts. Ein Wahrnehmen usw., das nicht das Wahrnehmen eines Ich wäre, ist so wenig denkbar, wie eine Kugel ohne geometrisches Zentrum. Eines ist mit dem anderen gegeben. (Um das Ich im eigentlichen Sinne zu bemerken, müssen wir uns ihm freilich besonders zuwenden, genauso wie wir uns den Intensitätsverhältnissen der Linien eines Gasspektrums zuwenden müssen, wenn wir über sie etwas wissen wollen.) Wer sollte das Ich sein, von dem HUSSERL sagt, daß es völlig im Akt aufgeht, wenn es nicht ein Subjekt in unserem Sinn gäbe? Irgendeine Funktionskomplexion oder die Vorstellung von ihr könnte es unmöglich sein, denn nach HUSSERL sind diese bei jenem Aufgehen nicht als deskriptives Moment vorhanden.

Das Aufgehen in etwas bedeutet nicht, daß das Ich fehlt, sondern nur, daß es über sein Vorhandensein und seine Beteiligung in einem Vorgang kein Wahrnehmungsurteil mehr fällt.

Das Ich ist eben in Wahrheit etwas gänzlich anderes als die Komplexion der Erlebnisse. Es ist deshalb auch nicht richtig und entspricht nicht dem, was wir unter dem dem Akt zugrundeliegenden Ich meinen, wenn HUSSERL bemerkt:
    "Natürlich ist es,  objektiv betrachtet (also auch vom Standpunkt der natürlichen Reflexion aus) richtig, daß sich das Ich in  jedem Akt auf einen Gegenstand intentional bezieht. Dies ist ja eine pure Selbstverständlichkeit, sofern uns das Ich als nichts weiter gilt, denn als die  Bewußtseinseinheit, als das jeweilige  Bündel der Erlebnisse, oder besser noch als die kontinuierliche, dingliche Einheit, welche sich in den zu dem einen  Ich gehörigen Erlebnissen konstituiert, weil sie durch die spezifische und kausale Besonderheit dieser Erlebnisse gesetzlich gefordert ist. Zu dieser Einheit gehört als ein solcher konstitutiver Teil auch das betreffende intentionale Erlebnis, die betreffende Wahrnehmung, das Urteil usw. Ist ein Erlebnis von der und der Intention darin präsent, so hat eo ipso [schlechthin - wp] das Ich als das umfassende Ganze diese Intention, sowie das psychische (sich! - physische?) Ding die Beschaffenheiten, die es als Teilinhalte konstituieren. Wird der Teil auf das einheitliche Ganze bezogen, so resultiert die Beziehung des Habens: das Ganze  hat den Teil; und so  hat auch das Ich die intentionale Beziehung, es ist das vorstellende, urteilende Ich usw. ... Also der Satz: das Ich stellt einen Gegenstand vor, es bezieht sich in vorstellender Weise auf einen Gegenstand, es hat ihn als emotionales Objekt seiner Vorstellung, - besagt genau dasselbe wie der Satz: Im Ich, dieser konkreten Komplexion von Erlebnissen, ist ein gewisses, nach seiner spezifischen Eigentümlichkeit  Vorstellen des bezüglichen Gegenstandes benanntes Erlebnis reell gegenwärtig. Ebenso besagt der Satz: das Ich urteilt über den Gegenstand, soviel wie: es ist in ihm ein so und so bestimmtes Urteilserlebnis gegenwärtig usw." (22)
Das Ich, das wir meinen, ist mit jenem Bündel von Erlebnissen nicht identisch. Diese Erlebnisse sind vielmehr bereits Zustände, Funktionen des Ich. Das Ich ist keine Summe, sondern gänzlich einheitlich.

Noch eine andere Bemerkung HUSSERLs müssen wir hier erwähnen. HUSSERL meint:
    "Ein Wesen ..., das etwa bloß Inhalte der Art, wie es die Empfindungserlebnisse sind, in sich hätte, während es unfähig wäre, sie gegenständlich zu interpretieren oder sonstwie durch Erlebnisse vorstellig zu machen - also erst recht unfähig, sich in weiteren Akten auf Gegenstände zu beziehen, über sie zu urteilen und vermuten, sich zu freuen oder betrüben, zu hoffen und fürchten, zu begehren, zu verabscheuen - ein solches Wesen würde niemand mehr ein psychisches Wesen nennen wollen. Es wäre ja ein Wesen derselben Art, wie die phänomenalen äußeren Dinge, die uns als bloße Komplexionen von sinnlichen Inhalten erscheinen, und die wir bewußtlose Wesen oder Körper darum nennen, weil sie aller psychischen Erlebnisse im Sinne der Beispiele entbehren." (23)
Auch mit dieser Deduktion kann ich mich nicht einverstanden erklären. Ich vermag nicht zu sehen, welche Übereinstimmung zwischen jenem Wesen, in dessen Bewußtsein nur Empfindungsinhalte vorhanden sind, und eben dieser Komplexion von Empfindungsinhalten (so meint es ja wohl HUSSERL) vorhanden ist. Dieses Wesen, das von den Inhalten Bewußtsein hat, ist keine Komplexion, es ist auch nicht etwa die Komplexion dieser Inhalte selbst. Gerade hier, wo HUSSERL selbst zu der Formulierung übergeht, daß die Beziehung, die zwischen jenem Wesen und den Empfindungsinhalten besteht, einfach die ist, daß sie seinem Bewußtsein gegenwärtig sind, wird es ganz besonders deutlich, daß dieses Wesen etwas Besonderes, ein Unverwechselbares Etwas ist, das den Inhalten in einer ganz besonderen, sonst nirgends in der Welt wiederkehrenden Weise gegenübersteht. Es ist eben jenes Wesen, "in" dessen Bewußtsein jene Empfindungsinhalte vorhanden sind, oder besser, das von ihnen Bewußtsein hat. Auch ein solches Wesen muß durchaus noch ein psychisches genannt werden, weil es eben Bewußtsein hat: Bewußtsein von den Empfindungsinhalten, im Bewußtseinhaben aber bereits das Ich eingeschlossen liegt. Die einfache Tatsache, daß es überhaupt ein Bewußtsein von  irgendetwas  hat, ist ausreichend, um es als psychisch zu charakterisieren. Jenes Wesen, von dem HUSSERL spricht, stände den physikalischen Dingen oder den einfachen Empfindungsinhalten in keiner Weise gleich: diese haben kein Bewußtsein, sie sind kein Ich. Das ist der Unterschied gegenüber allen psychischen Wesen: diese sind Iche, die äußeren Dinge sind es dagegen nicht. Jenes von HUSSERL postulierte Wesen wäre selbst dann ein psychisches, wenn es von sich selbst keinerlei perzeptives Bewußtsein hätte. - Beiläufig notieren wir, wie HUSSERL, der das Ich in unserem Sinne nicht anerkennen will, durch die Macht der Tatsachen doch an dieser Stelle gezwungen wird, selbst von einem "Wesen" zu sprechen, das diese und jene Funktionen besitzt, andere dagegen nicht. -

Gegen die Komplexionsauffassung des Ich in ihrer gewöhnlichen Form müssen wir auch geltend machen, daß eine solche Komplexion von Akten, bei der keine Rücksicht darauf genommen wird, daß jeder Perzeptionsakt der Akt eines Ich ist, und daß alle Perzeptionen des gemeinten Komplexes von ein und demselben Ich ausgehen,, auch dann vorliegen würde, wenn die einzelnen Perzeptionen verschiedenen psychischen Subjekten  A, B, C ... angehörten. Dann hätten wir es allerdings, in gewissem Sinne zumindest, mit einer ähnlichen Komplexion, wie bei den Empfindungskomplexionen, die HUSSERL zum Vergleich heranzieht, zu tun. Eine solche Komplexion von Akten aber wird niemand ein Ich nennen, und HUSSERL spricht selbst ausdrücklich von dem Fall, wo die Empfindungsinhalte alle in ein und demselben Bewußtsein vorhanden sind. Dazu gehört aber eben, daß sie von ein und demselben Ich ausgehen.

An dieser Stelle liegt deshalb der Ausgangspunkt einer weiteren Ich-Auffassung. Diese versucht das Ich statt auf eine Komplexion, auf einen  Zusammenhang von Akten  zu reduzieren. Mit anderen Worten: sie versucht den Einheitspunkt, den für uns das Ich darstellt, durch die Annahme einer speziellen eigentümlichen Verkettung der Funktionen zu ersetzen. In ihr soll das Rätsel der Einheit des Bewußtseins seine Auflösung finden. Es ist selbstverständlich, daß ein Denker vom Rang HUSSERLs seine Komplexionstheorie des Ich in diesem Sinne vertieft hat, indem er es als die  Verknüpfungseinheit  der psychischen Erlebnisse bezeichnet. (24) Den gleichen Standpunkt vertritt auch MAX DESSOIR (25).

Dieser Theorie gegenüber, die heute eine nicht unbeträchtliche Verbreitung hat und in der französisch-englischen Psychologie sogar eine fast unumschränkte Herrschaft übt (26), ist die Frage aufzuwerfen: Welcher Zusammenhang, welche Verknüpfung besteht eigentlich zwischen den Inhalten (27) bzw. den Funktionen?

Was  erstens  die  Inhalte  betrifft, so vermag ich bei ihnen keinen anderen sich durchgängig findenden "Zusammenhang" zu erblicken, als daß sie nämlich in  meinem  Bewußtsein sind, daß allemal  ich  es bin, der sie perzipiert. - Wenn Inhalte miteinander verschmelzen, seien es nun Töne oder Farben oder andere Empfindungen, dann besteht allerdings noch ein anderer "Zusammenhang" zwischen ihnen als der, daß sie gleichzeitig in meinem Bewußtsein sind. Nun hat man freilich gesagt, alle Bewußtseinsinhalte gehen miteinander eine Verschmelzung ein (28). Das scheint mir jedoch nicht der Fall zu sein. Zwischen dem Gesichtsinhalt des Papiers vor mir und dem Geruch der Tinte ist eine Verschmelzung nicht konstatierbar. Und ebenso besteht zwischen dem Inhalt der Vorstellung der Farbe des Genfer Sees, die ich in meinem Gedächtnis reproduziere, und dem Geräusch der in der Straße vorüberfahrenden elektrischen Wagen nicht die mindeste Verschmelzung. Wird dergleichen behauptet, so pflegt das fast stets nur mit Rücksicht auf Theorien zu geschehen, für die man derartige Tatsachen, die nun aber einmal nicht vorliegen, nötig hat und deshalb der Wirklichkeit zum Trotz unter Selbsttäuschungen postuliert. Der Zusammenhang, der zwischen Inhalten der genannten Art besteht, reduziert sich vielmehr allein darauf, daß sie gleichzeitig in meinem Bewußtsein sind.

Und selbst wenn es bei den Empfindungsinhalten eine allgemeine Verschmelzung der abgelehnten Art gäbe und sie gar auch noch zwischen den Empfindungs- und Vorstellungsinhalten, sowie auch zwischen den letzteren selbst stattfände, so kann sie unmöglich vorhanden sein zwischen den sensualen und den intellektuellen Inhalten, oder auch zwischen den Inhalten und den Funktionen. Jeder Versuch, die Einheit des Bewußtseins und des Ich auf einen Verschmelzungszusammenhang der psychischen Phänomene zurückzuführen, ist also unmöglich, sobald die Inhalte mit gemeint werden.

Damit kommen wir  zweitens  zur Auffassung des Ich als Zusammenhang der  Funktionen (29). Auch in diesem Fall gibt es einen sich  durchgängig  findenden "Zusammenhang" nur insofern, als alle Funktionen  meine  Funktionen sind.  Ich  bin es, der wahrnimmt, vorstellt, hofft, fürchtet usw. Das Ich ist in allen diesen Funktionen identisch dasselbe: ich selbst. Ein anderer  allgemeiner durchgängiger  Zusammenhang besteht auch hier nicht. So wenig zwischen dem Begriff der Zahl, die ich soeben denke, und dem Gesichtsinhalt des Grün, den die Pflanze vor meinen Augen mir darbietet, ein Zusammenhang besteht, so wenig gibt es auch einen solchen zwischen einem Urteilen und über den geraden oder ungeraden Charakter jener Zahl und dem Gefühlston, der die Grünwahrnehmung begleitet. Beide Prozesse finden simultan statt, aber ein Zusammenhang besteht zwischen ihnen nur insofern, als beide Funktionen vom selben Ich ausgehen. Ebenso gibt es zwischen dem Urteil über die Ähnlichkeit zweier Toninhalte und den simultan vorhandenen Gefühlsnachwirkungen eines voraufgegangenen Affektes keinerlei Zusammenhang (30).

Selbst der große DAVID HUME, der der Vater all dieser Theorien ist, hat, wie gelegentlich schon weiter oben gestreift, diesen Mangel seiner Theorie zugeben müssen: er ist, als er das denkwürdige Nachwort des ersten Bandes des  Treatise  schrieb, bei nochmaliger Rekapitulation seiner Lehre sich dessen klar bewußt geworden, daß hier die große Lücke seines Gedankengangs gelegen ist, die auch von denen, die HUMEs Theorien erneuert haben, niemals ausgefüllt worden ist und es auch niemals werden kann.
    "... Nach ich aber", lauten jene Worte des großen Schotten, "in solcher Weise das angebliche Band zwischen den einzelnen Perzeptionen beseitigt hatte, ging ich dazu über, das verknüpfende Prinzip zu bezeichnen, das sie wirklich aneinander bindet und uns veranlaßt, ihnen eine reale Einfachheit und Identität zuzuschreiben. Und hier bin ich mir bewußt, nur eine mangelhafte Erklärung gegeben zu haben. Lediglich die anscheinende Evidenz der vorausgehenden Erörterungen konnte mich veranlassen, sie mir gefallen zu lassen. Sind Perzeptionen gesonderte Existenzen, so können sie ein Ganzes bilden nur aufgrund einer wechselseitigen Verknüpfung. Keine Verknüpfung zwischen gesonderten Existenzen kann aber vom Verstand (an ihnen selbst) entdeckt werden. Wir fühlen nur eine Verknüpfung, d. h. eine Nötigung des Vorstellens, von einem Objekt zu einem anderen überzugehen. Es ergibt sich also, daß wir lediglich in unserem  Vorstellen  die persönliche Einheit auffinden, dann nämlich, wenn wir die Folge der vergangenen Perzeptionen betrachten und es dabei unmittelbar erleben, daß die Vorstellungen derselben als aneinandergeknüpft sich darstellen oder in natürlicher Weise eine die andere mit sich ziehen. Wie sonderbar auch immer dieses Ergebnis scheinen mag, es braucht uns doch nicht zu überraschen. Die meisten Philosophen scheinen zu der Annahme geneigt, die persönliche Identität entstehe erst aus dem Bewußtsein; Bewußtsein aber ist nichts als die innerlich vergegenwärtigte Vorstellung oder Perzeption. Insofern stände es um die hier von mir vorgetragene Philosophie nicht schlecht. Aber alle meine Hoffnungen schwinden, wenn ich darangehe, die Faktoren zu bezeichnen, die unsere sukzessiven Perzeptionen für unsere Vorstellung oder unser Bewußtsein vereinigen. Ich kann keine Theorie ausfindig machen, die in diesem Punkt befriedigt."

    "Um es kurz zu sagen, so gibt es zwei Prinzipien, die ich nicht in Einklang bringen, von denen ich aber auch keines preisgeben kann: nämlich, daß alle unsere gesonderten Perzeptionen auch gesondert (oder für sich) bestehen können, und: daß der Geist nirgends eine reale Verknüpfung zwischen dem, was für sich bestehen kann, wahrzunehmen vermag. Inhärierten unsere Perzeptionen einem einfachen und einzelnen Etwas, oder nähme der Geist eine reale Verknüpfung zwischen ihnen wahr, in jedem dieser beiden Fälle bestände keine Schwierigkeit. - So muß ich hier für mein Privileg als Skeptiker plädieren und zugestehen, daß eine Schwierigkeit besteht, und daß ihre Lösung für meinen Verstand eine zu harte Aufgabe ist. - Damit behaupte ich doch nicht ihre absolute Unlösbarkeit. Andere finden vielleicht, vielleicht finde ich selbst bei reiflicherer Überlegung eine Annahme, die jene Widersprüche versöhnt." (31)
In der Tat, hier liegt der schwächste Punkt (32) der ganzen HUMEschen Theorie und ebenso aller nach ihm aufgetretenen Versuche, das Ich auf den Zusammenhang der seelischen Funktionen zu reduzieren.

Vielleicht sagt man schließlich, es sei eine spezielle "Einheitssynthese", die die verschiedenen psychischen Funktionen zu einer Bewußtseinseinheit zusammenschließt. Darauf entgegnen wir, daß jede dieser psychischen Funktionen bereits ein Ich in sich schließt und voraussetzt. Es ist eine völlige Täuschung, auf jene Weise das Ich erst entstehen zu lassen und erklären zu wollen. Was man tut, ist in Wahrheit nichts weiter, als daß man behauptet, es könnten eine Reihe von Ichen zu einem einzigen verschmelzen. Denn, selbst wenn jene Verschmelzung von Gefühlen, die nicht demselben Ich zugehören, möglich sein sollte, ist dazu erforderlich, daß schon mehrere Iche da sind - jedes Gefühl ist der Zustand eines Ich -, während man ein Ich doch erst entstehen lassen wollte.

JANET hat der Meinung Ausdruck gegeben, daß das einigende Band das Urteil ist (33). Auch das ist irrig. Das Urteil einigt die psychischen Prozesse nicht, sondern es ist einer von ihnen, und es drückt nur aus, was schon vorliegt. Selbst wenn das Ich erst durch eine Synthese von Objektivitäten oder Prozessen zustande käme, vermöchte das Urteil nichts, als diesen Tatbestand auszusprechen. Niemals aber wäre es imstande, ihn hervorzubringen. Der Zusammenhang der seelischen Funktionen besteht vielmehr durchweg darin, daß sie alle Funktionen ein und desselben Ich sind. Dieser "Zusammenhang" setzt aber das Ich voraus und konstituiert es nicht erst. Wohl besteht zwischen Funktion und Lustgefühl oft z. B. noch der spezielle "Zusammenhang", daß die Lust sich auf die Funktion bezieht. Es gibt aber viele Funktionen, zwischen denen keinerlei derartiger spezieller Zusammenhang besteht.

Wenn man nun in einem anderen Sinn vielfach darauf hingewiesen hat, isolierte psychische Funktionen seien nicht denkbar, sondern sie beständen stets nur in einem größeren Zusammenhang (34) und größerer Zahl, so ist das wahrscheinlich insofern richtig, als wir vermuten können, daß überall, wo wir in der Wirklichkeit ein Ich und ein Seelenleben überhaupt aufnehmen dürfen, zugleich auch eine Mehrzahl von Funktionen stattfindet. Nicht aber wäre es richtig, wenn damit gesagt werden sollte, isolierte Funktionen seien nicht denkbar. Es liegt vielmehr ein logisches Hindernis durchaus nicht vor, anzunehmen, daß irgendwo ein Ich im Weltzusammenhang auftritt, das nach dem Auftreten und Erlöschen einer einzelnen Funktion, etwa einer primitiven, inhaltslosen Gefühlsregung oder einer Perzeption sofort wieder ins Nichts zurücktritt. Dem widerspräche nicht, wenn sich etwa für einen Standpunkt, der den psychophysischen Zusammenhang völlig durchschaut, ergäbe, daß die Mitbedingtheit es mit sich bringt, daß isolierte psychische Funktionen faktisch unmöglich sind. Das einzige, was wir behaupten, ist, daß solche Funktionen logisch denkbar bleiben. Im Psychischen als solchem liegt kein Hinderungsgrund; zumindest gilt das nicht für alle Funktionen.

Noch auf einen Punkt ist einzugehen. Die Schwäche der Auffassung des Ich als Funktionszusammenhang bringt es mit sich, daß sie hin und wieder auch noch zum  Gedächtnis  ihre Zuflucht nimmt. (35) Die Identität des Ich soll auf den Erinnerungen beruhen. Dieser Gedanke ist ebenso unhaltbar wie unklar.

Das Gedächtnis ist vollständig unfähig, zwischen zwei aktuellen Prozessen, wie etwa dem Sehen einer Farbe und dem Fällen eines Urteils, irgendeine Verbindung herzustellen, die die Zusammengehörigkeit zu einer Bewußtseinseinheit bedeuten würde. Vielmehr müssen im Gegenteil die beiden Prozesse bereits demselben Ich zugehören, damit überhaupt eine unmittelbare Erinnerung an sie stattfinden kann. Dazu ist zu bedenken, daß die Prozesse, an welche die Erinnerung stattfindet, ja längst vorüber sind, daß die Bewußtseinseinheit, um die es sich handelt, aber zwischen ihnen als aktuellen Prozessen besteht und nicht erst nachträglich, wenn sie überhaupt nicht mehr vorhanden sind, hergestellt werden kann.

Es ist ferner darauf hinzuweisen, daß die Erinnerungen auch noch in anderer Hinsicht das Ich und seine Identität voraussetzen. Wenn ich mich entsinne, dann und dann dieses oder jenes getan zu haben, so ist dabei die unbedingte Voraussetzung, daß ich heute eben derselbe bin, der ich damals war. Nicht derselbe in dem Sinne freilich, daß ich mich nicht inzwischen in meinen Eigenschaften geändert haben könnte, aber derselbe in dem Sinne, daß das Ich, das damals jene Eigenschaften hatte, dasselbe ist, welches heute da ist und vielleicht jetzt ganz andere hat. Bin ich nicht identisch derselbe, so würde sich die Erinnerung nicht auf mich, sondern auf irgendjemand anderen beziehen. Alle Erinnerungen an meine Vergangenheit werden erst dadurch zu solchen, daß sie von mir als dem identisch derselbe Gebliebenen gelten.

Es gibt Hysterische, die in verschiedenartige somnambulieartige Zustände geraten. In einem derselben übersehen sie ihr ganzes Leben derart, daß sie formal wissen, was alles vorgegangen ist, doch schreiben sie einen Teil ihrer Erlebnisse nicht sich selbst, sondern einer anderen Persönlichkeit zu. Es versagt dann die Zuerteilung der betreffenden Gedächtnisinhalte an die eigene Person, nicht aber schwinden die Erinnerungen überhaupt, nur eben treten sie nicht als Erinnerungen an die  eigene  Vergangenheit auf.

Meine  Erinnerung im Sinne einer Erinnerung an  meine  Vergangenheit werden Gedächtnisgedanken eben erst dadurch, daß ich mir bewußt bin, daß ich es bin, der damals diese oder jene Dinge erlebte, und daß ich andererseits auch wirklich damals das identisch selbe Ich gewesen bin, das sich jetzt dieser Tatsachen aus seiner Vergangenheit bewußt wird.

Dieser Ich-Charakter alles Psychischen ist es, der die Gegenstände der Psychologie völlig jenseits der  physikalisch-chemischen Welt  stellt (36). Die Einheit des Bewußtseins ist jedoch nun einmal etwas anderes und mehr als ein bloßer funktioneller Zusammenhang, wie er etwa auch zwischen den Teilen einer Maschine und am vollkommensten im organischen Einzelkörper existiert. Die Einheit des seelischen Einzellebens beruth darauf, daß alle seine Funktionen und Zuständlichkeiten Funktionen und Zuständlichkeiten ein und desselben Ich sind; es ist das eine Art von Einheitlichkeit, wie sie sonst nirgends in der Welt vorkommt. Darum ist auch der Vergleich des Seelenlebens mit dem Organismus oder einer Maschine so unzulänglich. Gewiß sind beide mehr, als ein bloßer Haufen von Steinen es ist, aber auch der Organismus und eine Maschine können in einzelne Teile zerlegt werden, die dann isoliert fortzuexistieren vermögen, wenngleich damit der Organismus und die Maschine als solche aufhören zu bestehen. Dem Seelenleben gegenüber ist nicht einmal eine solche Zerlegung möglich. Ein Affekt, ein Wahrnehmungsakt, eine Urteilsfunktion können nicht vom Subjekt losgelöst existieren. Was ein vom Individuum abgetrennter Affekt sein sollte, ist völlig unverständlich. Und beruft man sich etwa auf die Tatsache des Entstehens einer neuen Bewußtseinssphäre beim Kind der Eltern, so handelt es sich auch hier um ein neues, drittes Individuum, nicht aber um seelische Prozesse, die aus der individuellen Seele herausgelöst wären und nun eine Sonderexistenz führen, ohne einem Subjekt anzugehören. Auch zerspalten sich die beiden Elternsubjekte nicht. Sie bleiben, was sie waren. Aber ein drittes Ich tritt ein in die Welt, dessen Äußerungen, Zuständlichkeiten und Funktionen mit denen der Eltern mehr oder weniger Verwandtschaft zeigen.

Auch die Ergebnisse, die die Untersuchung hin und wieder sich findender zusammengewachsener Zwillinge liefert, zeigt, daß selbst eine so enge Verkettung der Organismen nichts an der totalen Geschiedenheit der Ichsphären zu ändern vermag.

Man findet es heute vielfach so dargestellt, als wenn derartige Individuen einen Teil ihres Seelenlebens gemeinsam hätten, gleichsam psychisch ebenso zusammengewachsen sind, wie es die Beiden Körper sind.

So sagte z. B. früher einmal RIBOT:
    "Wenn zwei menschliche Wesen im Mutterleib teilweise miteinander verwachsen, derart, daß die beiden Köpfe, die wichtigsten Organe der menschlichen Individualität, völlig getrennt bleiben, so tritt der merkwürdige Fall ein, daß jeder der beiden Organismen nicht mehr vollständig im Raum begrenzt und von jedem anderen Organismus verschieden ist; es gibt nunmehr ein ungeteiltes Zwischenstück, welches den beiden Organismen gemeinsam angehört; und wenn, wie wir behaupten, die Einheit und die Kompliziertheit des Ich nur der subjektive Ausdruck der Einheit und Kompliziertheit des Organismus ist, so muß in diesem Fall das eine Ich das andere teilweise durchdringen, es muß ein gemeinsames Stück Seelenleben geben." (37)
Ich weiß nicht, wie weit RIBOT diese Auffassung heute noch aufrecht hält. Sicher war sie unhaltbar. Die Berichte über das Seelenleben solcher Mißgeburten lassen keinen Zweifel daran, daß es sich bei ihnen um zwei durchaus getrennte Ichsphären handelt, nur daß die beiden Iche infolge des physischen Konnexes, wegen der partiellen Verschmelzung der beiden Organismen und der dadurch für beide bis zu einem gewissen Grad gleichartigen physiologischen Verhältnisse sehr ähnliche Zustände und Funktionen zeigen. Die Sachlage ist aber im Prinzip keine andere, als sie in jenen merkwürdigen Fällen ist, wo getrennte, unverwachsene Zwillinge gleichfalls infolge der außerordentlichen Ähnlichkeit des physiologischen Geschehens in ihren Organismen auch eine sehr auffallende Übereinstimmung in ihren psychischen Prozessen zeigten. (38)

Als Beispiel mögen die folgenden, sehr charakteristischen Mitteilungen aus Berichten über die sogenannten siamesischen Zwillige dienen (39), die auf der Vorderseite des Körpers zusammengewachsen waren.
    "Die beiden Brüder laufen und springen mit einer erstaunlichen Aktivität. In der Regel werden ihre Bewegungen mit einem Einklang ausgeführt, der leicht auf den Gedanken bringen könnte, daß nur  ein Wille denselben zugrunde liegt. Dies ist jedoch nicht der Fall, und die Gewohnheit allein hat diese Harmonie der Bewegungen und die Gleichzeitigkeit der Tätigkeit hervorgebracht, welche auf den ersten Anblick überrascht, jedoch nicht verhindert, daß jeder von ihnen einen besonderen Willen hat, und daß nicht zuweilen diese beiden Willen miteinander in Widerspruch geraten könnten." (40)

    "Nach den Berichten von Kapitän  Coffin und seiner Begleiter schein die Knaben von gleichen Leidenschaften, von Unanehmlichkeiten oder frohen Ereignissen auf dieselbe Weise ergriffen zu werden. Auch empfinden sie bis zu einem gewissen Punkt Schmerzen auf gleiche Weise; doch steht dem entgegen, daß nicht ein Wille beide beherrscht; bei beiden besteht das Vermögen freiwilliger Bewegung getrennt, aber sie sind so an gemeinschaftliche Bewegung gewöhnt, daß das geringste Zeichen eines Wunsches auf beide zu wirken scheint, und sie sich bewegen, als wenn beide nur einen Willen hätten. Als sie noch im Kindesalter standen und sie oft, da die Eltern arm waren, auf die Erde gelegt wurden, wo sie sich wie zwei junge Tiere herumwälzten, ohne daß eine Amme oder sonst jemand auf sie acht gab, wurden ihre Bewegungen durch den Willen des einen wie des anderen bestimmt; da aber die Unmöglichkeit, in verschiedenen Richtungen sich zu bewegen, beständig vorhanden war, und der Schmerz sie erinnerte, solche entgegengesetzten Bewegungen zu unterlassen, so kam es notwendig schließlich dahin, daß sie sich stets in einer Richtung bewegten. So essen und trinken sie, bloß aus Gewohnheit, immer zur gleichen Zeit. Dies geht so weit, daß der eine nicht ohne den anderen erweckt werden kann." (41)

    "Kapitän  Coffin hat am Meer beobachtet, wie die Eintracht der beiden Brüder eine Störung erfuhr: sie nahmen gewöhnlich kalte Bäder; eines Tages aber weigerte sich der eine, wegen der Rauheit der Jahreszeit, zu baden. Kapitän  Coffin intervenierte bei diesem Streit, und sie ließen sich leicht von ihm belehren, daß nicht der eine von ihnen ein Vergnügen begehren darf, das dem anderen schädlich sein könnte; versöhnt unterließen sie es zu baden."

    "Man hat sie, jeden für sich, mit zwei verschiedenen Personen sich unterhalten gesehen, wobei der eine sich durch Zeichen verständigte, während der andere einige Brocken Englisch sprach." (42)
Aus diesen Mitteilungen geht klar hervor, daß es sich durchaus um zwei verschiedene Ichsphären in unserem Sinn handelt (43). Oft erleben die beiden Subjekte wohl qualitativ gleichartige Gefühle, Willensimpulse usw., aber rein deskriptiv psychologisch gesehen besteht kein Unterschied gegenüber den Verhältnissen, die obwalten würden, wenn irgendein psychisch von Haus aus ähnliche Personen durch einen Eisenring zusammengekettet würden. Die Zwangslage, in der sie sich befänden, würde sie ebenfalls schnell dazu nötigen, gewisse Kompromisse miteinander zu schließen und ihren Entschlüssen ein gemeinsames oder doch miteinander verträgliche Ziele zu setzen. Nur insofern bestände eine Differenz, als sie nicht zusammengewachsen wären und deshalb auch nirgends durch die Reizung eine Körperstelle einen Reiz zu beiden Gehirnen hingeleitet werden könnte. Daß aber die Schmerzwahrnehmungen, die in solchen Fällen von zusammengewachsenen Zwillingen erlebt werden, numerisch identisch sind, ist auf keine Art zu beweisen, ja infolge der Natur des Ich ganz unmöglich.

Und ferner: wenn es so wäre, müßte dann nicht sogleich auch eine totale Bewußtseinseinheit bestehen? Das Schmerzerlebnis hinge ja mit zwei Gruppen psychischer Vorgänge zusammen und beide eben deshalb mittels seiner auch miteinander. Nach der Zusammenhangstheorie des Ich könnte deshalb entschieden nur eine psychische Person vorhanden sein. Davon ist aber keine Rede (44).

Es bleibt dabei: alles Seelenleben ist das Leben eines Ich, und es gibt keine Brücke von einem Subjekt zum anderen (45).

Wir müssen jetzt noch auf die Frage eingehen, ob das Ich mit dem Nicht-Ich, dem Objektiven, so eng verkettet ist, daß die Verbindung als eine logisch unlösliche zu betrachten ist. Dergleichen ist wiederholt behauptet worden. So hat HEGEL dieser Ansicht Ausdruck gegeben:
    "Man sagt gewöhnlich, das Gefühl sei etwas nur Subjektives, aber subjektiv bin ich doch erst gegen ein Objekt der Anschauung oder Vorstellung, in dem ich anderes mir gegenüberstelle. Es scheint somit das Gefühl, weil in ihm der Unterschied der Subjektivität und Objektivität noch nicht eingetreten ist, nicht ein Subjektives genannt werden zu können." (46)
SCHUPPE geht noch weiter:
    "Es gehört zum Sein selbst, daß es in sich die beiden Bestandteile, den Ichpunkt und die Objektwelt ... in dieser Einheit zeigt, daß jedes von ihnen ohne das andere sofort in nichts verschwindet, eines mit dem anderen gesetzt ist." (47)
LOTZE hat diese Frage gründlich erwogen und kommt zu dem Ergebnis:
    "Selbstheit, das Wesen aller Persönlichkeit, beruth nicht auf einer geschehenen oder geschehenden Entgegensetzung des Ich gegen ein Nicht-Ich, sondern besteht in einem unmittelbaren Fürsichsein, welches umgekehrt den Grund der Möglichkeit jenes Gegensatzes da, wo er auftritt, bildet. Selbstbewußtsein ist die durch die Mittel der Erkenntnis zustande kommende Deutung dieses Fürsichseins, und auch diese ist keineswegs notwendig an die Unterscheidung des Ich von einem substantiellen, ihm gegenüberstehenden Nicht-Ich gebunden." (48)
Dieser Gedankengang LOTZEs ist völlig zutreffen. Jedoch bedarf es einer Korrektur, wenn er weiter meint:
    "Mag es immerhin sein, daß ich zu sich nur der sagen kann, der sich ein Nicht-Ich gegenüberdenkt, von dem er sich unterscheidet, so muß doch, damit er in diesem Unterscheiden selbst sich nicht vergreift und sich selbst nicht mit dem Nicht-Ich verwechselt, dieses sein unterschiedenes Denken von einer unmittelbar erlebten Gewißheit seiner selbst geleitet werden, von einem Fürsichsein, welches früher ist als die unterscheidende Beziehung, durch die es dem Nicht-Ich gegenüber ein Ich wird." (49)
Was daran auszusetzen ist, ist das "früher" - "welches früher ist" -; diese Voraussetzung ist nicht erforderlich. Es läßt sich sehr wohl denken, daß etwa der Übergang von voller Bewußtlosigkeit, in der von einem Fürsichsein nicht gesprochen werden kann, zum Bewußtsein oder, um alle Schwierigkeiten zu vermeiden, von absoluter Nichtexistenz zu bewußter Existenz der ist, daß das Ich seiner selbst nur zugleich (und auch sogleich) in seinen Beziehungsreaktionen zum Objektiven, zum Nicht-Ich gewahr wird, so daß es nicht zunächst für sich da ist und dann erst in Beziehung zu etwas Objektivem tritt, sondern daß es sich selbst nur erlebt in diesen Beziehungen, aber nicht, von ihnen getrent, sondern vorher für sich. - LOTZE beachtet hier nicht genügend, daß die logische Scheidung zwischen Ich und Nicht-Ich, die Tatsache und Notwendigkeit, daß das Ich irgendwo an ganz bestimmter Stelle vorhanden ist, so daß von dem einen Tatsachenmoment gesagt werden kann und gesagt werden muß: es ist ein Icherlebnis, und vom anderen: es ist Objekt, vollkommen genügt, um einer Vertauschung von Ich und Nicht-Ich vorzubeugen. Dazu ist nicht erforderlich, daß das Ich früher als das Nicht-Ich da ist, oder zumindest nicht, daß es erlebt wird, daß es  für sich da ist. Es könnte sehr wohl in einem Sichbeziehen auf ein Objektives zu einem Sein für sich gelangen. Ja gerade für LOTZE, der der Ansicht war, daß alle Gefühle intentionaler Natur sind, war jenes "früher sein" ein fast Unmögliches, vor allem aber ein Unnötiges. Kurz zuvor hatte er dann auch richtig erklärt:
    "So viel sehen wir ..., daß Ich und Nicht-Ich nicht zwei Begriffe sein können, deren jeder seinen ganzen Inhalt nur dem Gegensatz zum anderen verdankt: sie würden beide auf diesem Weg inhaltslos bleiben, und es würde, falls keiner von ihnen, abgesehen von diesem Gegensatz, seinen festen Sinn für sich hätte, nicht bloß jeder Grund zur Entscheidung, sondern selbst jede Bedeutung der Frage verloren gehen, welcher von beiden innerhalb des Gegensatzes die Stelle des Ich, welcher die des Nicht-Ich einzunehmen hat." (50)
Um zu wiederholen: damit jemand sich von einem Nicht-Ich unterscheiden kann, ist nur erforderlich, daß er davon unterschieden ist, nicht aber, daß er vor dem Nicht-Ich sich seiner eigenen Existenz bewußt ist.

Ebenso ist es nicht richtig, wenn LOTZE ferner bemerkt: er würde zugeben, "das Ich sei denkbar nur in Bezug auf ein Nicht-Ich", aber hinzuzufügen, "es sei vorher außerhalb jeder solchen Beziehung erlebbar, und hierin liege eben die Möglichkeit, daß es später in jener Form denkbar wird." (51) Gerade von LOTZEs Standpunkt ist das nicht überzeugend, wenn angenommen wird, daß das Ich erlebbar ist vor dem Nicht-Ich. Es braucht dann eben nur an dieses nicht-ich-freie Icherlebnis als Begriff  gedacht zu werden, um das Ich ohne Nicht-Ich zu denken.  Gedacht kann das Ich ohne allen Zweifel ohne das Nicht-Ich werden, da es ganz etwas anderes als dieses ist. Die Frage ist lediglich, ob es da ohne erlebt und eventuell vorgestellt werden kann, weil wir es eben nur in Gefühlen und Funktionen kennen, diese sich aber nach LOTZE stets auf etwas Objektives beziehen. Wenn LOTZE (52) schreibt, daß von den Eindrücken der Außenwelt auch "die Gelegenheit zu all jenen Gefühlen stammt, in denen noch ohne bewußte gegensätzliche Beziehung gegen ein Nicht-Ich das Ich für sich seiend sich selbst genießen könnte", so ist nicht klar, wie das eigentlich gemeint ist. Selbstverständlich handelt es sich beim Tier und beim Idioten nicht um eine urteilsmäßige, klare Einsicht in den Gegensatz von Ich und Nicht-Ich und in das Sichbeziehen des Gefühls auf einen Gegenstand usw. Aber das bedeutet doch nicht, daß bei ihnen die Gefühle nicht subjektiver und die Empfindungen nicht objektiver Natur sind. Sie haben nur keine Einsicht darin, so wenig wie sie eine darin haben, daß die Empfindungen der verschiedenen Sinnesgebiete verschieden sind. Gleichwohl aber sind sie es natürlich auch bei ihnen. Analoges gilt für die Tatsachen, von denen LOTZE spricht. Das Fehlen begrifflicher Einsicht in sie bedeutet nicht etwa auch ein Nichtvorhandenes des Gegensatzes von Ich und Nicht-Ich.

Deshalb ist ein Sichselbsterleben des Subjekts außerhalb der Beziehungen zu Objekten nach LOTZEs Prinzipien eigentlich nicht denkbar. Es war eine einsichtsvolle Inkonsequenz, wenn er sich darin anders entschied.

In voller Konsequenz erklärt dagegen BRENTANO: "Wo nicht mehr von Objekt, ist auch nicht mehr von Subjekt zu reden." (53) Die Haltbarkeit dieser These ist davon abhängig, ob es irgendeine Zuständlichkeit oder Funktion des Subjekts gibt oder doch denkbar ist, der keine Objektivität zugrunde liegt. Daß sich eine solche Zuständlichkeit denken läßt, wird sich meines Erachtens nicht leugnen lassen. Es ist das möglich, weil das Subjekt durch kein unzerreißbares logisches Band an ein Objekt geknüpft ist.

Die Frage ist aber, ob wir solche Zuständlichkeiten kennen oder ob stets ein objektiver Inhalt mit vorhanden ist. Wahrnehmungen oder Denkfunktionen können hier nicht in Frage kommen. Denn wenn immer ich wahrnehme oder denke, nehme ich  etwas wahr und denke  etwas. Nur Gefühlsprozesse könnten in Betracht kommen. Die Gefühlszustände sind nun, wie ich glaube, in der Tat nicht - zumindest nicht alle - durch irgendein unlösliches Band mit Inhalten verknüpft, so oft das auch behauptet worden ist. Freilich sind es relativ seltene Fälle, wo wir beziehungslose Gefühlszustände tatsächlich feststellen können.

1. Die intensivsten Phänomene solcher Art scheinen gewisse pathologische Angstzustände zu sein, die inhaltslos sind. Auch hier können wir uns wieder auf die Lehrbücher der Nervenkrankheiten berufen. So gibt auch OPPENHEIM von hysterischen Angstzuständen an: "Die Angst ist gewöhnlich nicht von bestimmten Vorstellungen und Befürchtungen begleitet." (54) Ebenso spricht STÖRRING von "intelligenten Neurasthenikern", die an pathologischen Angstzuständen leidend, "in denen sie Angst haben, ohne Angst vor etwas zu haben, konstatieren, daß diese Angstzustände von derselben Qualität sind wie die normalen Angstzustände, welche auf ein vorgestelltes Objekt als ihre Ursache bezogen werden." (55)

Dieser Sachverhalt ist so häufig und wird so sicher von völlig einwandfreien Personen geschildert, daß an ihm meines Erachtens nicht gerüttelt werden kann. Hier sich einfach auf die Erklärung zurückziehen, das zugehörige Urteil sei unbemerkt, würde lediglich bedeuten, einer im Voraus angenommenen Theorie zuliebe Tatsachen wegdeuten. So plausibel das Wort auch klingt: "Ich kann keine Angst haben, ohne ich  vor  etwas Angst habe" - es ist und bleibt eine Behauptung, die den Tatsachen gegenüber nicht mehr zu halten ist. Die Angst ist ein Ichzustand, der auch ohne zugrunde liegendes Urteil auftreten kann.

Ebenso hält auch RIBOT z. B. den mit dem Wort  Euphorie  bezeichneten Zustand für diffus, indéterminé,  sans objet [unbestimmbar, nicht brauchbar - wp] (56) "Es gibt eine allgemeine Tendenz alles in Rosa zu sehen, damit es zur Lebensfreude und einem spontanen und momentanen Optimismus paßt."

2. Dazu stimmt, daß sich bekanntermaßen Affektgefühle suggestiv direkt auslösen lassen durch den einfachen Befehl: "Sie fühlen sich jetzt so und so." Es wäre eine unglaubwürdige Ausflucht, daß hier zunächst in der Versuchsperson spontan Motive aufsteigen, an die die Gefühle sich dann erst anknüpfen.

3. Drittens ist darauf hinzuweisen, daß wir uns Affekte in ihren allerersten Anfängen bis zu einem gewissen Grad willkürlich hervorrufen können, ohne dabei an einen Inhalt anzuknüpfen. Wir können uns die Affekte der Freude, des Leides, der Lust usw. mehr oder weniger lebhaft vorstellen, ohne daß dabei ein Inhalt vorzufinden ist; im Gegenteil scheinen sich solche dann erst assoziativ nachträglich darzubieten. Die Vorstellungen der Affekte sind aber, wie es scheint, selbst bereits leichteste Gefühle. Aber auch wenn es nicht so wäre, so ist es auf jeden Fall doch möglich, gewisse Ansätze zu Gefühlen auch direkt willkürlich zu produzieren. Besonders leicht gelingt das, wenn bestimmte Organempfindungen und dgl. bereits vorhanden sind, die bei gewissen Affekten aufzutreten pflegen. Wenn wir z. B. vor Kälte frösteln, so ist es besonders leicht, zu diesem Frösteln und Zittern etwas Angst hinzuzuproduzieren, die von einem wirklichen Angstgefühl nur durch die Intensität verschieden ist. Aber es besteht keine Spur von Gedanken an etwas, vor dem etwa die Angst bestehen würde.

4. Durch willkürliches Hervorrufen körperlicher Affekt- und Ausdrucksreaktionen werden auch die zugehörigen Affektgefühle ein wenig mit erregt. Es ist das sogar die geeignetste Weise, um sich die Anfänge eines Affekts hervorzurufen. Das Ballen der Faust läßt, wenn sich damit eine entsprechende Intention verknüpft, den Zorn, gemessenes Sichaufrichten den Stolz, willkürliches Erzittern die Angst im Bewußtsein anklingen. Auch hier handelt es sich um gewisse leichteste Gefühlsregungen, die der Beziehung auf einen Gegenstand zu entbehren scheinen. - Natürlich kann die Hypothese aufgestellt werden, daß auch in den Fällen  3.  und  4.  sich zunächst unterbewußt ein Urteil assoziiert hat, das den Gefühlston vor sich her ins Bewußtsein schickt. In der Tat läßt sich meist in solchen Fällen beobachten, daß sehr bald nach dem Auftreten des fraglichen Gefühls auch eine inhaltliche Vorstellung ins Bewußtsein tritt. Es läßt sich aber, wie mir scheint, vorläufig sehr wohl auch die These verteidigen, daß es sich hier um nachträgliche Assoziationen handelt.

Alle diese Tatsachen zeigen, daß inhaltslose Gefühlszustände keineswegs mit der Sicherheit aus der Psychologie ausgeschlossen werden können, wie es bisher geschehen ist. In einer Reihe von Fällen spricht alles dafür, daß in der Tat eine Beziehung auf einen Gegenstand auch nicht in unterbewußter Gestalt vorhanden ist, sondern daß das Ich aus irgendwelchen Ursachen in einen Zustand gerät, der mit bekannten Affektvorgängen qualitativ durchaus gleichartig ist, obschon eine Beziehung auf irgendeinen Gegenstand nicht besteht.

Diese Tatsachen zeigen, daß es keineswegs unsinnig ist, wenn man die Möglichkeit zuläßt, daß im Weltzusammenhang prinzipiell Subjekte auftreten können, die vollständig auf ihren eigenen Zustand beschränkt bleiben. Und ansich hindert auch nichts anzunehmen, daß sie ein Wissen um sich selbst haben können, wobei dann freilich alsbald intellektuelle Objektiva für sie hervortreten würden.

Eine ganz andere Frage ist es schließlich, ob, damit ein Ich in eine Beziehung zu einem Objekt treten kann, das Ich schon vorher existieren muß. Aber auch das ist nicht erforderlich. Es ist hier Simultanität recht wohl denkbar. Ja alle, die meinen, daß ein Subjekt ohne Objekt nicht möglich ist, sind sogar gezwungen, dieselbe anzunehmen. In dem Moment, wo das Ich ins Dasein tritt, muß es sich nach ihnen auch im Gegensatz zu einem Nicht-Ich befinden, - man sieht, daß wir hier an der Eingangspforte des 'FICHTEschen Systems stehen. -

Am Ende erhebt sich für unseren Standpunkt die schwierige Frage, die die subjektlose Psychologie nicht kennt: Was wird aus dem Ich, das doch in allen psychischen Zuständen und Funktionen dasselbe sein soll, wenn ein Bewußtseinsverlust eintritt? Vorher und nachher soll dasselbe identische Ich vorhanden sein - was wird aus ihm in der Zwischenzeit?

Die einfachste Lösung wäre natürlich, einen vollkommenen Bewußtseinsverlust zu leugnen. Dieser Weg ist oft eingeschlagen worden. Aber es ist nicht zu verkennen, daß eine solche Annahme unserer gewöhnlichen Auffassung widerstreitet und lediglich einen Notbehelf darstellt. Wir sind geneigt zu glauben, daß vollkommene Bewußtseinsverluste vorkommen. Es kann freilich nicht geleugnet werden, daß auch das nur eine Annahme ist, die wir nicht imstande sind, wirklich zu beweisen. Es kann ja auf keine Weise erwiesen werden, daß in diesen Fällen auch nicht die Spur eines Seelenvorganges mehr stattfindet. Die Erinnerungslosigkeit hinterher beweist nicht das Geringste. So kann es z. B. vorkommen, daß bei einer ungeschickt geleiteten Narkose während derselben ein teilweises Erwachen stattfindet und doch kann hinterher dafür völlige Amnesie bestehen. (Dieselbe ist übrigens umso erklärlicher, je partieller das Erwachen, je tiefer die Narkose gewesen ist. Die Gleichartigkeit des psychischen Gesamtzustandes (offenbar auch der Dispositionen) bildet erfahrungsgemäß eine Hauptvoraussetzung für gute Reproduktionen (57), wennschon eine wirkliche Erklärung dafür bisher nicht gegeben worden ist. Bereits LOTZE hat übrigens diesen Tatbestand vorausgeahnt.)

Fragen wir uns, welche Konsequenzen es hat, wenn Fälle vollkommener Bewußtlosigkeit angenommen werden müssen. Das ist das wichtigste Problem, das auftaucht: ob dann noch von einer Identität des Ich vor und nach der Bewußtlosigkeit gesprochen werden darf. Auf den ersten Blick scheint es nicht so zu sein. Vielmehr scheint es, als ob, wenn das Ich einmal zu existieren aufgehört hat, das "neue" Ich mit seinen Funktionen und Zuständen, ja auch seinen Erinnerungen nicht mehr das erste sein kann, das ja einmal zu sein aufhörte, sondern ein ganz neues anderes ist, das freilich in den Pseudo-Erinnerungen sowie dem Charakter seines ganzen psychischen Seins mit dem ersten übereinstimmt. Der Einfall KANTs hätte hier in gewisser Weise seine Realisierung gefunden.

Das scheint fast evident zu sein. - Und trotzdem: liegt hier nicht eine bloße Scheinevidenz vor? Dasselbe Ding kann freilich nicht an zwei verschiedenen Stellen zugleich existieren, das wäre ein logischer Widerspruch, denn dann wären eben zwei Dinge da, wie man dann ja so oft die Lokalisation als das  principium individuationis  bezeichnet hat (58). Aber liegt auch ein innerer Widerspruch darin, daß dasselbe Ding jetzt existiert, dann aufhört zu existieren und dann wieder existiert? Trotz allen Widerspruchs, der sich dagegen zunächst in uns zu regen scheint, muß eine solche Annahme in Wahrheit doch als logisch unanfechtbar angesehen werden. Das Problem ist zwar ein uns ungewohntes (59), überalle, wo wir von Identität sprechen, handelt es sich um ein kontinuierliches Dasein. Beim Atomismus ist es ganz klar, aber auch in den übrigen Fällen pflegt es nicht anders zu sein. Ist es deshalb unmöglich, daß das mit sich Identische eine Unterbrechung seiner Existenz erfahren kann? Trotz allem scheint es mir nicht, daß der Gedanke, daß ein Ding verschwindet und später wieder als eben dasselbe ins Dasein treten kann, einen logischen Widerspruch in sich schließt. Der Inbegriff der Identität entspricht dem nicht.

Aber es ist nicht zu leugnen, daß eine solche Annahme von Existenzunterbrechungen etwas Ungewöhnliches in sich hätte. Will man sie nicht machen und auch die Hypostasierung [Vergegenständlichung - wp] voller Bewußtlosigkeit nicht fallen lassen, bleibt dann noch ein anderer Ausweg? Es ist sofort ersichtlich, daß von einem sich seiner perzeptiv bewußten Ich dann nicht mehr die Rede sein kann.

Hätte es nun einen Sinn, ihm eine Art Existenz, in der es sich seiner nicht bewußt ist, zuzusprechen? In der Tat scheint sich eine solche Hypothese bilden zu lassen. Wir kennen das Ich freilich nur, ich weiß von mir lediglich, weil ich mir meiner bewußt bin. Aber dieses sich seiner selbst Bewußtwerden, auch nur im Sinn bloßer Perzeption, wird doch wohl bereits als eine besondere Funktion des Ich anzusehen sein (60). Und es scheint nicht unmöglich zu sein anzunehmen, daß diese Funktion, wie alle übrigen, auch erlöschen kann: die sogenannte Bewußtlosigkeit wäre ein Zustand, in dem von Ich keinerlei Funktionen mehr ausgehen, auch nicht mehr die, daß es sich seiner selbst perzeptiv bewußt wird. - Befindet sich das Ich dann aber überhaupt noch in irgendeinem Zustand, so daß es überhaupt noch vorhanden sein kann? Wir werden mit Ja antworten. Der Begriff des Ich scheint es nicht auszuschließen, daß zeitweilig seine gesamte uns bekannte Funktionstätigkeit sowie sein Gefühlsleben zum Stillstand kommt. Aber, fügen wir hinzu, wir wissen nichts davon, von welcher Art sein Zustand dann sein würde, wenn wir freilich auch zumindest eine Hypothese darüber zu bilden vermögen.

Von größter Wichtigkeit ist, daß wir uns mit unserer Anschauung vom Wesen der psychischen Prozesse in keinerlei Gegensatz zu den wohlbegründeten neueren Auffassungen (61) über den fließenden Charakter alles psychischen Geschehens befinden. Die Aktualitätsauffassung besteht auch für den hier vertretenen Standpunkt durchaus fort, wennschon in etwas präzisierterer Form. Nach WUNDT bedeutet die Aktualität "das Wesen der Seele, die unmittelbare Wirklichkeit der Vorgänge selbst." (62) Die empirische Psychologie habe es "überall nur mit dem wirklichen seelischen Leben, nirgends mit einer hinter diesem verborgenen transzendenten Substanz zu tun." (63)

Selbstverständlich ist das auch durchaus unsere Ansicht, wir konstatieren ledigilich, daß alle diese Vorgänge Funktionen und Zustände ein und desselben Subjekts sind, das ein für allemal bei ihnen allen als Exponent hinzugefügt zu denken ist. Das jedoch gibt WUNDT bisher nicht zu. Er hat sich diesem Standpunkt mehr und mehr genähert, aber er hat ihn doch mit voller Deutlichkeit bisher nicht ausgesprochen, sondern die letzte Konsequenz nicht gezogen.

Es gibt jedoch einen Punkt, der dazu zwingt, in beschränktem Maß über die einfachste Gestalt der Aktualitätsauffassung hinauszugehen. Dieser Punkt sind die  Dispositionen.  Die Dispositionen im tiefsten Sinne des Wortes sind jene Tatsächlichkeiten im Ich, die vorausgesetzt werden müssen, damit es unter gewissen Umständen, z. B. bei bestimmten Reizeinwirkungen auf den Organismus, zuletzt die Großhirnrinde, bestimmte Funktionen und Zuständlichkeiten zeigt. Die Dispositionen bezeichnen die Fähigkeit des Ich zu bestimmten psychischen Erlebnissen. Die potentiellen Momente müssen offenbar dem Ich selbst zugeschrieben werden: ich bin es, von dem diese Funktionen ausgehen, also muß auch ich es sein, der zu diesen Funktionen  fähig  ist, der in diesen oder jenen Zustand geraten kann. Gälte das alles nicht von mir, sondern von irgendjemand oder gar irgendetwas anderem, so würde nicht ich jene Funktionen jemals ausüben, in solche und solche Zustände geraten, sondern nur der oder das andere, das eben die Fähigkeiten, die Dispositionen dazu besitzt.

Es sind aufs Strengste zu scheiden die Dispositionen und ihr "Erregbarkeitsgrad". Die Dispositionen, d. h. die Fähigkeit des Ich überhaupt, diese oder jene Funktionen auszuüben, in diese oder jene Zustände zu geraten, kommen zweifellos dem Ich selbst zu (64). In diesem Sinne hat auch der Melancholische doch wohl die Fähigkeit, die Disposition zu normalen psychischen Funktionen. Sobald sein Organismus gesund würde, würden dieselben wieder zu entsprechenden aktuellen Prozessen führen.

Diese Dispositionen, diese potentiellen Möglichkeiten, sind aber auf jeden Fall, zumindest teilweise, keine psychischen Tatbestände in einem erfahrbaren Sinn, sie sind nicht sämtlich als psychische Phänomene im Bewußtsein vorfindbar, sondern eben eine bloße Möglichkeit dazu. Sie sind unbewußt. (65) Das heißt: dem Ich muß mehr zugeschrieben werden, als in der reinen Selbstbeobachtung vorzufinden ist; es müssen in ihm Potenzen, Möglichkeiten vorausgesetzt werden, die wir als aktuelle psychische Erlebnisse nicht feststellen können. Damit werden Eigenschaften von ihm prädiziert, die im allgemeinen an ihm empirisch nicht feststellbar, beobachtbar sind, sondern allein, aber freilich notwendig, von ihm  vorausgesetzt  werden müssen. Der Wesensumfang des Ich erschöpft sich also nicht in dem, was wir faktisch erleben können, sondern er reicht darüber hinaus. Das ist offenbar eine sehr wichtige Feststellung. (66)

Anders steht es mit der sogenannten "Erregbarkeit" der Dispositionen. Die Dispositionen im Sinne des Beispiels waren rein psychischer Natur. Damit aber aus diesen tiefsten Dispositionen des Ich psychologische Dispositionen im gewöhnlichen Sinne des Wortes werden - Dispositionen, wie sie z. B. vorliegen, wenn wir einen Neurastheniker [Patient mit verschiedenartigen Beschwerden, welche nicht eindeutig auf eine organische Erkrankung zurückzuführen sind - wp] als zu depressiven Stimmungen geneigt bezeichnen -, muß nach unserer heutigen Meinung noch etwas anderes hinzukommen, nämlich ein spezieller Gehirnzustand, der der krankhaften Erschöpftheit. Wird die so beschaffene Großhirnrinde von bestimmten äußeren Eindrücken affiziert, so versetzen höchstwahrscheinlich die in ihr dabei vorgehenden Prozesse auf dem uns unzugänglichen Weg des psychophysischen Konnexes das Ich in einen depressiven Gefühlszustand. Selbstverständlich könnte das nicht geschehen, was das Ich nicht überhaupt fähig wäre, in einen solchen Zustand zu geraten, aber umgekehrt würde das auch nicht geschehen, wenn nicht das mit ihm verkettete Gehirn eine solche physiologische Beschaffenheit zeigen würde, aufgrund deren es bei bestimmten Affektionen durch die Außenwelt in jenen Zustand gelangte, der im Ich einen depressiven Akt auslöst.

Das ist die einfachste Lage der Dinge, wie sie vom oden der Wechselwirkungstheorie aus konstruiert werden kann.

Die Frage ist aber noch, ob die Tatsachen, daß diese oder jene Vorstellungen, wie man sagt, in hoher Bereitschaft stehen,, oder daß der eine sehr bedeutende intellektuelle Anlagen besitzt, und der andere nicht, daß der eine affekterregbar ist, und der andere wiederum nicht, wirklich lediglich auf physiologische Momente reduzierbar sind, so daß die eigentlichen Ich-Dispositionen in allen Fällen die gleichen wären und die Unterschiede zwischen den Individuen zuletzt auf physiologische Momente reduzierbar sind. Oder gibt es umgekehrt Unterschiede auch in der Erregbarkeit der eigentlichen Ich-Dispositionen selbst? Beim gegenwärtigen Zustand der Gehirnphysiologie vermögen wir auf diese Frage keinerlei beweisbare Antwort zu geben. Sowohl das eine wie das andere bleibt denkbar. Ehe wir nicht positiv nachweisen können, daß genau gleiche Gehirnzustände und -vorgänge bei verschiedenen Individuen auch genau gleiche oder gar aber im Gegenteil verschiedene psychische Prozesse zur Folge haben, ist ein Beweis nach der einen oder der anderen Richtung nicht zu geben. Es braucht nicht gesagt zu werden, daß die Erfüllung dieser Forderung noch in einem weiten Feld liegt, wenn sie überhaupt jemals faktisch möglich sein wird. A priori läßt sich nichts Entscheidendes nach der einen oder der anderen Richtung sagen.

Das Problem wird besonders dringlich, wo es sich um die Variabilität von Dispositionen handelt. Was ich meine, wird ein Beispiel, das intellektuelle Prozesse betrifft, vielleicht am deutlichsten illustrieren. FLOURNOY berichtet in seinem so wertvollen Werk "Des Indes à la Planéte Mars. Étude sur un cas de Somnambulisme avec glossolalie" (67), daß die darin behandelte Person Mademoiselle  Smith,  die Tochter eines für Sprachen hochbegabten Mannes, in ihrem wachen Zustand auf diesem Gebiet ohne jede Veranlagung ist. Gerät sie dagegeen in einen ihrer von FLOURNOY beschriebenen somnambulischen Zustände, so erweist sie sich als sprachlich eminent befähigt. Mag es sich dabei nun um im Wachzustand gehemmte ererbte oder, wie FLOURNOY auch für möglich hält, sich wiederbelebende primitive sprachschöpferische Befähigung handeln, auf jeden Fall steht fest, daß im Zustand des Somnambulismus ausgedehnte starke Dispositionen vorhanden sind, die im wachen Zustand völlig fehlen. Erschöpft sich diese Veränderung in den Anlagen, d. h. den Dispositionen des Individuums in physiologischen Differenzen des normalen und des somnambulen Zustandes, oder handelt es sich um Unterschiede in den eigentlichen psychischen Dispositionen selbst?

Wir stehen hier vor dem überaus wichtigen, aber für uns nicht lösbaren Problem, was denn überhaupt vom ganzen psychischen Geschehen auf Rechnung des Ich selbst sozusagen und was auf die Rechnung physiologischer Vorgänge kommt. Zeigt das Subjekt an und für sich bereits bestimmte Differenzen in Bezug auf die Fähigkeit, gewisse Funktionen auszuüben und in bestimmte Zustände zu geraten, oder hat es ganz allgemein gleichartige Dispositionsverhältnisse, so daß die Unterschiede der Individualitäten sich überhaupt völlig auf Unterschiede der physiologischen Systeme, der Organismen, mit denen sie verbunden sind, reduzieren?

Die Anschauung der letzten Jahrzehnte neigt, auch wo sie nicht parallelistisch ist, durchaus zur letzten Annahme. Die Lehre der modernen Psychiatrie, daß alle psychischen Störungen auf physiologische Veränderungen der Großhirnrinde zurückgehen und daß es rein seelische Veränderungen und Erkrankungen überhaupt nicht gibt, ist der sichtbarste Ausdruck davon (68). Selbstverständlich ist auch diese Auffassung noch unendlich weit davon entfernt, bewiesen zu sein, bewiesen in einem streng exakten Sinn des Wortes. Nicht einmal das ist bisher gelungen, zu zeigen, daß bei allen psychischen Erkrankungen Veränderungen der Großhirnrinde vorliegen - die Unterscheidung der funktionellen psychischen Erkrankungen von den organischen beruth ja gerade darauf, daß bei jenen bisher keine organischen Veränderungen nachweisbar sind -, geschweige denn, daß uns der Nachweis möglich wäre, daß diese einmal vorausgesetzten Veränderungen die Ursache, nicht bloß Begleiterscheinungen oder gar Folgewirkungen von Strukturveränderungen im Ich selbst sind. Wenn wir nur nach der Erfahrung urteilen und keinen schnellen, voreiligen Thesen vertrauen, so müssen wir sagen, daß die Möglichkeit durchaus besteht, daß auch psychische Veränderungen im Ich auftreten können, die physiologische Störungen nicht voraussetzen, sondern erst zur Folge haben (69), oder doch zumindest, wenn sie auch zunächst aufgrund solcher entstehen, ihrerseits noch andere nach sich ziehen.

Noch schwieriger ist die Frage, ob auch die Existenz des Ich selbst - also nicht bloß seine Zustände und Funktionen - durch den Organismus bedingt ist, so daß in einer uns freilich absolut rätselhaften Weise bestimmte physiologische Prozesse es erzeugen. Wir wissen es nicht, ja infolge der totalen Verschiedenheit des Ich von allen Dingen, mit denen es die Physik zu tun hat, werden wir es eher zu bezweifeln als zu bejahen geneigt sein.

Unbedingt prädiziert wird durch die phänomenologische Analyse der Ichzustände durchaus nichts über das Verhältnis vom Physischen zum Psychischen. Alle gangbaren Theorien sind logisch denkbar. Wenn allerdings auch nicht verkannt werden darf, daß die idealistisch-neovitalistische Auffassung des psychophysischen Zusammenhangs mit der phänomenologischen Analyse der Ichtatsachen harmonischer zusammenstimmt als der Parallelismus oder die Energietransformationslehre, wie sie von OSTWALD (70) und STUMPF (71) vertreten wird, für die das Psychische nichts als transformierte physikalische Energie ist. Gerade die vitalistische Auffassung hat von den Tagen des ARISTOTELES an bis hin zum neuesten Vertreter dieser Theorie, HANS DRIESCH, jederzeit ein besonderes Verständnis für die phänomenologischen Tatbestände, die uns beim Ichproblem entgegentreten, gezeigt (72). Des Raumes wegen ist es mir allerdings nicht möglich, hier darauf näher einzugehen.

Mit dem Bisherigen glauben wir in den Hauptpunkten das Wesen des Ich in seinem eigentlichsten psychologischen Sinn charakterisiert zu haben. Wir haben uns aber jetzt noch die Frage vorzulegen, woher es kommt, daß meist auch der Organismus mit zum Ich gerechnet wird. Es ist das ja so oft auch von solchen Seiten geschehen, die uns in der prinzipiellen Bestimmung des Ichmomentes in den psychischen Prozessen nahestehen.

Wodurch sich die Stellung des Organismus zum Ich am meisten auszeichnet, ist ersichtlich der Umstand, daß unser Körper in gewissen Grenzen unserem Willen direkt unterworfen ist. Auf keinen anderen Gegenstand können wir in gleicher Weise unmittelbaren Einfluß ausüben. Andere Gegenstände vermögen wir nur zu bewegen, wenn wir uns dabei seiner Vermittlung bedienen.

Man hat deshalb hier vielfach den eigentlichen Grund dafür gesucht, weswegen ich den Körper als  meinen  Körper bezeichne. Auch LIPPS meint das, wenn er bemerkt:
    "... So nenne ich etwa in manchen Wendungen meinen Körper mich. Ich nenne ihn so, weil er in besonderer Weise mein ist oder mir zugehört, d. h. genauer gesagt, weil ich in den Vorgängen in diesem Körper mich unmittelbar tätig fühle und durch den Körper hindurch mich tätig fühle gegenüber der Außenwelt jenseits meines Körpers." (73)
In der Tat fanden wir ja in der Unterworfenheit unter den Willen eine der Ursachen, weshalb oft auch die Vorstellungsinhalte als subjektiver Natur angesehen worden sind, und LIPPS macht darauf aufmerksam, wie aus dem gleichen Grund der Bezirk des Ich oft noch viel weiter ausgedehnt wird bis hin zu dem Wort:  l'état c'est moi. [Der Staat bin ich. - wp] (74)

Immerhin ist die Objektivität der räumlichen Objekte eine derart aufdringliche, daß ich nicht glaube, daß auf diesem Weg die Hartnäckigkeit, mit der die Subjektivität des Körpers festgehalten wird, erklärbar ist. Man kann sich das besonders daran deutlich machen, daß man in Gedanken annimmt, es sei uns auf irgendeine Teil der übrigen Welt in gleicher Weise eine unmittelbare Willenseinwirkung möglich. So sei es etwa für uns möglich, durch einen Willensimpuls einen vor uns liegenden Gegenstand, ohne ihn zu berühren, beiseite zu legen. Würde er uns dadurch zu einem Teil unserer Selbst in der hartnäckigen Art, wie es uns so oft von unserem Körper scheint, zu werden scheinen? Sicherlich nicht. Er bliebe Gegenstand für uns genau wie zuvor, nur daß er jetzt unserem Willen in jener magischen Weise unterworfen wäre.

Was bedingt es aber dann eigentlich, daß so oft der physikalische Körper mit dem Ich identifiziert wird?

Eine doppelte Äquivokation [ein Begriff für verschiedene Dinge - wp] ist, die das zuwege bringt (75). Einmal wird, wie wir wiederholt sahen, der Komplex der Körperempfindungen als identisch mit den begleitenden Gefühlszuständen und also als subjektiv angesehen, und zweitens wird dann dieser Empfindungskomplex identifiziert mit dem Körper als physikalischer Gegenstand. Das ist der Umweg, auf die ungeheuerliche Behauptung zustandekommt: ich bin der physikalische Gegenstand, den ich meinen Körper nenne. Diese Identifikation ist umso ungeheuerlicher, als ich von mir selbst eine sichere Erfahrung habe, daß ich unräumlich bin, während mein Körper in dem hier gemeinten realistischen Sinn entschieden räumlicher Art ist. Dieser außerordentliche Widerspruch hätte niemals eine derartige Identifikation so unnachlaßlich wissenschaftlich festhalten lassen dürfen. Sie gehört zu jenen Äquivokationen, die aus der primitiven Psychologie auch heute noch nachwirken. Denn für den primitiven Menschen ist diese Auffassung freilidch die durchgängige.
    "Auf den niederen Kulturstufen", sagt  Flügel, der sich vom Standpunkt der Ethnologie mit dem Ich näher beschäftigt hat, "ist alle Zeit der Leib der wesentlichste Bestandteil des Ich, ja man möchte sagen: er ist das Ich. Wird mein Leib verstümmelt, so auch mein Ich. Darum fürchten die Neger weniger den Tod als eine abzehrende Krankheit vorher, weil dann der Sterbliche siech und abgezehrt im jenseitigen Leben ankommt. Alle die Schicksale des Leibes treffen das Ich. Als die Sklaven eines westindischen Pflanzers sich massenweise erhängten, konnte den Selbstmorden nur dadurch Einhalt geboten werden, daß dem Erhängten Kopf und Hände abgeschlagen wurden. Das wirkte, weil die Neger nun meinten, daß auch die Seele im Totenreich verstümmelt ankommt." (76)
Wir haben hier nur die radikale Konsequenz der Identifizierung von psychischen Vorgängen mit Teilen des Organismus, wie wir sie noch bei HOMER nachwirken sahen. Interessant ist, daß nicht bloß der Leib selbst, sondern auch schon sein Bild in gewisser Weise als identisch mit dem Ich aufgefaßt wird. "Die Neger fanden das Abmalen eines Menschen gefährlich, weil dadurch ein Stück des Ich verloren gehen könnte." (77)

Es türmen sich eben beim primitiven Menschen Äquivokationen über Äquivokationen, die oft so grober Natur sind, daß wir uns kaum noch in sie hineinzusetzen vermögen.

Auch die vermeintliche  Lokalisation des Ich in den Körper  ist von unserem Standpunkt aus natürlich nur eine Urteilstäuschung. Sie ist nur die letzte Konsequenz der Pseudolokalisation der Gefühle, die wir oben ausführlich behandelt haben.

Ich glaube also auch hier wieder nicht, daß die Lokalisation des Ich in den Körper ihre Hauptursache darin hat, daß der Körper allein dem Willen unmittelbar unterworfen ist. Dieses Moment kommt wohl mit ihn Betracht, aber doch nur sekundär. Denn gesetzt wiederum, wir wären imstande, durch unseren Willen Fernwirkungen auszuüben, so würden wir doch wohl nicht sogleich auch bereit sein, uns in die bewegten Gegenstände ohne weiteres zu lokalisieren (78). Das geschähe wohl erst dann, wenn wir bei solchen willkürlichen Fernbewegungen in den betreffenden Gegenständen, also außerhalb unseres eigenen Körpers, lokalisierte analoge Körperempfindungen hätten. So wie es z. B. zumindest scheinbar der Fall ist, wenn der Operateur oder der Zeichner ihr Ich gleichsam in die Spitzen des Messers oder Bleistifts lokalisieren. In diesem Fall werden zunächst Tastempfindungen an die Spitze des Messers verlegt und erst im Anschluß an die durch sie mit bewirkte Pseudo-Lokalisation von Gefühlen auch das Ich selbst. Solange Empfindungen der sogenannten Art nicht auftreten, sondern die Gegenstände uns nur durch Gesichtsinhalte repräsentiert werden, würde uns auch eine willkürliche Telekinese derselben schwerlich jemals zu einer Pseudo-Lokalisation unseres Ich in den Gegenstand veranlassen. Nur unter der Bedingung wäre das denkbar, wenn wir übermäßig auf die betreffenden Gesichtsempfindungen konzentriert wären, wie wir das an früherer Stelle gesehen haben. Erführen dann etwa zufällig gleichzeitig auch die die Körperempfindungen eine Intensitätsherabsetzung, so könnte es freilich geschehen, daß das Ich statt in seinen eigenen Körper sich in den eines anderen Individuums lokalisiert. Ein Fall dieser Art läßt sich in der Tat nachweisen. In einem von KERNER mitgeteilten Krankheitsbericht finden wir eine solche Pseudo-Lokalisation sogar in einen fremden Körper berichtet (bei dem sich die Patientin gleichzeitig noch einbildete, das Innere des fremden Organismus durchschauen zu können). Die Täuschung ist übrigens nicht absolut vollständig, aber doch in starken Ansätzen vorhanden. Es ist bezeichnend, daß die Kranke während des Vorganges sich augenscheinlich in einem leichten autohypnotischen Zustand befand, der alle Urteilsillusionen so sehr begünstigt.
    "Ich bin jetzt ganz wie Luft" - sagt die Kranke zum Arzt - "und kann dich ganz durchdringen ... Ich muß jetzt kalt wie Schnee sein, denn ich fühle mich ganz wie vom Körper los, wie lauter Luft (sie war auch eiskalt) ... Nun darfst du, fiele auch noch so etwas Nötiges vor, nicht von mir hinweg; denn ich bin ganz in dir, daß du mich fühlen mußt, und es wäre mein Tod, wenn du dich plötzlich entfernen würdest ..." (79)

    "Ich bin nun ganz in dir, daß, wenn du jetzt schnell zur Tür hinausgingest, so würde es mich mein Leben kosten: denn wie ich nur allmählich in dich gehen konnte, so kann ich nur allmählich aus dir heraus, und ich würde durch dein Weggehen allzuschnell von meinem Körper getrennt: denn ich bin mehr von meinem Körper getrennt, als mit ihm verbunden." (80)
Es ist das ein ganz extremer Fall. Er zeigt, wie bei genügendem Mangel an Kritik eine Person sich statt in ihren eigenen schließlich sogar in einen fremden Organismus lokalisiert denken kann. Im vorliegenden Fall ist allerdings noch eine gewisse Pseudo-Lokalisation in den eigenen Körper mit vorhanden, ein Widerspruch, der durch unsere Behauptung, daß das Ich in Wahrheit nirgends lokalisiert ist, sondern überall nur Pseudo-Lokalisationen vorliegen, vollständig gelöst wird.

Weit häufiger ist das andere Phänomen, daß das Ich einfach die für den Normalzustand durchgängige Jllusion einbüßt, in seinem eigenen Körper zu sein. Diese Pseudo-Lokalisation, die zwar in Wahrheit nur eine Täuschung ist, begleitet uns doch in gewissem Maß durch unser ganzes Leben, und ihr Aufhören wird höchst unangenehme empfunden, weil wir praktisch nun einmal auf dieser Basis leben, so gut, wie wir praktisch den naiven Realismus aktzeptieren. Hierher gehörige Fällle begegnen uns namentlich in der Psychasthenie [Unvollkommenheitsgefühl, Willensschwäche - wp].

So gibt HESNARD von einem Kranken an:
    "Bei anderen Gelegenheiten hat er das Gefühl, dass sein Körper von seinem Verstand getrennt ist, dass die Kommunikation, die die Synergie und die dynamische Harmonie von Körper und Seele herstellt, zwischen der Richtung und dem Mechanismus aufgeteilt ist. Oder er sagt, dass seine Person von sich selbst abweicht."
Von einem anderen heißt es:
    "Er hat Schwierigkeiten, seine Person zu finden. Bin ich hier oder dahinter? Es sieht so aus, als ob meine Person nicht mehr da ist. .. Als er sich im Spiegel betrachtete, hatte er Angst, dort zu bleiben und er weiß nicht, ob er nicht zurück ist. Ich bin außerhalb meines Körpers. . . Wo bin ich?" (81)
Besonders häufig sind alle diese Störungen bei den Ekstatischen, die dieselben sehr peinlich empfinden. So schreibt die  heilige Therese: 
    "Lasset uns aber auf den Mut, welcher erforderlich ist (zur völligen Überlassung an die psychischen Prozesse der Ekstase), zurückkommen. Glaubt ihr, es sei damit ein so leichtes Ding? Es hat in der Tat den Anschein, als ob die Seele sich vom Körper trennt; denn man sieht ihn die Sinne verlieren und begreift nicht, was das bedeuten soll. In der Verzückung scheint der Geist wirklich aus dem Körper herauszugehen." (82)
Von diesem Phänomen des scheinbaren Entweichens des Ich aus dem Körer, d. h. des Nachlassens der Jllusion der Lokalisation des Ich in denselben, bzw. ihrer Ersetzung durch eine andere, stammt ohne Zweife der Name des ganzen Zustandes:  ekstasis,  der sicherlich nicht bloß darauf zurückgehen dürfte, daß der Körper in diesem Zustand starr wird und auf den Betrachter den Eindruck machte, die Seele habe ihn zeitweise verlassen. Der Terminus  Ekstase  zieht vielmehr seinen eigentlichen Sinn aus dem Erlebnis selber, das gerade darin besteht, daß es dem Subjekt vorkommt, als sei es nicht mehr ihm Körper.

Eine weitere Frage ist nun aber, ob der Körper nicht gleichsam die "Außenseite" des Ich darstellt. Es ist gelegentlich die Behauptung aufgestellt worden, nichts hindere anzunehmen, daß ein Begriff oder ein Empfindungsinhalt von sich Bewußtsein haben kann. Hier haben wir offenbar dasselbe Problem. Ich gestehe, daß ich einen solchen Gedanken keinen vernünftigen Sinn abzugewinnen vermag. Das Objektive ist objektiv und damit Nicht-Ich. Was es heißen soll, es sei die "Außenseite" des Ich, ist völlig unverständlich, sofern damit mehr gesagt sein soll, als daß das Ich zu ihm in bestimmten Beziehungen steht. Und wie soll Objektives Bewußtsein von sich haben? Bewußtsein geht nur von einem Ich aus. Objektives kann nur ansich sowie für Iche da sein, niemals aber für sich selbst, sondern nur das Ich kann in jener eigentümlichen Weise für sich selbst sein, die wir Selbstbewußtsein nennen. Umgekehrt kann das Ich  unmittelbar  in der Weise des naiven Realismus nur für  sich selbst  da sein. Nur es selbst kann ein unmittelbares Bewußtsein von sich haben. Das Nicht-Ich kann von ihm kein Bewußtsein haben, da es als Nicht-Ich überhaupt von nichts Bewußtsein hat. Ein anderes Ich aber kann es auch nicht. Von fremden Ichen haben wir kein unmittelbares Bewußtsein, sondern allein in der symbolischen Form, daß wir uns selbst in sie hineinversetzen. Das sind die eigentümlichen letzten Differenzen zwischen allem, was Ich, und allem, was Nicht-Ich ist. Gemeinsam ist beiden nur, daß Ich wie Nicht-Ich ansich existieren können, ohne für etwas zu sein.

Die bisherigen Erörterungen verbieten es natürlich nicht, wie man lax sagt, den Begriff des Ich zu erweitern. Man kann nach Belieben, dem Sprachgebrauch entsprechend, Komplexe vom Heterogensten zusammenfassen und sie benennen, wie man will. Nur glaube man nicht, daß, wenn man ein Wort, das in präziser Rede bereits etwas ganz Bestimmtes bezeichnet, noch in einem viel weiteren Sinn gebraucht, man damit irgendeine Erkenntnis gewonnen hat. Man mag, da es sich einmal eingebürgert hat, das Wort  Ich  in mehrfacher Bedeutung gebrauchen:
    1. zur Bezeichnung des eigentlichen Ich - das ist die Grundbedeutung;

    2. zur Bezeichnung der Summe der momentanen Gefühle und Funktionen, des Zustandkomplexes des Ich;

    3. im Sinne der Körperempfindungen;

    4. im Sinne des physikalischen Organismus, oder

    5. auch im Sinne von Komplexen aus diesen Faktoren.
Schließlich mag man auch die Kleider, den Besitz oder schließlich auch die ganze Sinneswelt darunter mit verstehen. All das ist unschädlich und zuweilen der Kürze halber auch sehr nützlich, sofern man sich dessen klar bewußt bleibt, daß das Wort  Ich  dabei jedesmal einen völlig verschiedenen Sinn hat und daß es im engsten spezifischsten Sinn nur in den Funktionen gesucht werden darf (83). Bleibt man sich dessen aber nicht bewußt, sondern vermengt, wie es so oft geschieht, diese verschiedenen Bedeutungen, dann kommt man dahin, aus lauter laxer Redeweise sich um die Grundeinsichten der Psychologie zu bringen.
    Unter allen gegenwärtig wirksamen Forschern stehen die von uns vertretenen Theorien keinem näher als  Bolzano, ohne daß jedoch eine völlige Deckung der Ansichten bestehen würde. Von  Bolzanos Schriften, soweit sie mir zugänglich gewesen sind, ist hier neben der  Wissenschaftslehre vor allem die  Athanasia (84) zu nennen, die die für uns wesentlichen Punkte weit ausführlicher entwickelt, als die "Wissenschaftslehre" es tut.

    Bolzano geht in der Terminologie vom Substanzbegriff aus: "Alles, was ist, d. h. in Wirklichkeit besteht, in dieser Wirklichkeit entweder für immer oder auch nur für eine gewisse Zeit besteht, gehört zu einer von folgenden zwei Arten: es ist oder besteht entweder an etwas anderem als Beschaffenheit desselben, oder es ist keine bloße Beschaffenheit an etwas anderem, sondern besteht, wie man zu sagen pflegt,  für sich." (85)

    Er schließt dann weiter: "Wir sind uns bewußt, daß wir Vorstellungen haben und Urteile fällen, daß wir empfinden, wünschen, Willensentschließungen fassen, durch diese schließlich auch allerlei Veränderungen in der uns umgebenden Außenwelt hervorbringen. Es liegt zutage, daß alle diese Verrichtungen in das Gebiet der Wirklichkeit gesetzt werden müssen ... So gewiß es aber ist, daß jede Vorstellung und ebenso jede Empfindung, Begierde und Willensentschließung etwas Wirkliches sind, so sicher ist auch, daß diese Wirklichkeiten nicht in die Klasse der sogenannten Substanzen gehören, sondern vielmehr nur Adhärenzen [Übereinstimmungen - wp], oder insofern sie, wie bei und Menschen, entstehen und vergehen, Veränderungen sind. Eine Vorstellung kann offenbar nicht bestehen, ohne daß jemand, in dessen Gemüt sie vorgeht, da sei; und gleicherweise setzt auch jede Empfindung jemand voraus, der sie hat, usw."

    "Nach dem Vorhergehenden muß es also auch eine oder mehrere Substanzen geben, auf welche sich diese unsere Vorstellungen, Empfindungen usw. als auf den Gegenstand, an dem sie eigentlich vorhanden sind, beziehen. - Dieser Gegenstand ist es, welchen wir unser Ich in der strengsten Bedeutung des Wortes, auch unsere Seele oder unseren Geist nennen." (86)

    Der Mangel dieser Ausführungen liegt lediglich darin, daß  Bolzano zwischen dem Empfinden und den Empfindungsinhalten, dem Vorstellen und den Vorstellungsinhalten usw. nicht hinreichend unterscheidet. Nur von den ersten gilt, daß sie Adhärenzen in seinem Sinne sind, von den Inhalten dagegen gilt das nicht. Es zeigt sich hier, daß, wenn man  Bolzanos Substanzbegriff akzeptiert, dann auch die Empfindungsinhalte usw. "Substanzen" sind. Es ergeben sich von hier aus überhaupt ganz eigenartige und neue Aspekte für das Substanzproblem, die jedoch an dieser Stelle nicht untersucht werden können. - Der übrige Teil von  Bolzanos Deduktion stimmt dagegen ganz mit unserer eigenen (übrigens ganz unabhängig von  Bolzano zustande gekommenen) Stellungnahme überein. Auch von den sonstigen Ausführungen  Bolzanos in dem genannten Werk kann ich, soweit sie die Philosophie betreffen, sehr vielen zustimmen; so eigentlich dem ganzen ersten Abschnitt "Einfachheit und Einerleiheit unserer Seele" (Seite 21-68). Was die weiteren metaphysischen Spekulationen  Bolzanos angeht, so können wir sie hier auf sich beruhen lassen, da es nicht in der Absicht dieses Werkes liegt, die Grenzen der empirishen Psychologie zu verlassen.

    Von den späteren Forschern ist es besonders LOTZE (87), der die Eigenart des Ich deutlich erkannt hat. In seinem Sinne hat die Theorie dann vornehmlich  Teichmüller fortgebildet, auf den ich leider erst soeben während der Drucklegung aufmerksam werde und dessen Schriften zu Unrecht der Vergessenheit anheimgefallen sind (88). Ebenso ist  Sigwart durch seinen besonnnenen Konservatismus vor der Preisgabe des Subjektbegriffs bewahrt geblieben.

    Auch  Schuppe und  Rehmke können es beanspruchen, hier genannt zu werden, da sie den Subjektsbegriff stets festgehalten haben. (89) Doch bringt  Schuppe den Körper in zu große Nähe zum Ich (90), wie dies überhaupt der Punkt ist, wo stets am häufigsten von der Ichpsychologie Inkonsequenzen begangen worden sind, die alle darin ihren Grund gehabt haben, daß das Phänomen der introspektiven Täuschungen bisher keine Beachtung gefunden hat.

    Vor allem aber ist noch  Theodor Lipps zu nennen, dem das Ichproblem seit langer Zeit immer erneute, energische Förderung zu verdanken gehabt hat (91).

    Aus der jüngsten Vergangenheit ist besonders  Heinrich Maiers umfassendes Werk über das emotionale Denken hervorzuheben, das ebenfalls verwandte Bahnen eingeschlagen hat. (92)

    Es braucht wohl nicht bemerkt zu werden, daß alle diese Theorien ihren Vorgänger in  Leibniz haben, der der eigentliche Begründer der gesamten modernen nichtassoziationistischen Psychologie des Kontinents gewesen ist.
LITERATUR - Traugott K. Oesterreich, Die Phänomenologie des Ich in ihren Grundproblemen, Bd. 1, Leipzig 1910
    Anmerkungen
    1) Die gleiche Auffassung auch bei STEPHAN WITASEK, Grundlinien der Psychologie, Leipzig 1908. Unter allen neueren, das Gesamtgebiet der Psychologie behandelnden Lehrbüchern gibt WITASEK die zutreffendste Lehre vom Ich. Aber auch bei ihm gehen die Konzessionen an die materialistisch-physikalische Psychologie noch zu weit. - Ebenso spricht AUGUST MESSER (Einführung in die Erkenntnistheorie, Leipzig 1909, Seite 83f) von einem "Ich, das als Subjekt die Akte des Denkens, Fühlens und Wollens als die seinigen erlebt." (Vgl. auch "Empfindung und Denken", Leipzig 1908, Seite 47)
    2) CARL STUMPF, Zur Einteilung der Wissenschaften, Seite 8f.
    3) Ähnlich WILHELM SCHUPPE: "Das Ich erweist sich im unmittelbaren Bewußtsein als etwas, was nur Subjekt sein, nur Eigenschaften haben, Tätigkeiten ausüben kann, niemals aber etwas anderes zu seinem Substrat haben, an etwas anderem haften, ihm als seine Eigenschaft oder Tätigkeit zukommen kann. Es bedarf nicht nur keines Substrates, sondern kann auch keins haben." (Grundriß der Erkenntnistheorie und Logik, Berlin 1894, Seite 16)
    4) DAVID HUME, Traktat über die menschliche Natur, deutsch von LIPPS, Bd. I (1895), Seite 326 (Teil IV, Abschnitt 6).
    5) SCHUPPE, Grundriß der Erkenntnistheorie und Logik, Berlin 1894, Seite 18f, 27.
    6) SCHUPPE, Erkenntnistheoretische Logik, Berlin 1878, Seite 82
    7) EDMUND HUSSERL, Logische Untersuchungen, Bd. II, Seite 224f.
    8) JOHANNES REHMKE, Die Seele des Menschen, zweite Auflage, Leipzig 1905, Seite 67f.
    9) Ebenso SCHUPPE: Das Ich als Subjekt vermöge auch in allen Veränderungen seine Identität festzuhalten (Grundriß der Erkenntnistheorie und Logik, Berlin 1894, Seite 21).
    10) KANT, Kritik der reinen Vernunft, Leipzig (Ausgabe KEHRBACH), Seite 309.
    11) Wenn das Subjekt aber etwa gleichzeitig neben den Pseudoerinnerungen noch echte hätte, so daß es sich also z. B. zu erinnern meinte, es wäre zu einem gewissen Zeitpunkt körperlich gleichzeitig an zwei verschiedenen Orten gewesen, so würde es sofort darauf aufmerksam werden, daß die Erinnerungen unmöglich  beide  richtig sein können.
    12) Auf die Paralogismen [Widersprüche - wp] selbst, die die Psychologie wenig angehen, kann ich hier nicht näher eingehen. Es muß das einer besonderen Auseinandersetzung überlassen bleiben. Dieselbe wird dann gleichzeitig auf die sehr interessanten und auch sachlich bemerkenswerten Veränderungen in den Absichten KANTs von der Mitte der sechziger Jahr an bis zur Vollendung der Kr. d. r. V. einzugehen haben. - Zur Kritik der kantischen Ichlehren mit besonderer Rücksicht auf ihre Ausgestaltung durch LIEBMANN vgl. vornehmlich ERICH ADICKES, Liebmann als Erkenntnistheoretiker, Kantstudien Bd. XV, 1910, Seite 9f.
    13) Die Einheit des Individuums erklärt er teils physiologisch, teils durch eine Bezugnahme auf den Zusammenhang der Funktionen. Vgl. "Die moderne Psychologie", Leipzig 1901, Seite 280-316. Dort auch die wesentlichsten Hinweise auf Ausführungen in seinen übrigen Werken.
    14) STUMPF, Erscheinungen und psychische Funktionen, Seite 9
    15) LIPPS, Atti del V. Congresso Internazionale di Psicologia, Roma 1906, Seite 63f. - vgl. auch Ausführungen in zahlreichen anderen Arbeiten.
    16) MILL, Logik, deutsche Ausgabe GOMPERZ, Bd. I, Seite 68.
    17) HIPPOLYTE TAINE, Der Verstand, Bonn 1880, Bd. 1, Seite 271.
    18) HUSSERL, Logische Untersuchungen II, Seite 355f.
    19) Vgl. dazu WILHELM DILTHEY, Studien zur Grundlegung der Geisteswissenschaften, Sitzungsberichte der Berliner Akademie der Wissenschaften 1905, Seite 340f.
    20) HUSSERL, Logische Untersuchungen II, Seite 10
    21) Es ist völlig richtig, wenn BOLZANO deshalb bemerkt, er glaube, "daß das zarte Kind schon manche Urteile und mitunter auch richtige fällt, also Erkenntnisse hat, bevor es auch Selbstbewußtsein erhält. Ich erachte es eben nicht für durchaus notwendig, daß wir, um irgendeine Wahrheit zu wissen, auch an uns selbst denken und das Urteil, daß wir jetzt diese Wahrheit erkennen, zu fällen imstande sein müßten." (BOLZANO, Wissenschaftslehre, Bd. III, Seite 189)
    22) HUSSERL, Logische Untersuchungen II, Seite 356
    23) HUSSERL, Logische Untersuchungen II, Seite 345f.
    24) HUSSERL, Logische Untersuchungen II, Seite 331
    25) MAX DESSOIR, Das Unterbewußtsein, Rapport au VI Congrés International de Psychologic, Genéve 1909.
    26) So liegt sie auch den folgenden, sonst so höchst wertvollen Werken teils ausdrücklich ausgesprochen, teils immanent zugrunde: ALFRED BINET, Les altérations de la personnalité, Paris 1892. - BORIS SIDIS and SIMON P. GOODHART, Multiple personality, London 1907. - Auch bei PIERRE JANET (L'automatisme psychologique, Paris 1889; L'état mental des hystériques, Paris 1893-1894; Néuroses et idées fixes, Paris 1898-1902; Les obsessions et la psychasthénie, Paris 1903) ist sie die herrschende.
    27) Die Theorie wird namentlich in der ausländischen Psychologie oft sehr lax formuliert, so daß sie sich auch auf die  Inhalte  mit bezieht, die ansich für uns oben längst erledigt worden sind.
    28) CARL STUMPF, Tonpsychologie, Bd. II, Seite 64f und 128. - LIPPS, Leitfaden der Psychologie, erste Auflage, Seite 79f.
    29) Diese Auffassung jetzt auch bei DILTHEY, Studien zur Grundlegung der Geisteswissenschaften, Sitzungsberichte der Berliner Akademie der Wissenschaften, 1905, Seite 341.
    30) Ich setze dabei natürlich voraus, daß unter einem Zusammenhang der Funktionen irgendein deskriptiv phänomenologisches Moment verstanden wird, das sie zur Bewußtseinseinheit zusammenschließen soll. - Wird die Theorie von jemand aber so verstanden, daß mit dem Zusammenhang der Funktionen einfach gemeint wird, daß sie miteinander  kausal  zusammenhängen, so ist darauf zu verweisen, daß zwischen verschiedenen Personen noch so viele telepathische Kausalzusammenhänge der Funktionen postuliert werden könnten, ohne daß aus zwei Subjekten jemals eins wird.
    31) HUME, Treatise on human nature (deutsch von THEODOR LIPPS) erste Auflage, Bd. I, Seite 363f.
    32) Ferner macht HUME den Fehler, daß er zwischen Funktion und Inhalt nicht scheidet. Die Inhalte sind als isoliert, unabhängig von jedem Ich existierend, denkbar, die Funktionen dagegen nischt. Jede Funktion ist die Funktion eines Ich. - Zur Kritik HUMEs vgl. auch noch MESSER, Empfindung und Denken, Seite 47.
    33) "Wenn eine gewisse Anzahl von psychologischen Phänomenen zusammengebracht wird, tritt gewöhnlich eine neue und wichtige Tatsache im Geist auf: ihre Einheit, bemerkt und verstanden, führt zu einem besonderen Urteil, das die Idee des Ego genannt wird. Dies ist, wie wir sagen, ein Urteil und keine Assoziation von Ideen; dieses reproduziert die Phänomene nacheinander, stellt sie automatisch einander gegenüber und gibt uns dadurch die Möglichkeit, ihre Einheit zu bemerken, ihre Ähnlichkeit zu beurteilen; aber es stellt dieses Verhältnis von Einheit und Ähnlichkeit nicht selbst dar. Das Urteil hingegen synthetisiert die verschiedenen Tatsachen, begründet ihre Einheit und bildet im Zusammenhang mit den verschiedenen psychologischen Phänomenen, die durch sinnliche Eindrücke oder durch automatisches Assoziationsspiel hervorgerufen werden, eine neue Idee: die der Persönlichkeit." (PIERRE JANET, L'automatisme psychologique, Seite 117)
    34) "Leben ist überall nur als Zusammnhang da." (WILHELM DILTHEY, Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie, Abhandlung der Berliner Akademie der Wissenschaften, 1894, Seite 1314)
    35) Wenn man das Gedächtnis als eine allgemeine Funktion der organischen Materie bezeichnet hat (HERING) und wohl gar dem Ton ein Gedächtnis für die ihm gegebene Form zuschreibt, so bedarf es wohl keiner ausdrücklichen Hervorhebung, daß hier das Wort  Gedächtnis  in einem völlig übertragenen Sinn gebraucht und von manchen nicht selten auch mißbraucht wird.
    36) Vgl. DILTHEY: "Die Einheit des Bewußtseins liegt jedem Vergleichungsurteil zugrunde, da wir in ihm verschiedene Empfindungen, z. B. zwei Nuancen von Rot, zugleich und in derselben unteilbaren Einheit besitzen müssen: wie könnten wir des Unterschiedes sonst inne werden? Nun kann aus der Konstruktion der Welt, wie sie die mechanische Naturwissenschaft erschließt, diese Tatsache der Bewußtseinseinheit nicht abgeleitet werden. ... Sonach ergibt sich, daß die mechanische Naturwissenschaft die Einheit der Seele als ein ihr gegenüber Selbständiges betrachten muß, aber es ist nicht ausgeschlossen, daß ein hinter diesen für die Erscheinungswelt gebildeten Hilfsbegriffen bestehender Zusammenhang der Natur den Ursprung der Einheit der Seele in sich enthält: das sind ganz transzendente Fragen." (Einleitung in die Geisteswissenschaften, Bd. I, Seite 489)
    37) THEODULE RIBOT, Die Persönlichkeit, Seite 41
    38) Vgl. die Nachrichten bei RIBOT, a. a. O., Seite 50f.
    39) Geboren 1811, gestorben 1874. - Leider scheint auch diese so außergewöhnlich günstige Gelegenheit zu einem wirklich eingehenden psychologischen Studium der beiden Individuen nicht benutzt worden zu sein.
    40) Über die beiden mit dem Bauch zusammengewachsenen Brüder (Referat über einen Vortrag des Mediziners WARREN, der die Zwillinge untersucht hatte). In: Notizen aus dem Gebiet der Natur- und Heilkunde, Bd. XXVI, 1829, Seite 34.
    41) Ebenda, Seite 13f. - Vgl. ferner GEOFFROY SAINT-HILAIRE, Histoire générale et particuliére des anomalies, Bruxelles 1837, Bd. III, Seite 62f. - Dort Seite 83f noch ein anderer ähnlicher Fall.
    42) Extraot d'un rapport fait á l'Académie royale des sciences, le 19 Oct. 1829, sur deux fréres attachés ventre á ventre depuis leur naissance, présentements âgés de dix-huit ans, par M. Geoffroy Saint-Hilaire. In: Le Moniteur Universel 1829 (29. Oktober).
    43) Das sagt auch GEOFFROY SAINT-HILAIRE ganz ausdrücklich (Hist. des anomalies, Bd. III, Seite 65).
    44) Sehr interessant wäre es, wenn einmal eine Mißgeburt mit zwei aneinander gewachsenen Köpfen großgezogen werden könnte, um zu erfahren, wie bei einer derarten "Verschmelzung" der Gehirne die psychischen Verhältnisse sein würden. Mitteilungen über Fälle derartiger Januskopfgeburten ebend Seite 86f. - Ebendort Seite 172f Mitteilungen über einen Fall, bei dem sich über dem ersten Kopf noch ein zweiter befand und der erst im fünften Lebensjahr zugrunde ging. Leider sind die Notizen überaus dürftig, und außerdem waren beide Gehirne bis auf einige Aderverbindungen scharf getrennt. - - - Es wäre übrigens ganz außerordentlich zu wünschen, daß GEOFFROY SAINT-HILAIREs wertvollem Werk einmal ein Gegenstück zur Seite gestellt würde, in dem die Nachrichten über die in den seitdem vergangenen 80 Jahren bekannt gewordenen neueren Monstra systematisch zusammengestellt wären.
    45) Ich vermag auch RIBOTs Lehre vom kolonialen Bewußtsein (Die Persönlichkeit, Kapitel V) nicht zuzustimmen. Die einzelnen Mitglieder der von ihm genannten Tierkolonien repräsentieren vermutlich lauter einzelne psychiche Subjekteinheiten, die sich aus physiologischen Ursachen zu den gleichen Handlungen getrieben fühlen. Oder aber die Tierkolonie hat als Ganzes noch ein besonderes Subjekt-Ich, das dann aber von jenen ersten ebenso scharf geschieden ist, wie es auch sonst Ichsphären sind.
    46) HEGEL, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Gesamtausgabe, Bd. XI, zweite Auflage, Seite 123.
    47) SCHUPPE, Grundriß der Erkenntnistheorie und Logik, Seite 22
    48) LOTZE, Mikrokosmos, dritte Auflage, Bd. I, Seite 579f
    49) LOTZE, Mikrokosmos, Bd. III, Seite 571; vgl. Bd. I, Seite 270f.
    50) LOTZE, Mikrokosmos, Bd. III, Seite 570
    51) LOTZE, Mikrokosmos, Bd. III, Seite 572
    52) LOTZE, Mikrokosmos, Bd. III, Seite 573
    53) FRANZ von BRENTANO, Psychologie vom empirischen Standpunkt, Bd. I, Seite 118.
    54) HERMANN OPPENHEIM, Lehrbuch der Nervenkrankheiten, dritte Auflage, Seite 905.
    55) GUSTAV STÖRRING, Vorlesungen über Psychopathologie, Seite 23
    56) THEODULE RIBOT, Problémes de psychologie affective, Seite 133.
    57) Vgl. die Phänomene des Somnambulismus und der Variationen des psychischen Gesamtzustandes in machen Fällen der Hysterie. Vielfaches Material bei JANET, L'automatisme psychologique.
    58) So auch BRENTANO, Untersuchungen zur Sinnespsychologie.
    59) Nachträglich finde ich den Gedanken jedoch bereits bei LOTZE auftauchen: "Und wenn die Seele in völlig traumlosem Schlaf nichts vorstellt, fühlt und will, ist sie dann und was ist sie? Wie oft hat man geantwortet, daß sie dann nicht sein  würde,  wenn dies jemals geschehen könnte; warum hat man nicht vielmehr gewagt zu sagen, daß sie dann nicht  ist,  so oft es geschieht? Gewiß, wenn sie allein in der Welt wäre, dann könnten wir einen Wechsel ihres Seins und Nichtseins nicht verstehen; aber warum sollte nicht ihr Leben eine Melodie mit Pausen sein, während der ewige Urquell fortwirkt, aus dem als eine seiner Taten, ihr Dasein und ihre Tätigkeit entsprang? Aus ihm würde sie wieder entspringen, in einem folgerechten Anschluß an ihr früheres Sein, sobald jene Phasen vorüber sind, während deren andere Taten desselben Ursprungs die Bedingungen ihres neuen Eintritts herstellen." (System der Philosophie, Bd. II, Metaphysik, Seite 603)
    60) Anders urteilt LIPPS, Das Ich und die Gefühle, Psychologische Untersuchungen, Bd. 1, Seite 656f.
    61) STUMPF weist mit Recht darauf hin, daß auch LOTZE dieser Ansicht zuneigte. (Erscheinungen und psychische Funktionen, Seite 9)
    62) WILHELM WUNDT, Grundriß der Psychologie, sechste Auflage, Seite 384
    63) WUNDT, Physiologische Psychologie, Bd. III, fünfte Auflage, Seite 760.
    64) Ebenso WITASEK, Grundlinien der Psychologie, Leipzig 1908, Seite 63: "Das Ich ist der Träger der Dispositionen."
    65) So auch STUMPF: Die intellektuellen wie die emotionalen Dispositionen seien "als solche unbewußt" (Erscheinungen und Funktionen, Seite 28).
    66) Dies ist der Punkt, um dessentwillen ich das vorliegende Werk  "Phänomenologie  des Ich" genannt habe. Es sollte damit angedeutet werden, daß es dasselbe nur mit den empirischen Ichvorgängen zu tun hat, daß aber das Wesen des Ich sich in den beobachtbaren Phänomenen nicht völlig erschöpft.
    67) Paris-Genéve 1900, 3 Bände
    68) Der eigentliche Begründer dieser Lehre ist nach PAUL JULIUS MÖBIUS der Anatom GALL gewesen (MÖBIUS, Franz Joseph Gall, Leipzig 1905, Seite 56f).
    69) Charakteristisch für die psychologische Bedingtheit der Stellungnahme in diesen Fragen ist es, daß Psychiater, die es vor allem mit organischen Erkrankungen zu tun haben, durchgehends geneigt sind, alles auf organische Störungen zurückzuführen und die parallelistische Theorie zugrunde zu legen, während unter den mit funktionellen Neurosen beschäftigten viel eher gelegentlich die andere Ansicht als möglich hingestellt und die Theorie der Wechselwirkung vertreten wird.
    70) WILHELM OSTWALD, Vorlesungen über Naturphilosophie, Leipzig 1902.
    71) CARL STUMPF, Leib und Seele (Rede).
    72) Vgl. das zusammenfassende ausgezeichnete Werk von HANS DRIESCH, The science and philosophy of the organism, zwei Bände, London 1908 (Deutsch unter dem Titel "Philosophie des Organischen", Leipzig 1909)
    73) LIPPS, Vom Fühlen, Wollen und Denken. Versuch einer Theorie des Willens, zweite Auflage, Leipzig 1907, Seite 5. - Vgl. Das Ich und die Gefühle, Psychologische Untersuchungen, Bd. I, 1907, Seite 648f, Das Selbstbewußtsein, Empfindung und Gefühl, Wiesbaden 1901, Seite 37f.
    74) LIPPS, Das Selbstbewußtsein, Empfindung und Gefühl, Seite 38.
    75) Es wäre logisch interessant, einmal solchen durch eine Verkettung verschiedener Äquivokationen entstehenden Gedankenreihen auch auf anderen Gebieten nachzugehen, wo sie sich sicherlich auch finden dürften.
    76) OTTO FLÜGEL, Das Ich im Leben der Völker, Zeitschrift für Völkerpsychologie, Bd. XI, 1880, Seite 44 (Eine lesenswerte Abhandlung)
    77) ebd. Seite 45 (Nach WAITZ).
    78) Freilich begegnet man auch derartigen Gedanken zuweilen. So schreibt EBBINGHAUS sogar: "Wie kann man von der Seele sagen, sie sei ihrem wahren Wesen nach etwas von Raum und Materie völlig Verschiedenes, wenn sie gewisse Wirkungen allein hier, gewisse Wirkungen allein dort innerhalb eines materiellen Organs zu erleiden und auszuteilen vermag? Zweifellos wird sie damit selbst zu einem Wesen von einer bestimmten Ausdehnung und Gestalt." (Psychologie, in: Systematische Philosophie. Kultur der Gegenwart I, Seite 191) Wir befinden uns hier auf dem unmittelbaren Weg zur Lokalseelentheorie der primitiven Völker.
    79) JUSTINUS KERNER, Geschichte zweier Somnambulen, Karlsruhe 1824, Seite 147.
    80) ebd. Seite 162. Vgl. Seite 188 und 192.
    81) HESNARD. Les troubles de la personnalité dans les états d'asthénie psychique. Ètude de psychologie clinique. Paris 1909, Seite 61, bzw. 141.
    82) Heilige  Theresia von Jesus,  Sämtliche Werke, Regensburg 1851, Seite 351f (Die Seelenburg, VI, V).
    83) Derartige Unterscheidungen verschiedener Zonen oder Schichten des Ichbewußtseins in einem allgemeineren Sinn des Wortes besonders bei LIPPS, das Selbstbewußtsein, Empfindung und Gefühl, und MAIER, Das emotionale Denken, Seite 200f
    84) BOLZANO, Athanasia, zweite Auflage, Sulzbach 1838. - Diese wertvolle, freilich unmodern idealistische Schrift hat, soweit ich sehe, bisher noch nicht wieder Beachtung gefunden.
    85) BOLZANO, a. a. O., Seite 21
    86) BOLZANO, a. a. O., Seite 25f
    87) LOTZE, Medizinische Psychologie; Mikrokosmos; System der Philosophie.
    88) Es kommen vornehmlich in Betracht: "Die wirkliche und die scheinbare Welt". Neue Grundlegung der Metaphysik, Breslau 1882; Über die Unsterblichkeit der Seele, zweite Auflage, Leipzig 1879; Neue Grundlegung der Psychologie und Logik, Breslau 1889.
    89) Vgl. besonders SCHUPPE, Erkenntnistheoretische Logik, Bonn 1878, Seite 26-88, und die noch klarere Abhandlung "Meine Erkenntnistheorie und das bestrittene Ich", Zeitschrift für Psychologie, Bd. XXXV, Seite 454-479. - REHMKE, Allgemeine Psychologie, zweite Auflage.
    90) Vgl. SCHUPPE, Erkenntnistheoretische Logik, Seite 75f und besonders Abhandlung a. a. O., Seite 476.
    91) Vgl. besonders die zusammenfassenden Untersuchungen LIPPS': Das Selbstbewußtsein, Empfindung und Gefühl, Wiesbaden 1901; das Ich und die Gefühle, Psychologische Untersuchungen, Bd. I, 1907, Seite 641-693.
    92) Was ich das Ich nenne, ist das, was MAIER als "formales Ich" bezeichnet (a. a. O. Seite 201).