p-4 p-4BrentanoF. HillebrandBrentanoK. TwardowskiBrentanoA. Marty    
 
OSKAR KRAUS
Franz Brentano
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"Nicht die unmittelbar evidenten Wahrnehmungen, sondern nur die Axiome sind aus den Begriffen einleuchtend, werden somit von den Begriffen (d. h. von den die Begriffe Denkenden als solchen) bewirkt, und ähnlich wie sie entspringen die unmittelbar als richtig charakterisierten Gemütsakte aus den Begriffen."

"Ich erkenne ein Ding als gut oder wertvoll, ich erkenne den Wert eines Dings, heißt nichts anderes, als: ich erfasse meine Wertung dieses Dings als wie es sein soll, als richtig oder gerechtfertigt. Sage ich allgemein, ein Ding ist gut, so will ich sagen, es sei unmöglich, daß ein Liebender (Wertender) es unrichtig wertet."

"Brentano hat Kants kopernikanische Wendung, wonach nicht unsere Erkenntnis nach den Dingen, sondern die Dinge sich nach unserer Erkenntnis richten, als eine widernatürlich kecke Behauptung" bezeichnet. Erwägt man, daß diese Dinge Phänomene sind, bloß phänomenale oder intentionale, mentale Existenz haben, das heißt überhaupt nicht existiieren und das einzig dabei Existierende wir selbst als diese Phänomene-Habende sind, so erweist sich jeder weitere Schritt auf dem Boden des kantischen Phänomenalismus als ein Fehlschritt."

17. Unter den vielen Fragen, die sich dem Leser dieser dürftigen Mitteilungen aufdrängen, dürfte wohl keine dringlicher sein als die, auf welche Weise wir, nach BRENTANO, zur Erkenntnis, daß es nur Individuelles geben kann, kommen, wenn nicht bloß unsere Abstraktionen, sondern auch unsere Anschauungen Allgemeinvorstellungen sind? BRENTANO hat diese Frage wiederholt, so nich im letzten Diktat am 9. März 1917, beantwortet; er zeigt zuerst, wie wir auf dem Weg des attribuierenden (identifizierenden, synthetischen) Vorstellens zum Begriff des Individuellen als desjenigen, wofür eine weitere Differenzierung nicht möglich ist, gelangen. Wollte man nun annehmen, daß es etwas anderes als Individuelles geben kann, so hieße dies so viel, als wir dächten etwas vollständig allen seinen ihm zukommenden Bestimmungen nach und dächten etwas ihm in allen diesen Bestimmungen Gleiches, also in gar nichts Verschiedenes, und doch sie dieses nicht jenes, was widerspricht, da die sämtlichen Teilbestimmungen des Gesamtbestimmung ausmachen.

Noch eine andere Aufklärung scheint gegenüber diesen neuen Lehren hier nötig. Bekanntlich nimmt BRENTANO mit LEIBNIZ zwei Erkenntnisquellen an: apodiktische [unumstößliche - wp], apriorisch-evidente Wahrheiten, die aus den Begriffen einleuchten und véritès de fait [das ist die unmittelbare tatsächliche Existenz der inneren Wahrnehmung. Da erhebt sich die Frage, wie wir trotz dem - soeben dargelegten - Mangel individualisierender Bestimmungen bei der Selbstwahrnehmung zu erkennen vermögen, daß nur ein Individuum nicht aber viele von uns erfaßt werden? Die Antwort darauf ist, daß nur eines mit dem Wahrnehmenden identisch sein kann und nur was mit ihm identisch ist, von ihm mit Evidenz erfaßt werden kann. - Gewiß werden unsere psychischen Tätigkeiten nicht als absolut notwendig von uns erkannt; wäre aber die psychische Tätigkeit, die ich in diesem Augenblick wahrnehme, nicht einmal relativ zu mir als Wahrnehmendem notwendig, könnte vielmehr mein Anerkennen auch sein, während das Anerkannte nicht ist, so mangelte jede Sicherheit des Urteils. Relativ zu mir als Denkenden ist aber das Gedachte jedenfalls dann notwendig, wenn es mit dem Denkenden identisch ist. Wären das Anerkennende und das Anerkannte zwei voneinander verschiedene Dinge, so wäre nicht einzusehen, wie eine evidente Erkenntnis möglich sein sollte; eine kausale Abhängigkeit des Subjekts von dem zum Objekt gemachten Ding würde nicht genügen, da jede sekundäre Ursache durch eine andere, allenfalls - wie schon CARTESIUS lehrte - durch die primäre ersetzt werden kann. Nur bei vollständiger Identität besteht die Sicherheit, daß das Erkennende nicht sein kann, ohne daß das Erkannte ist. (28) - Aus analogen Gründen gibt es kein evidentes assertorisches [als gültig behauptetes - wp] verneinendes Urteil. -

Schließlich soll in diesem Zusammenhang noch darauf hingewiesen werden, daß BRENTANO seine in der "Psychologie" aufgestellte Behauptung, daß die innere Wahrnehmung nicht zur inneren Beobachtung werden kann, bis zuletzt aufrecht erhalten hat. Nicht nur im "Anhang" (Seite 130) wiederholt er diese Lehre, noch am 17. Februar 1917 schrieb er auf meine Anfrage, daß nach seiner Meinung die innere Wahrnehmung wohl in keinem Fall "innere Beobachtung" genannt zu werden verdient. Sie sei ja ohne jedes dauernde Verweilen und gestattet so kein Experimentieren und vergleichendes Betrachten und Überlegen. Verstehe man also unter Beobachten ein vergleichendes Erforschen, so könne die innere Wahrnehmung nicht zur inneren Beobachtung werden. Wohl aber kann früher Wahrgenommenes im Gedächtnis zum primären Objekt gemacht und dann so studiert werden, wie man die Objekte des primären Bewußtseins z. B. eine Farbe studieren kann. Allerdings ist diese Beobachtung primärer Objekte kein evidentes Wahrnehmen. Was die evidente innere Wahrnehmung selbst anlangt, gilt vor ihr, was mit jeder evidenten Erkenntnis vereinbar ist, nämlich, daß sie konfus ist. Schon der "Anhang" weist darauf hin, wie dieser Umstand, der zu manchen Irrungen Anlaß gibt, dazu geführt hat, die Evidenz der inneren Wahrnehmung in Zweifel zu ziehen. Auch in den hinterlassenen Aufzeichnungen kommt BRENTANO auf diese Zweifel und ihre Abwehr zurück. Er zeigt z. B., wie wir manches klar und deutlich, manches aber klar und konfus perzipieren, wie z. B. manche komplizierte Mehrklänge und die sogenannte Klangfarbe von Instrumenten, Stimmen, Vokalen. Hier liegt ein Minus an Erkenntnis vor, aber kein Irrtum. Wir haben nicht etwas falsch innerlich wahrgenommen. Auch wenn einer die zusammengesetzten Töne falsch bestimmt, dürfen wir nicht von einer falschen inneren Wahrnehmung sprechen, wie ja auch nicht, wenn einer, weil er "Ei" mit E-i geschrieben hat, verkennt, daß wir beim Sprechen ein A-i aufeinander folgen lassen.

18. Das Zeitproblem hat BRENTANO seit jeher auf das Lebhafteste beschäftigt. Ungezählte Abhandlungen suchen den Weg zu seiner Lösung. In den neunziger Jahren glaubte er ihn nun mit Hilfe der Annahme besonderer Urteilsmodie gefunden zu haben. Hier knüpfte MARTY an, indem er neben dem Aktualitätsmodus der Gegenwart einen Inaktualitätsmodus annahm und außerdem zeitliche Positionen von uns vorgestellt wähnte. BRENTANO verwirft diese Lehre. Eine Reihe von kritischen Untersuchungen beschäftigt sich mit der Theorie MARTYs von Raum und Zeit und eine noch weit größere Anzahl kleinerer und größerer Monographien nimmt das Zeitproblem von verschiedensten Seiten her in Angriff. Das Gottesproblem ausgenommen ist BRENTANO wohl zu keiner Frage öfter und mit unbesiegbarerer Geduld zurückgekehrt als zu der Frage nach dem Ursprung unserer Zeitvorstellung und zum Kontinuitätsproblem überhaupt. Gewiß auch darum, weil sie mit jenen höchsten metaphysichen Fragen unabtrennbar verknüpft sind. Das Eigentümliche seiner Methode, besonder seiner aporetischen [Auseinandersetzung mit schwierigen philosophischen Fragen - wp] Verfahren, seine wissenschaftliche Phantasie, die ihm freieste Beweglichkeit bei der Hypothesenbildung ermöglichte, sein wissenschaftlicher Takt, der jene in den nötigen Schranken hielt, um sie nicht ins Grund- und Bodenlose geraten, vielmehr niemals allzuweit vom Ziel abirren zu lassen, sein analytisches Vermögen, alle diese Vorzüge treten bei diesen Studien zutage Es ist darum besonders mißlich, über die Ergebnisse dieser viele Jahrzehnte zurückreichenden Forscherarbeiten dürftige Andeutungen zu machen. Doch hat BRENTANO selbst nicht davor zurückgescheut, im "Anhang" auf rund zwei Seiten seine neue Lehre vorzutragen, wonach die temporalen Differenzen als verschiedene Modi des Vorstellens zu bezeichnen sind (Seite 131 und 132). Er schließt mit den Worten:
    "Wie ein Qualitätsmodus keinem Urteil fehlen kann und wir dies zuversichtlich für alle urteilenden Wesen zu behaupten vermögen, so ist auch ein Temporalmodu schlechterdings für jedes Vorstellen erforderlich und es kann dies ohne Kühnheit nicht bloß für Mensch und Tier, sondern für jedes vorstellende Wesen überhaupt gesagt werden. Es gilt mit derselben Sicherheit wie der Satz, daß es keine Vorstellung gibt ohne Objekt. Dieser Punkt ist von höchster Wichtigkeit, hat die weittragendsten Konsequenzen und ich behalte mir vor, ein anderes Mal eingehender bei ihm zu verweilen."
Um aus der Fülle der hier verwerteten Gedanken den wichtigsten hervorzuheben, so sei bemerkt, daß die Lehre von den temporalen Modis im Wesentlichen nichts anderes ist als eine Anwendung der Theorie vom modus rectus und modus obliquus. Wer eine Tonfolge hört, z. Beispiel c, d, e dem erscheint in ihr, so sagt man, spezifisch derselbe Ton, z. B. der Ton c, also dasselbe Objekt, zuerst als gegenwärtig, dann mehr und mehr als vergangen. Nach BRENTANO ist dieser Vorgang so zu begreifen, daß vom ersten Auftreten des Tones bis zu seinem Verschwinden immer etwas als gegenwärtig von uns vorgestellt wird, zuerst der Ton selbst, dann etwas, was als später, als ferner und ferner in der Weise des Späteren von eben jenem Ton absteht. Und selbst wenn wir etwa während einer Pause die Erscheinung des "vergangenen Tones" haben, stellen wir zugleich uns selbst vor, als gegenwärtig diese Erscheinung Habende und so haben wir immer etwas als gegenwärtig, wenn wir etwas als vergangen vorstellen. Die ganze Sukzession bei der äußeren Anschauung besteht nicht in einer kontinuierlichen Änderung des Objekts, sondern in einer kontinuierlichen Änderung des Temporalmodus, mit welchem es vorgestellt wird. Freilich ist die Mannigfaltigkeit dieser Modi bei unserer sinnlichen Anschauung eine eng begrenzte, allein dies hindert uns nicht, ähnlich wie wir bei den eng begrenzten räumlichen Sinnesfeldern es tun, durch Analogie begrifflich ins Unendliche über das unmittelbar Gegebene hinaus zu gehen. Als Objekt angeschaut wird unsere auf die primären Objekte mit einer Kontinuität von temporalen Modis sich richtende psychische Tätigkeit. Immer aber denken wir irgendetwas modo recto [mit Seinsverpflichtung - wp] als gegenwärtig und als Späteres abstehend von jenem früher Gewesenen, das modo obliquo [ohne Seinsverpflichtung - wp] vorgestellt ist. Wenn man nun aber anerkennt, daß etwas auf diese Weise nach einem andern ist, so erkennt man nur von ihm selbst an, daß es ist, vom anderen nicht. Man glaubt nur, es sei gewesen. Die Art, wie wir zeitliche Relationen denken, erinnert an die Art, wie wir psychische Beziehungen denken, erinnert an die Art, wie wir psychische Beziehungen denken. Anerkenne ich z. B. einen Gespenstergläubigen, nicht aber den Terminus, d. h. die Gespenster, von denen man zu sagen pflegt, sie seien als geglaubte. Das in modo recto Vorgestellte wird wahrhaft anerkannt, das in modo obliquo Vorgestellte unterliegt einer modifizierten Anerkennung. Ähnlich bei der Zeitrelation: das mit dem modus praesens Vorgestellte ist als Fundament der Beziehung modo recto wahrhaft anerkannt, das mit dem Präteritalmodus [das Vorbeigegangene - wp], modo obliquo Vorgestellte und Anerkannte ist modifiziert anerkannt, nicht als seiend, sondern als gewesen seiend. Das oblique Vorstellen also infiziert das darauf gebaute Anerkennen und bewirkt, daß wohl das Fundament der Beziehung, nicht aber der Terminus wahrhaft anerkannt wird. Dennoch ist aber der Terminus von jener Anerkennung in einer Weise mitbetroffen, die bewirkt, daß wir das Gewesensein und Zukünftigsein von einem schlechthinnigen Nichtsein recht wohl unterscheiden. Alles zeitliche Nacheinander denken wir somit in einer kontinuierlichen Mannigfaltigkeit von solchen Vorstellungsmodis, die, wenn auch anschaulich nur in beschränkter Ausdehnung gegeben, doch einer begrifflichen Erweiterung über jede Grenze hinaus fähig ist.

Diese Variation von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist, wie schon bemerkt, keinesfalls eine Variation der Objekte, da vielmehr jedes Ding, das wir zum Objekt haben, sowohl als vergangen, wie als gegenwärtig und zukünftig gedacht werden kann. Sie weist aber auf einen, uns in seinen spezifischen Differenzen nicht anschaulichen, dinglichen und substanziellen Wechsel hin, der sich gleichmäßig kontinuierlich bei allen Substanzen vollzieht, da jede Dauer eine Länge oder Größe und jede Größe Teile aufweist, die voneinander verschieden sind. Was die innere Wahrnehmung anlangt, so erfaßt sie mit Evidenz nur ein einziges Jetzt, die Gegenwart als Grenze, zu deren Natur es gehört, daß sie Grenze eines von ihr begrenzten Kontinuums ist, welches, als ein Früheres oder als ein Späteres, aber auch sowohl Früheres als Späteres gedacht werden kann. Trotz der Beschränkung der inneren Wahrnehmung auf den einen Punkt wird also in ihr nicht nur der Punkt in recto vorgestellt und anerkannt, sondern auch in obliquo eine Zeitstrecke, für welche der Punkt eine Grenze ist. Daß diese Zeitstrecke keine bestimmte Länge aufweist, paßt vollkommen zu der schon hervorgehobenen Tatsache, daß wir uns in der inneren Wahrnehmung nicht in individueller Bestimmtheit, sondern bloß allgemein als psychisch tätige Dinge erfassen.
    "Wir erfassen nicht mehr, als daß wir Substanzen sind, welche gewisse Denktätigkeiten als Akzidentien [Beiwerk, nicht zum Wesen einer Sache gehörend - wp] an sich haben und einem substanziellen zeitlichen Kontinuum angehören. Diese Zugehörigkeit ist aber nichts, was nicht ebenso von jeder anderen Substanz, ja, man kann es nachweisen, auch von der Gottheit gesagt werden kann." (Manuskript vom 13. Februar 1915).
Alles Zeitliche, das ist, ist also ein Gegenwärtiges, aber kein Isoliertes, vielmehr ist es fortbestehend oder endigend oder beginnend. Ohne Kontinualrelation zu Früherem oder Späterem kann es nicht sein, es gehört zum Begriff des Gegenwärtigen, daß es in einem beliebig kleinen aber immer endlichen Zusammenhang mit solchem steht, was von ihm mehr oder weniger absteht und stets nur in obliquo gedacht werden kann, während das gegenwärtige Element des zeitlich Fortbestehenden nur in recto vorstellbar ist.

19. Es ist selbstverständlich, daß schon der in diesen Betrachtungen verwertete Begriff der Kontinualrelation BRENTANO veranlassen mußte, sowohl den Begriff des Kontinuums, wie auch den der Relation auf das genaueste zu untersuchen. Ist ja die zeitliche Relation nur eine besondere oder vielmehr die fundamentalste Kontinualrelation. Auch diese Untersuchungen reichen weit zurück. Wie anregend in dieser Beziehung bereits BRENTANOs Wiener Vorlesungen gewirkt haben, das beweisen u. a. die Humestudien MEINONGs, dessen Relationstheorie von dem Gehörten mannigfachen Gebrauch macht. Man würde jedoch fehlgehen, sie etwa als Quelle für die Kenntnis des damaligen Standes von BRENTANOs Lehren benutzen zu wollen, da MEINONG es vermieden hat, seine eigenen Zutaten und Achweichungen vom übernommenen Lehrgut erkennbar zu unterscheiden. Der Hauptdifferenzpunkt der späteren Lehre BRENTANOs von der früheren hängt auch hier mit der Leugnung der Irrealen zusammen. Ehemals anerkannte er auch irreale Relationen. Ja, die wichtigsten Beispiele von Nicht-Realem wurde neben dem Bereich der Negativa und Privativ dem der Komparativa entnommen: Gleichheit, Ähnlichkeit, Verschiedenheit. - Nach seiner neuen Auffassung fällt alles Relative unter den Begriff des Realen. Das Denken des Relativen hat die schon erwähnte Eigentümlichkeit, daß, wer das Fundament eines Relativen in modo recto vorstellt, den Terminus in modo obliquo vorstellen muß.

Die gewöhnliche Meinung ist nun die, daß die relativen Attribute durchwegs die Existenz von etwas, worauf sie sich beziehen, verlangen; z. B. Cajus ist größer als Titus, so die Existenz von Cajus als des Größeren die von Titus als des Kleineren fordert. Hierbei ergibt sich aber die Sonderbarkeit, daß scheinbar das relative Attribut des Cajus verloren gehen kann, ohne daß sich das Subjekt (Cajus) in der fraglichen Beziehung irgendwie real ändert, z. B. indem Titus ihn überwächst und Cajus nur dadurch kleiner wird, ohne daß sich seine Größe verringert hat. Man muß sich jedoch hüten, Aussagen über solches, was ganz außerhalb des Subjekts liegt, für ein relatives Prädikat zu nehmen, statt für eine denominatio mere extrinseca [nur äußerliche Bezeichnung - wp]. Sage ich, die lebenden Menschen sind weniger als 1000 Milliarden, so anerkenne ich wohl die lebenden Menschen, nicht aber die 1000 Milliarden. Letzte stelle ich bloß vor und vergleiche das wirklich Anerkannte mit dem bloße Vorgestellten und mit dem Namen "1000 Milliarden" Assoziierten. Das relative Attribut ist hier ein reales Prädikat von gewisser Allgemeinheit, nicht wesentlich anders, als wenn ich etwas sagen würde: die lebenden Menschen sind ungefährt 4 Milliarden. Wenn ich dagegen sage: die Einwohner Prags sind weniger an Zahl als die Wiens, so habe ich zwei Aussagen gemacht, indem ich nicht nur die Einwohner Prags, sondern auch die Wiens anerkannt habe; der sprachliche Ausdruck verschmilzt hier ein relatives Attribut mit der Anerkennung von etwas, was ganz außerhalb des Subjekts liegt. - Schält man das, was relatives Attribut ist, rein heraus, so unterliegt man auch nicht mehr der Versuchung zu lehren, daß bei den komparativen Relationen ohne diesbezügliche Änderung des Subjektes das relative Attribut verloren gehen könnte (indem z. B. die Einwohnerzahl der einen Stadt wächst, während die andere unverändert bleibt und dennoch das relative Attribut dieser anderen unverminderten Menge sich scheinbar verändert hätte!) Mit dieser Versuchung aber entfällt auch der Schein, als ob es sich bei den relativen Bestimmungen um irreale Prädikate handelt, deren Verlust und Gewinn ohne reale Änderung des Subjekts man für möglich hielt. So wird dann die Meinung, daß jegliches Relativum außer der Existenz des Fundaments die Existenz des korrelativen Terminus verlangt, aufzugeben sein, was schon die Betrachtung der psychischen Relation und der Kontinualrelation des Gegenwärtigen zum Vergangenen und Zukünftigen nahe legt.

20. Was das Kontinuitätsproblem anlangt, so vertrat er gegenüber den modernen Versuchen der Mathematiker, den Begriff des Kontinuierlichen durch Konstruktion zu gewinnen, die Lehre, daß er durch Abstraktion aus der Anschauung gewonnen ist. Sowohl die äußere, wie auch die innere Erfahrung bietet uns nach BRENTANO - wir hörten es schon - unmittelbar Kontinualrelationen. Beim räumlichen Kontinuum können wir, das ist zuzugeben, die einzelnen Punkte und Grenzen gewiß nicht unterscheiden. Es gibt zweifellos Grenzen der Merklichkeit. Auch wer eine violette Fläche anschaut, vermag - wie schon die "Untersuchungen zur Sinnespsychologie" ausführten - die blauen und roten Elemente in ihrer örtlichen Position nicht voneinander zu unterscheiden; wir können aber mit aller Sicherheit die allgemeine Bestimmung vom Sinnesfeld aussagen, daß in ihm rot und blau enthalten ist, - den allgemeinen Charakter des Teilhabens am Roten und Blauen erfassen wir. So auch beim Kontinuum: wir erfassen mit aller Sicherheit, daß im Ganzen Grenzen enthalten sind und eine Koinzidenz von Grenzen stattfindet, sowenig wir auch die Punkte und Grenzen im Einzelnen unterscheiden (29). Im Gedanken des Punktes liegt die Zugehörigkeit zu einem Kontinuum von irgendwelcher bestimmten Ausdehnung beschlossen und diese kann beliebig klein, muß aber immer als endlich angenommen werden So klein auch immer, kann sie nicht unendlichmal in einem Kontinuum, dem als bestehenden der Punkt zugehörig erscheint, enthalten sind, und so kommen wir nie dazu, das Kontinuum wegen der in beliebiger Menge in ihm zu unterscheidenden Punkt als etwas, was aktuell unendlich viele Punkte unterscheiden läßt und als Gesamtheit von unendlich vielen Punkten, die sich zueinander addieren ließen, zu fassen. Man kommt wohl dazu, die Punkte wie dem Ganzen, so auch Teilen und ins Unendliche kleineren und noch kleineren Teilen des Kontinuums unmittelbar zugehörig zu denken. Einem unendlich kleinen Teil aber kann man ihn nicht zugehörig denken und keinem, zu dem er ausschließlich gehört, so daß eine Kreuzung der zugehörigen Sphären ganz unvermeidlich wird. Eine Addition bedarf aber der totalen Neuheit jedes einzelnen Addenden. (30) Wie das Zeitliche das Reale oder Ding als solches ist, so ist das Räumliche das Körperliche als solches. Weder das eine noch das andere kann ohne Kontinualrelation sein, oder, selbst ganz im allgemeinen, gedacht werden, wobei sowohl das Maß wie auch die Richtung der kontinualen Relation ganz unbestimmt bleiben kann.

BRENTANOs Kontinuitätstheorie fußt auf seiner Lehre von der Plerose [Grenzen koinzidieren - wp] und Teleiose [Vollkommenheit, Perfektion - wp] und der Unterscheidung primärer und sekundärer Kontinua. Es gibt multiple Kontinua, z. B. solche, wo das räumliche Kontinuum als das primäre, das Farbenkontinuum als das sekundäre erscheint. Im Falle einer Bewegung von Ort zu Ort läßt sich ein Doppelkontinuum nachweisen, bei welchem das zeitliche Kontinuum das primäre, der zeitlich konstante oder variierende Ort das sekundäre Kontinuum ist. Auch jede Linie stellt sich als ein Doppelkontinuum dar, in welcher die Mannigfaltigkeit der Ortsdifferenzen als das primäre, das Richtungskontinuum als das sekundäre zu bezeichnen ist. Was die Unterschiede der Plerose anlangt, so nennt BRENTANO so die Unterschiede der Fülle oder Vollkommenheit, in welcher z. B. ein Punkt, nach jeder der Richtungen, in welcher er Grenze sein kann, tatsächlich Grenze ist. So besteht ein Punkt im Innern einer Kugel in voller (indefinit vielseitiger) Plerose im Unterschied etwa zum Scheitelpunkt eines Kegels; oder einem Lebenden kommt im Zeitpunkt, in dem sein Leben beginnt oder endet die halbe Plerose, dagegen jedem dazwischen liegenden Zeitpunkt seines Lebens die ganze (hier zweiseitige) Plerose zu. Mit diesem Unterschied der Plerose hängt der Unterschied von innerer und äußerer Grenze zusammen, und alles, was sich hier ergibt, ist Folge der kontinualen Relativität und der wesentlichen Zugehörigkeit des Punktes zu einem Kontinuum: Bei einem eindimensionalen Kontinuum können die Grenzen nach den zwei entgegengesetzten Richtungen Grenzen sein und sind dann innere Grenzen. Sie können aber auch nach einer Richtung des Begrenzten innere sein, nach der andern äußere, dann sind es scheidende Grenzpunkte. Eigentlich nicht einer, sondern zwei in halber Plerose, welche koinzidieren. Damit sich z. B. zwei Körper in einem Punkt nicht bloß berühren, sondern miteinander zusammenhängen, muß der Punkt, in dem sie sich berühren, für beide ein innerer Punkt sein, während, wo es sich um bloße äußere Berührung handelt, eigentlich zwei Punkte von unvollkommener Plerose koinzidieren, von denen je einer einem der beiden sich berührenden Kontinua innerlich, der andere ihm äußerlich ist. Und wiederum kann es, wie im Falle des Lebensbeginnes oder Lebensendes, geschehen, daß eine Grenze einseitig begrenzt, daß aber ein anderer einseitig begrenzender Punkt, der mit ihm koinzidiert, nicht vorhanden ist. Nach dem Gesagten stellt sich also jede innere Grenze als eine Mehrheit dar. Ein Punkt in voller Plerose erscheint noch in Teile, ja vielleicht in indefinit viele Teile zerlegbar, und kann nach jedem von ihnen als individuell derselbe noch fortbestehen, wenn die andern entfallen sindn, nur für sich, während er vorher diesem Teil nach nicht für sich bestanden hat.

Was BRENTANO Teleiose ist nichts anderes als der Variationsgrad, der Grad - BRENTANO spricht auch von "Geschwindigkeit" bzw. einem Analogon der gewöhnlich so genannten Geschwindigkeit - des Wechsels. So zeigt der zeitliche Verlauf einen Wechsel, der als solcher ohne jedes Wachstum und ohne jede Minderung des Variationsgrades ist. Die zeitliche Variation ist nicht variabel. Auch das Örtliche als solches variiert ausnahmslos gleich. Diese Regelmäßigkeit oder Gleichmäßigkeit der Variation ist allen primären Kontinuis gemeinsam. Bei den sekundären Kontinuen dagegen kann der Verlauf bald schneller, bald langsamer sein. Das Rot als Anfang einer langsameren oder schnelleren Variation zum Blau hin, ann nicht in gleicher Vollkommenheit rot sein, und noch weniger so vollkommen rot, wie in dem Fall, wo es als Grenze zu einer vollkommen gleichmäßig roten Fläche gehört. Der Geometer faßt das Örtliche, den Körper, in Abstraktion von seinem Bestand in der Zeit und betrachtet ihn daher als primäres Kontinuum. Doch sofern dem Örtlichen auch die zeitliche Bestimmung zukommt, ist die örtliche Variation der zeitlichen gegenüber sekundär, indem die Zeit in ihrem Verlauf das primäre Kontinuum für die Ausdehnung des Körpers von Anfang bis zum Ende der Zeit als ruhenden oder mehr oder weniger bewegten abgibt.

Besonders bemerkenswert ist, daß somit das Räumliche, in Rücksicht darauf, daß es zeitlich ausgedehnt ist, am Charakter des sekundären Kontinuums teilhat, mag es bewegt oder ruhend gedacht werden. Wenn es ruht, so erscheint es nach seiner zeitlichen Dimension in voller Teleiose, wenn es sich bewegt, in unvollkommener, und bald in gleichmäßiger, bald in ungleichmäßiger nach Richtung und Geschwindigkeit und in Bezug auf einige oder alle seine Teile. In Bezug auf die Dimensionen, die dem Körperlichen in der Gegenwart zukommen, ist zu sagen, daß der Körper dreidimensional ausgedehnt ist, obwohl, weil zeitlich, einem zeitlich ausgedehnten Vierdimensionalen als dreidimensionale Grenze zugehörig. Nach jeder seiner drei Dimensionen hat er den Charakter eines primören Kontinuums.

21. Wir hörten schon, daß nach BRENTANO das Zeitliche nichts anderes ist, als das Reale oder Ding als solches. Es ist daher, ihm zufolge, weder richtig, daß es nur eine Zeit, genauer gesagt ein Zeitliches, gibt, noch richtig, daß alle Zeiten, genauer gesagt: alle Zeitlichen, nur einen Zeitpunkt als Grenze haben, nach der sie bestehen. Es gibt vielmehr so viele Zeiten, d. h. Zeitliche, wie es Dinge gibt. Jene Zeitlichen, die Körper sind, sind vierdimensionale Kontinua, welche einer dreidimensionalen Grenze nach bestehen. Diese Kontinua sind substantielle Kontinua. LAGRANGE hatte schon gesagt, daß der Mechaniker die Zeit wie eine vierte Dimension des Raumes betrachten kann. In neuester Zeit hat man mit der Behauptung, Raum und Zeit bildeten zusammen ein Vierdimensionales, viel Aufhebens gemacht. Das Wahre an der Sache ist dies: es gibt so viele Zeiten wie Zeitliche und wie ein Geist, der eine Substanz ohne Ausdehnung ist, eben darum eine unausgedehnte Grenze innerhalb des zeitlichen Kontinuums ist, dem er, insofern er wirklich ist, als Grenze angehört, so ist ein Körper, da er, soweit er in Wirklichkeit besteht, dreidimensioal ist, die dreidimensionale Grenze, nach welcher das zeitliche Kontinuum besteht, welchem der Körper als Grenze angehört. Es begreift sich nun, wrum für BRENTANO das Kontinuitäts- und Zeitproblem im Mittelpunkt seines Denkens gestanden ist: fällt doch der Begrif des Zeitlichen mit dem des Dings oder Realen, insofern es substanziell determiniert ist, zusammen! Jede Substanz besteht als Grenze eines eindimensionalen primären Kontinuums, welches keiner anderen seiner Grenzen nach ist und dem sie doch wahrhaft zugehört und von dessen sämtlichen anderen Grenzen sie als spätere oder frühere oder als spätere und frühere absteht.

Allen Kontinuis kommt gemeinsam zu, daß mit ihnen gedanklich ins Unendlich Teilungen vollzogen werden können, und indem man so zu kleineren und noch kleineren Teilen gelangt, findet man, daß das ganze Kontinuum und jeder Teil von ihm mit indefinit [undefinierbaren - wp] kleinen Teilen abschließt. Die Grenze verlangt wohl die Zugehörigkeit zu einem Kontinuum, aber nicht zu einem Kontinuum von einer bestimmten, wenn auch noch so klein angegebenen Größe. Daß dieses Kontinuum trotz seiner indefiniten Kleinheit ins Unendliche teilbar zu denken ist, folgt aus dem Gedanken des Kontinuums überhaupt, aber doch ist keine einzige zweite Grenze anzugeben, die zu seinem Bestand gefordert wäre. In dieser unbestimmten Kleinheit zum Bestand der Grenze erforderlich, bedingt esauch die Natur derselben: Jeder innere Grenzpunkt einer geraden Linie, eines Kreisbogens, einer Parabel und dgl. ist infolge der Zugehörigkeit zu einer Linie dieser Art eigentümlich anders charakterisiert und unter Umständen, z. B. bei einer ungleichmäßig gekrümmten Linie, vielleicht beträchtlich anders nach der einen und anderen Seite.

22. Wir können diese Andeutungen über BRENTANOs Kontinuitätslehre nicht verlassen, ohne einer besonders wichtigen Unterscheidung zu gedenken: der von kontinuierlich Vielem und von kontinuierlich Vielfachem. Jeder Körper ist ein Beispiel für das erstere; der Körper ist eine Einheit, die sich in eine Vielheit zerlegen läßt, ja es könnte nach der Vernichtung des einen Teils der andere ganz als das, was er war, fortbestehen. Man könnte ihn darum ebenso gut eine Zweiheit wie eine Einheit nennen, ja sagen, daß er eine beliebig große Zahl von Körpern ist. Jeder von den bei einer solchen Zerlegung unterschiedenen Teile hat mit dem anderen nichts gemein.

Anders der ein kontinuierlich Vieles Anschauende. Einer, der ein räumliche Ausgedachtes anschaut, ist nichts Einfaches, sondern etwas Vielfaches, insofern er nicht bloß einen, sondern viele Teile eines Kontinuums anschaut und fortfahren könnte, denen einen zu schauen, während er den andern zu schauen aufhört, aber er stellt sich, insofern er den einen Teil anschaut, nicht als etwas total anderes dar, insofern er den anderen Teil anschaut. Wir haben keine Zweiheit vor uns, wie in dem Fall, in dem es ein anderer wäre, welcher diesen, und ein anderer, welcher jenen Teil anschaut. Wir haben es nicht mit einer Addition von Einheiten zu tun, sondern mit der Vielfachheit eines Einheitlichen. Diese Bemerkung ist für die Psychologie von großer Tragweite. ARISTOTELES ist durch die Verkennung dieses Unterschiedes zu seiner halbmaterialistischen Seelenlehre gekommen, indem er aus der räumlichen Ausdehnung der Sinnesobjekte auf eine räumliche Ausdehnung der Sinnesobjekte auf eine räumliche Ausdehnung des Empfindenden schloß. Der Blick auf das, was bei dem, der im gleichen Moment ein zeitliches Kontinuum vorstellt, gegeben ist, hätte ihm zeigen können, daß nicht jeder Teil eines angeschauten Kontinuums von einem anderen Teil eines anschauenden Kontinuums angeschaut werden muß. Auch einem unausgedehnten Ding kann wie eine Vielfachheit verschiedener Akzidenzien auch ein kontinuierlich vielfacher Modus (Akzidenz) zukommen. Ja, mit der Einheit des Bewußtseins ist es schlechterdings unverträglich, die sinnlichen Tätigkeiten Teil für Teil verschiedenen Teilen eines Subjekts zukommen zu lassen und ebenso ist die Lehre von der teilweisen geistigen, teilweise körperlichen Seele mit der Einheit des Bewußtseins nicht zu vereinbaren. - Dagegen erklärt es BRENTANO nicht als unmittelbar durch die innere Erfahrung gesichert, daß das Subjekt unseres psychischen Lebens geistig ist; (31) das denkende Ding, als das wir uns wahrnehmen, könnte etwas körperlich Ausgedehntes sein, dem das Denken in der Weise zukäme, wie das Rote einer Fläche über die es gleichmäßig ausgebreitet ist, wo sich das Rot Punkt für Punkt wiederholt, so daß das ganze einheitliche Bewußtsein jedem Teil und Punkt des Körperlichen wieder und wieder zukommen würde. Die Zerfällungserscheinungen bei niederen Tieren verleihen der Hypothese einer solchen indefiniten Vielheit von punktuellen Subjekten zunächst einen gewissen Grad an Wahrscheinlichkeit und es bedarf besonderer Überlegungen und einer sorgfältigen Berücksichtigung physiologischer Forschungen, um die Frage hinsichtlich des hochdifferenzierteren menschlichen und höheren tierischen Gehirns zu verneinen. Spricht alles dafür, daß bei unserem Denken verschiedene Teile des Gehirns unserem Denken verschiedene Dienste leisten, so ist darin ein Beweis dafür zu erblicken, daß ihr Dienst nicht darin besteht, daß sie selbst das Subjekt des Denkens sind, sondern es in einem anderen unkörperlichen Subjekt bedingen. - Es hängt mit der Täuschung über die individuelle Unbestimmtheit des innerlich Wahrgenommenen zusammen, daß manche sich den Beweis der Unkörperlichkeit als etwas ganz Leichtes vorstellen, so CICERO, wenn er darauf hinwies, daß kein Urteile rund oder viereckig ist oder PASCAL, wenn er fragt: Was denkt in uns, der Daumen oder irgendein anderes Glied? - Erst nachdem die Frage nach der Unkörperlichkeit des seelischen Subjekts beantwortet ist, wird die Frage nach deren Unzerstörbarkeit und, von dieser gesondert, die nach dem Wiedererwachen der seelischen Tätigkeit, die mit dem Tod erlischt, in Angriff genommen. Die daran geknüpften Hoffnungen auf einen unendlichen Fortschritt können freilich nur im Zusammenhang mit der Gottes- und Optimismushypothese zur Erörterung gelangen.

23. Daß der Substanzbegriff, mit dem wir im Vorstehenden bereits wiederholt operiert haben, nach BRENTANO aus der Erfahrung geschöpft ist, bedarf keiner weiteren Auseinandersetzung. Es ist kein anderer als der des letzten Subjekts, wie ihn sowohl die äußere wie auch die innere Erfahrung bietet. Substanz ist, was kein weiteres Subjekt hat. Und das Verhältnis von Substanz und Akzidenz ist ein wahres Verhältnis von Teil und Ganzem. Die Substanz ist im Akzidenz als Teil enthalten. Beachtenswert ist hierbei, daß dieser Teil sich zum Ganzen ohne Addition eines zweiten Teils erweitert! Danach wird es auch klar, wie man zwischen substanzieller und akzidenteller Bestimmung zu unterscheiden hat: zu den substanziellen Bestimmungen gehört jede, ohne welche eine Substanz schlechterdings nicht sein könnte - die also nicht ohne jeden Ersatz entfallen kann. Und so ist es dann, so gewiß eine körperliche Substanz nicht ohne Ausdehnung, Lokalisation und Gestalt sein kann, sicher, daß diese Bestimmungen - zu denen noch die zeitliche kommt - substanzielle Bestimmungen des Körperlichen sind. Die substanziellen Bestimmungen, die zur Natur des Körpers gehören, sind durch die Raum- Zeitbestimmungen vollständig erschöpft. Betrachten wir das phänomenal Gegebene, so sind also Farben, Töne, Spürqualitäten (das Farbige, das Tönende, kurz das Qualitative als solches) Akzidentien, dagegen sind die Raumbestimmungen substanziell. In der transzendenten wirklichen Körperwelt, bei den körperlichen Dingen, würden sich danach die physikalischen und chemischen Eigenschaften usw. sämtlich als Akzidentien erweisen.

Was die innere Erfahrung anlangt, so treten uns bei jeglichem Bewußtsein akzidentelle Bestimmungen entgegen: sie können ohne Ersatz entfallen. Wenn einer, der sieht und hört, aufhört zu sehen, so verliert er dadurch nicht alle Individuation, er wird nicht zu einem Universale, wie es geschehen müßte, wenn das Sehen zur logischen Bestimmung des Individuums gehören würde. Er bleibt nach diesem Entfall, als Hörender individuell derselbe. Und ähnlich ist es umgekehrt. Dabei ist es aber doch offenbar, daß dieser Sehende zu diesem Hörenden in einer anderen Beziehung steht, als zu einem anderen Hörenden, und dieser Unterschied besteht darin, daß dort der Sehende und Hörende nicht ganz verschieden, sondern nur teilweise verschiedene Reale sind, - sie sind nicht eigentlich zwei Akzidentien, sondern eine zweifache Akzidenz - während man es im anderen Fall mit zwei total verschiedenen Realen zu tun hat. Der den ersteren gemeinsame Teil ist nun aber das Subjekt, d. h. die Substanz.

24. BRENTANO ist der Überzeugung, daß alle physikalischen und chemischen Erfahrungen sich ebenso leicht unter der Hypothese begreifen lassen, daß es sich bei all dem um bloße akzidentelle Verhältnisse und Umwandlungen handelt. In einer kleinen Abhandlung zur LORENZ-EINSTEIN-Frage weist BRENTANO auch auf die Vorteile hin, welche sich aus dieser Auffassung ergeben. Setzte seinerzeit Lord KELVIN an die Stelle von Atomen Wirbel, die in einem vollkommenem Fluidum stattfinden, so denkt BRENTANO alle ponderable [wägbare - wp] Materie, Atome und die Elektronen als Modi (Akzidentien, Qualitäten) einer einheitlichen, ruhenden Substanz, die an die Stelle des Äthers zu treten hätte. Diese Modi oder Akzidentien (Eigenschaften), die in sehr kleine Parzellen geteilt gedacht werden können, wären also als dasjenige anzusehen, was man bisher als Substanz der körperlichen Materie betrachtet hat, während sie nunmehr an der zugrundeliegenden Substanz haftend, von einem Teil auf einen anderen übergingen und selbst wieder Eigenschaften unterliegen würden (Akzidentien von Akzidentien). Auf ihren Stellenwechsel und auf ihr ruhiges Beharren bezögen sich die Gesetze der Mechanik. Es stände nichts im Wege, zwischen ihnen an der Substanz Stellen anzunehmen, wo sie von jeder Akzidenz frei wäre. Auch Undurchdringlichkeit käme ihnen zu. Sie wäre als Inkompatibilität [nicht zueinander passend - wp] verschiedener Qualitäten an der gleichen Stelle der Substanz zu fassen usw. Lichtstrahlen und elektrische Strahlen wären also gleichfalls als Modi zu begreifen, die von einem Teil des Äthers - wenn man diese ruhende Substanz so nennen will - zum anderen sich fortpflanzten und auch von anderen Strahlen, welche die Gravitation erklären sollen, würde dies gelten. Die Substanz, die als die einzige zurückbliebe, wäre von den mechanischen Gesetzen gar nicht getroffen.
    "Wenn ein System von Qualitäten in seinem Schwerpunkt ruht, oder sich geradlinig fortbewegt, so ändert der Umstand, daß die Substanz in beiden Fällen gleichmäßig ruht, nichts, was eine Veränderung des relativen Verlaufs der qualitativen Verschiebungen an ihr zur Folge haben könnte. Sie selbst zählt ja nicht mit unter die qualitativen Komponenten, welche allein das sind, wofür die physikalischen Gesetze und insbesindere die Gesetze der rationalen Mechanik gleten."
Aber noch andere eminentere Vorteile verspricht sich BRENTANO von dieser Auffassung: die Dispersion [Zerstreuung - wp] der Energie würde infolge der Begrenzung der Qualitäten zugrundeliegenden Substanz vermieden, die Gravitation könnte auf Stöße zurückgeführt werden, die Reversion der Entropie wäre denkbar, während die Entropie sonst, wenn nicht in anderer Weise doch in einer fortschreitenden Dispersion unvermeidlich wäre, ohne fortwährende neue transzendente Eingriff an der Weltgrenze.

25. Die neuen Wege seines Forschens mußten BRENTANO zu einer Kategorienlehre führen, die der aristotelischen in fundamentalen Punkten widerspricht. Nachdem er erklärt hatte, daß alles, was wir zum Objekt des Nachdenkens machen, in gleichem Sinne ein Reales zu nennen ist, entfällt die Möglichkeit, mit ARISTOTELES von Kategorien, als höchsten Gattungen des Realen zu sprechen, deren jede uns ein Reales in einem anderen Sinn zeigt (32). Dagegen bleibt wahr, daß das, was von einer einfachen Substanz ausgesagt wird (was ihr als Prädikat beigelegt wird), nicht ales in demselben Verhältnis zu ihr steht. Das eine Mal ist es selbst eine substanzielle Bestimmung und bezeichnet ein Realies, welches mit der einfachen Substanz, von der es prädiziert wird, identisch ist. Das andere Mal bezeichnet es eine Akzidenz, welche die einfache Substanz als Teil in sich beschließt. Dieses Insich-Beschließen ist - wie wir oben sahen - ein anderes als bei einem Kollektiv von Substanzen, welches eine einfache als Element enthält. Wir sagen, es enthält die Akzidenz die Substanz als sein Subjekt. Aber auch zwischen Akzidenz und Akzidenz kann in Bezug auf die Weise, wie sie die Substanz als Teil enthalten, noch ein Unterschied bestehen und ein solcher scheint da anzunehmen, wo wir es mit einer Beschaffenheit (Qualität) und wo wir es mit einer Passion zu tun haben, da bei der letzteren - neben dem Einfluß des Subjekts zur Erhaltung der Akzidenz - eine fortwährende Abhängigkeit zeigt von dem, was wirkend die Akzidenz erhält. Die Beschaffenheit, z. B. eine tugendhafte Eigenschaft, hört durch Umwandlung von Akzidenz zu Akzidenz auf, die Passion nicht. Selbst wenn Passion auf Passion folgt, entsteht die Nachfolge nicht durch Umwandlung aus der vorhergehenden, diese hat nichts zu ihrem Entstehen beigetragen, wie z. B. bei einer Tonfolge das nachfolgende Hören durch Reizung der Gehörnerven geradeso eingetreten wäre, wenn vorher Stille geherrscht hätte. Von den Relationen haben wir schon gesagt, daß sie nach BRENTANO reale und zwar teils substanzielle, teils akzidentelle Bestimmungen sind. Auch daß er - im Gegensatz zu ARISTOTELES - Akzidentien von Akzidentien lehrt, ist schon bemerkt worden. Auch die Leugnung des aristotelischen Grundsatzes, es könne eine räumlich ausgedehnte Substanz keine Teile haben, die in Wirklichkeit etwas Reales sind, haben wir schon hervorgehoben. (33)

Unter die Kategorien fallen nach BRENTANO alle Gegenstände unserer Anschauung, mag dieselbe eine äußere, auch Nicht-Psychisches bezügliche oder eine auf Psychisches bezügliche sein, wozu außer den inneren Anschauungen auch die Gedächtnisanschauungen und andere primäre, welche dieselben Elemente wie die inneren Anschauungen aufweisen, gehören. - Und in den inneren und äußeren Anschauungen sind die Elemente gegeben, welche das ganze Material unserer Denkobjekte ausmachen. Daher irrt KANT, wenn er dazu noch gewisse andere Elemente rechnet,, welche nicht den Anschauungen entnommen sind, wie die sogenannten Stammbegriffe des reinen Verstandes. Vielfach handelt es sich dabei um nichts als Ausdrücke für entia rationis [Gedankendinge - wp]. Ja, man kann sagen, bei allen ist es so, insofern er sich abstrakter Ausdrücke, wie z. B. Subsistenz und Inhärenz und nicht Substanz und Akzidenz bedient. Wenn es einmal festgestellt ist, daß alle Elemente unserer Denkgegenstände aus Anschauungen entnommen sind, so kann an eine vollständige Übersicht über dieselben gedacht werden, wie sie schon LOCKE und LEIBNIZ verdienstvoll in Angriff genommen haben. Daß man BRENTANO aus dieser seiner Lehre vom Ursprung aller unserer Begriffe den Vorwurf eines methodischen Fehlers macht (Psychologismus) ist merkwürdig genug, um hier noch einmal angemerkt zu werden.

26. Zur Klärung der herrschenden Meinung über BRENTANOs "Psychologismus" wird die Veröffentlichung seiner Axiomatik beitragen. Auch hier liegen eine ganze Reihe von Entwürfen und Redaktionen vor. Die Natur der apodiktischen ("apriorischen") Erkenntnis, die man eine unmittelbare ex terminis [außerhalb der Grenzen - wp] nennt, wird eingehender untersucht, als dies bisher in der Psychologie und Erkenntnistheorie der Fall war.

Seiner Lehre getreu macht BRENTANO darauf aufmerksam, daß, wer glaubt, ein Axiom zum Objekt haben kann. "Sätze ansich", "Gesetze", "ewige Wahrheiten" sind keine Realitäten und sind überhaupt nicht. Jeder axiomatisch Urteilende urteilt, sofern er dies tut, negativ, apodiktisch, evident und zugleich aufgrund evidenter innerer Wahrnehmung gewisser Vorstellungen von zusammengesetzten Objekten. So z. B. muß derjenige, welcher das Kontraktionsgesetzt urteilt, wahrnehmen, daß er einen kontradiktorisch richtig Urteilenden vorstellt und dies führt ihn dazu, ihn apodiktisch zu verwerfen. Daß uns irgendeine affirmative apodiktische Erkenntnis zuteil wird, leugnet BRENTANO. Lange verweilt er bei der Frage, ob alle Axiome den Charakter eines Kontradiktionsgesetzes tragen, oder ob es auch andere Typen gibt? Er neigte schließlich ganz entschieden zur Verneinung dieser Frage, d. h. er glaubte, daß es sich in allen Fällen, wo wir ein allgemeines Prinzip a priori aufstellen können, um nichts als eine Vereinigung von unterscheidender Analyse und Applikation des Kontradiktionsgesetzes handelt. Von diesem Gesichtspunkt aus prüft er auch MARTY Einteilung in Axiome des Ausschlusses, der notwendigen Verknüpfung und der Äquivalenz, wie sie in dessen Buch über Raum und Zeit vorgetragen wird. Aus den wiederholten Formulierungen des Kontradiktionsgesetzes sei eine der letzten hier angeführt:
    "Es ist unmöglich, daß einer, der etwas leugnet, was ein anderer als richtig anerkennt, es richtig leugnet, sowie auch, daß einer, der etwas anerkennt, was ein anderer leugnet, es richtig anerkennt, vorausgesetzt, daß beide es mit demselben Modus des Vorstellens und mit demselben Modus des Urteilens beurteilen."
Analog formuliert BRENTANO ein Gesetz des Antagonismus (Widerstreites) auf dem Gebiet der Gemütstätigkeiten:
    "Es ist unmöglich, daß einer, der etwas liebt, was ein anderer richtig haßt, es richtig liebt, sowie auch, daß einer, der etwas haßt, was ein anderer richtig liebt, es richtig haßt, vorausgesetzt, daß beide es mit demselben Modus des Vorstellens und demselben Modus der Gemütstätigkeit zum Objekt haben."
Aus diesen beiden Sätzen erhellt sich, daß nach BRENTANO sowohl die Allgemeingültigkeit, die "Objektivität" unserer Erkenntnisse, als auch unserer in sich gerechtfertigten Wertungen a priori gesichert ist.

In einer Reihe von Aufsätzen gibt BRENTANO eine Zusammenstellung der wichtigsten Axiome und apriorischen Thesen (Konklusionen aus lauter Axiomen). Es finden sich unter ihnen sowohl solche, die das Physische, als auch solche, die das Psychische betreffen, in großer Menge. Nicht wenige von ihnen wurden bisher niemals formuliert. Da BRENTANO Sätze wie:
    "Kein Vorstellen ohne Temporalmodus, keine Gemütsbeziehung und kein Urteilen ohne Vorstellen, kein Urteil ohne Qualität, keine Gemütsbeziehung ohne Lieben oder Hassen, kein primäres Bewußtsein ohne sekundäres, nichts kann zum Objekt gemacht werden, was nicht real ist, keine Liebe zur Erkenntnis, die nicht gerechtfertigt wäre, keine richtige Freude, die nicht zu lieben gerechtfertigt wäre, keine ex terminis evidentes Erkennen, das nicht negativ wäre usw. usw."
als Axiome erklärt, so ergibt sich, daß er nunmehr keinesfalls die "deskriptive Psychologie" (Psychgnosie) in dem Sinne für empirisch gehalten hat, daß alle ihre Gesetze durch Induktion gefunden würden. Die Erkenntnis solcher Gesetze entspringt vielmehr aus Begriffen, denen allerdings die Empirie der betreffenden Erlebnisse zugrunde liegt. Hierbei aber können die Methoden der induktiven Forschung, z. B. das Experimentieren, die ersprießlichsten Dienste leisten, schon wenn es gilt die konfuse Perzeptin zur distinkten Apperzeption zu erheben, was besonders auf dem Gebiet der Sinnesphysiologie der Fall ist. Ohne weiteres ist ferner aus dem Gesagten zu ersehen, daß BRENTANO auch eine Wertaxiomatik kennt, d. h. eine Reihe von apodiktischen unmittelbaren Erkenntnissen über unmittelbar als gerechtfertigt (richtig, normgebend) charakterisierte Wertungen.

Wie die arithmetischen so erklärt BRENTANO auch die geometrischen Axiome für apriorische Sätze, die den Charakter eines Kontradiktionsgesetzes tragen. BRENTANO war der Ansicht, daß aus der Vorstellung von etwas Räumlichen, wie es jedem als vorgestellt gegeben ist, der auch nur die Vorstellung einer räumlichen Grenze, eines räumlichen Punktes hat, analytisch die sämtlichen Axiome und Postulate gewonnen werden können. Die Lehre KANTs wird hierbei im einzelnen berücksichtigt und kritisiert. Was die Kontinuitätsaxiomatik im allgemeinen anlangt, so spricht BRENTANO aufgrund seiner Untersuchungen und Begriffsbestimmungen auch hier eine ganze Reihe von Axiomen bzw. apriorischer Thesen aus, wie z. B.: "Kein Teil eines Kontinuums, welches ein einheitliches Ding ist, ist ein Ding für sich. Keine Grenze ist ein Ding für sich, auch dann nicht, wenn das, dem es als Grenze angehört, nur dieser Grenze nach existiert. Jede Grenze hat eine vollkommene oder unvollkommene Plerose. Jede Grenze hat eine Teleiose. Jedes primäre Kontinuum hat eine unvollkommene, aber konstante Teleiose; in jeder Gattung sekundärer Kontinua ist eine vollkommene Teleiose denkbar. Alle Körper sind undurchdringlich. Zwischen zwei Punkten sind nur einfache Punkte möglich. Zwischen zwei Qualitäten wie rot und blau, warm und kalt, wie auch zwischen solchen heterogenen [ungleichartigen - wp] Qualitäten ist keine mittlere Qualität möglich. Von einem Punkt in der Richtung, in welcher ein anderer von ihm absteht, noch weitere in beliebig größerer Entfernung abstehen. Keine räumliche Ausdehnung ohne Differenzierung der Teile als Dinge, die nicht für sich sind. Es kann nichts ohne irgendeine reale Differenzierung fortdauern, selbst den Fall vollkommener Ruhe nicht ausgenommen. Es könnte sonst von einer zeitlichen Länge nicht die Rede sein usw. usw.

27. Wiederholt haben wir BRENTANOs Wertaxiomatik gestreift. es ist die Schrift "Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis" aus dem Jahr 1889, auf die hier alles zurückgeht. Obgleich dieses kleine Buch bis heute keine zweite Auflage aufzuweisen hat, sind doch mächtige Impulse von ihm ausgegangen. Aus meinem Sammelreferat über die "Grundlagen der Werttheorie" in den "Jahrbüchern der Philosophie" 1914 ist der bedeutende Einfluß von BRENTANOs Einfluß auf die moderne Weltliteratur zu ersehen. Auch diese Publikation, wie die meisten BRENTANOs, war eine Gelegenheitsschrift: In einem kurzen Vortrag nebst einigen Anmerkungen hat er hier die Ergebnisses jahrelangen Nachdenkens zusammengefaßt, wie er selbst sagt "als das gereifteste Erzeugnis" unter allem, was er bisher veröffentlicht hatte. In diesem Rahmen konnte nur das Prinzipiellste dargeboten werden, der Ausbau, die Abwehr von Einwendungen, die Ableitung der sekundären ethischen Normen und der Rechtspflichten war darin eben nur angedeutet. Spätere Forschungen BRENTANOs haben den Kern der Untersuchung unberührt gelassen. Eine Korrektur der Lehre von der als richtig charakterisierten Bevorzugung ist in der biographischen Skizze, die MARTY der englischen Übersetzung des Buches beigegeben hat, mitgeteilt. MARTYs "Gesammelte Schriften", Bd. I, Abteilung 1, Seite 100 ist sie verdeutscht enthalten: um zur Erkenntnis der Vorzüglichkeit der Summe gegenüber dem Summanden zu gelangen, muß, was BRENTANO anfangs verkannte, die Erfahrung einer als richtig charakterisierten Bevorzugung uns den Weg erschließen. Ebenso hat BRENTANO erst nach der Veröffentlichung des "Ursprungs sittlicher Erkenntnis" ausdrücklich hervorgehoben, daß die als richtig charakterisierten Akte von Liebe und Haß denjenigen unter den als richtig charakterisierten unmittelbaren Urteilsakten vergleichbar sind, die als Vernunftwahrheiten apodiktisch [unmumstößlich - wp] einleuchten. Nicht die unmittelbar evidenten Wahrnehmungen, sondern nur die Axiome sind aus den Begriffen einleuchtend, werden somit von den Begriffen (d. h. von den die Begriffe Denkenden als solchen) bewirkt, und ähnlich wie sie entspringen die unmittelbar als richtig charakterisierten Gemütsakte aus den Begriffen. Nur weil es sich um Akte handelt, die durch die Vorstellungen motiviert sind, haben auch die Prinzipien ethischer Erkenntnis apodiktischen Charakter. Eine Liebe, die zu einem psychischen Akt gehörig, auf ihn als sekundäres Objekt gerichtet ist, ist nie als richtig charakterisiert. Ihre Richtigkeit ist nur durch ihre Übereinstimmung mit primären Beziehungen erkennbar. Aus dem Begriff des Erkennenden, des lustvoll Affizierten, des in rechter Weise Fühlenden oder Wollenden also, entspringt die als richtig charakterisierte Liebe, aus den Begriffen des Schmerzempfindenden, des intellektuell Irrenden und des emotional unrichtig sich Verhaltenden entspringt das in sich berechtigte Hassen dieser seelischen Tätigkeiten. Und ganz so ist zu sagen, daß die berechtigte Bevorzugung des Erkennenden vor dem Irrenden, der richtigen Wertung vor der unrichtigen, der größeren Gütersumme vor der kleineren - bzw., wo es sich um "Übel" handelt, umgekehrt - durch die diesbezüglichen Begriffe motiviert wird.

Die Enthüllung der "Werte", "Wertverhalte", "Güter", "Übel" und dgl. als praktische Fiktionen ändert nichts an dem Grundgedanken, sondern nur an deren Formulierung. Freilich tritt hier nun klar hervor, daß es sich bei Wert und Unwert nicht um Eigenschaften oder relative Bestimmungen der Dinge handelt, ebensowenig wie bei Existenz (dem "Bejaht- oder Anerkannt-zu-werden-verdienen"). Ich erkenne ein Ding als gut oder wertvoll, ich erkenne den Wert eines Dings, heißt nichts anderes, als ich erfasse meine Wertung dieses Dings als: wie es sein soll, als richtig oder gerechtfertigt. Sage ich allgemein, ein Ding ist gut, so will ich sagen, es sei unmöglich, daß ein Liebender (Wertender) es unrichtig wertet. Es handelt sich also um apodiktische, allgemein gültige Erkenntnisse, zu denen ich aufgrund von Begriffen gelange, die aus der Erfahrung gewisser als berechtigt charakterisierter Wertungen und Bevorzugungen geschöpft sind. So wird z. B. die Begriffskombination: "Erkenntnis-Liebener, der unrichtig wertet" ex terminis verworfen. Ein rein intellektuelles Wesen könnte zu diesen Axiomen nie gelangen. - Mit den Worten "als richtig charakterisiert" wollte BRENTANO nichts anderes zum Ausdruck bringen, als daß es sich um solche Akte handelt, die als ideal, normgebend, "wie sie sein sollen", keiner Rechtfertigung bedürfen, vielmehr Kriterium, Maßstab für die anderen sind. Gleichwie ein Urteil als irrig erkannt wird, wenn es einem einsichtigen, d. h. normativen, widerspricht, so wird eine Gemütstätigkeit als verkehrt oder unrichtig erkannt, wenn sie einer "als richtig charakterisierten", d. h. normativen, entgegengesetzt ist, also liebt, was jene haßt, bevorzugt, was jene nachsetzt und umgekehrt. (34)

28. Unschwer ist es nun zu erkennen, wie man von dieser Grundlage zum höchsten praktischen Prinzip aufsteigt. Es bedarf hierzu nur noch der Erfahrung von der Zweckwirksamkeit des eigenen Verlangens - der Macht, das Gewünschte zu verwirklichen - nun erkennen zu lassen, daß unmöglich einer, der das Vorzüglichste unter dem Erreichbaren (den größten Hoffnungswert) wählt, unrichtig wählt. - Wer sich also das Erreichbar-Beste zum Ziel setzt, entspricht dem wahren kategorischen Imperativ - oder besser gesagt: dem höchsten apodiktischen praktischen Prinzip.

In die Einzelheiten der ethischen und politischen Vorlesungen und Doktrinen BRENTANOs kann hier unmöglich eingegangen werden. In der inneren Politik bekundete BRENTANO die entschiedene Neigung, die Aufgabe des Staates auf den Rechtsschutz im engsten Sinne dieses Wortes einzuschränken und alles andere der freien föderativen Vereinigung der Staatsbürger zu überlassen; so insbesondere auch die Schule. Ihm zufolge sollten andere Organisationen entstehen, die sich mit der staatlichen kreuzend, die höchsten Menschheitsaufgaben vollkommener erfüllen können. Einige seiner politischen Gedanken sind in seiner - leider zu wenig bekannten - Entgegnung auf ADOLF EXNERs Rektoratsrede "Über politische Bildung" zu finden (35). Auch in seinen verschiedenen Schriften zur eherechtlichen Frage in Österreich. Selbst in dem Buch "Aristoteles und seine Weltanschauung" verrät sich seine Stellungnahme zu den wichtisten Staatsproblemen. Es braucht nicht hervorgehoben zu werden, daß er mit PLATO und ARISTOTELES nur einerlei ethisches Maß für den Einzelnen wie für den Staat gelten ließ, und den Grundsatz "right or wrong" - my country" verabscheute. Das Ethik-Kolleg BRENTANOs - mir nur zum Teil aus unvollkommenen Nachschriften bekannt - ist mit großer Liebe und Sorgfalt ausgearbeitet. Er hat es in Wien oft, insbesondere auch für Juristen, gelesen und so enthält es dann auch ausführliche rechtsphilosophische Kapitel. Auch das Gottesproblem pflegte er diesen Vorlesungen an- und einzugliedern. Denn obgleich er, wie wohl keiner vor ihm, die Grundlagen einer natürlichen, von jeder Autorität freien Moral sichergestellt hat, so erkannte er doch, - wie ja auch SCHOPENHAUER - daß die metaphysische Grundüberzeugung für die praktische Frage der Lebensbejahung oder -verneinung von ausschlaggebender Bedeutung ist. Ob das menschliche Leben Teil eines sinnlosen Geschehens ist, oder ob es mit dem Ganzen der Weltentwicklung einem Prozeß angehört, an dessen unendlichen Aufstieg es teilzunehmen determiniert ist, kann nicht ohne Einfluß auf die Gemüts- und Willensrichtung bleiben.

29. Auch ihrem theoretischen Wert nach ist aber Metaphysik für BRENTANO die höchstehende Wissenschaft; ja sie ist "Weisheit", sofern sie die erklärende Wissenschaft kat exochen [schlechthin - wp] ist. Dies aber ist sie, sofern sie Erkenntnis des unmittelbar Notwendigen ist und eine Erklärung aller Dinge durch die Rückführung auf ihre erste Ursache. Gar manches, was zur Grundlegung einer Metaphysik im Sinne BRENTANOs gestört war, ist im Vorstehenden zur Sprache gekommen. Die Gefahr, durch die Kürze und Unvollständigkeit Mißverständliches zu sagen, begleitete mich hierbei auf Schritt und Tritt. Sie ist aber nirgends bedrohlicher als hier, wo die Schwierigkeiten des Problems sich mit eingewurzelten Vorurteilen verbünden. Ich meine das Kausalitätsgesetz und das Gesetz der universellen Notwendigkeit. Diese Fragen waren es hauptsächlich, welche die Zweifel HUMEs geweckt und diese wiederum, die den dogmatischen Schlummer KANTs gestört haben. Wer aber die Art und Weise, in welcher dessen Kritik dem Skeptizismus die Spitze bot, mißbilligt, ist bei der ungemessenen Autorität, die KANT genießt, genötigt, Lehrsatz für Lehrsatz zu untersuchen und zu widerlegen. BRENTANO hat dies wiederholt getan; in seiner Wiener Zeit und früher und in seinem letzten Lebensjahr, wo er manche Partien der "Kritik" mit fortlaufenden Randglossen begleitete. Seine ablehnende Haltung blieb ungemindet. Manches hat er mit gewohnter Prägnanz und Kürze da und dort bereits ausgesprochen. Ich könnte auf die Psychologie, auf den "Ursprung sittlicher Erkenntnis", insbesondere auf die "vier Phasen der Philosophie" verweisen. - Dort hat BRENTANO KANTs "kopernikanische Wendung", wonach nicht unsere Erkenntnis nach den Dingen, sondern die Dinge sich nach unserer Erkenntnis richten, "als eine widernatürlich kecke Behauptung" bezeichnet. Erwägt man, daß diese "Dinge", sofern sie nach KANT Gegenstände unserer Erfahrung, also unsere "Phänomene" sind, bloß phänomenale oder intentionale, mentale Existenz haben, das heißt, wie wir oben sahen, überhaupt nicht existiieren und das einzig dabei Existierende wir selbst als diese Phänomene-Habende sind, so erweist sich jeder weitere Schritt auf dem Boden des kantischen Phänomenalismus als ein Fehlschritt. In BRENTANOs Lehre von Raum und Zeit ist eine immanente Kritik der kantischen enthalten; sie kommt ihrer völligen Verwerfung gleich. Wenn sich die "synthetischen Urteile a priori" auf die Dinge oder Gegenstände beziehen sollen, sofern sie Phänomene von uns sind, so beziehen sie sich auf etwas, dem in keinem Sinn des Wortes Realität zukommt. Abgesehen davon sind es Urteile, denen man nach KANTs ausdrücklicher Lehre (36) ihre Richtigkeit nicht ansieht. Sie sind nicht evident. Sind sie aber dies nicht, so sind sie, wie schon ÜBERWEG sagte, "Vorurteile", die sich als blind und einsichtslos den Namen Erkenntnis ohne Berechtigung anmaßen. In den "vier Phasen" bemerkte BRENTANO:
    "Sind die synthetischen Urteile a priori etwas, was wir blind glauben müssen, so ist das Dasein Gottes, so ist die Unsterblichkeit der Seele, so ist die Freiheit des Willens" etwas, was wir blind glauben sollen. Sie sind Postulate der praktischen Vernunft; Einsicht in ihre Wahrheit besitzen wir keine. Aber wenn Nikolaus Cusanus seinem Intellectus ein unbegreifliches Begreifen zuschrieb, so, scheint es mir, können wir sagen, daß Kant seiner praktischen Vernunft ein unglaubliches Glauben zumutet. Alles was bei ihm von Mitteln gegen den Skeptizismus in Anwendung gebracht wird, ist so widernatürlich verschroben, wie es jedesmal in der Zeit der Reation gegen das zweite Stadium des Verfalles zu sein pflegt."
Das Erkenntnissurrogat eines logisch nicht zu rechtfertigenden Glaubens anzunehmen, ist einer Philosophie, die Wissenschaft sein will, im Innersten zuwider, und BRENTANO hatte sich nicht von dem Offenbarungsglauben losgesagt, um sich einem Postulatenglauben zu verschreiben. Das mystische Verfallsstadium der deutschen Philosophie hebt mit den Spekulationen KANTs an; denn nicht nur die Postulate der praktischen Vernunft sind keine Erkenntnisquellen, auch die synthetischen Urteile a priori, als einsichtslose Urteile, können es nicht sein. Wenn WINDELBAND in einer Anzeige der eben genannten kleinen Schrift erklärt, jedes Wort zu BRENTANOs Charakteristik des transzendentalen Idealismus sei überflüssig und Ausrufungszeichen an die Stelle der Widerlegung setzt, so legt er wohl für die festwurzelnde Autorität der kantischen Lehre, nicht aber für ihre Richtigkeit Zeugnis ab. BRENTANO erklärt schon die Unterscheidung von Erweiterungs- und Erläuterungsurteilen für verfehlt. Denn jede Erläuterung ist eine Verdeutlichung von etwas Undeutlichem; so verdeutlicht z. B. die Klanganalyse von HELMHOLTZ das Wesen des Vokals a und durch eine solche Analyse wird unsere Erkenntnis erweitert. Wichtiger aber ist, daß KANT ganz mit Unrecht annahm, daß, wo Subjekt und Prädikat identisch sind, der Satz a priori als wahr einleuchtet. Nimmt man "A = A" affirmativ [bejahend - wp], so leuchtet er nicht von vornherein ein. Er ist von der Existenz von A und nicht von einem bloßen Begriff von A bedingt. Der Satz "Ein Pferd ist ein Pferd" schließt den Satz ein "Es gibt ein Pferd" - und dieser Satz ist - nach KANT selbst - synthetisch (37). Nimmt man aber den Satz "A = A" negativ, so fällt er mit dem Kontradiktionsgesetz zusammen und enthält weder Subjekt noch Prädikat. Die Grundfrage der Kritik der reinen Vernunft: "Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?" sagt in deutliche Worte übersetzt nur dies: Unter welcher Voraussetzung ist es ohne die äußere Unwahrscheinlichkeit denkbar, daß gewisse blinde Vorurteile sich bei der Anwendung auf das Erfahrungsgebiet (bzw. auf das, was KANT als ein solches bezeichnet und was, sofern es sich um die sogenannte äußere Erfahrung handelt, keine echte Wahrnehmung ist), nicht als falsch erweisen? Setzt man an die Stelle blinder Vorurteile Urteile, welche im wahren Sinne des Wortes Erkenntnisse sind, d. h. evidente Urteile a priori, so wäre es abgeschmackt zu fragen, unter welchen Voraussetzungen sie sich, auf irgendein Gebiet angewandt, ohne äußerste Unwahrscheinlichkeit als wahr erweisen werden, da sie ja, wenn evident, eo ipso [überhaupt - wp] unter allen Bedingungen wahr sein müssen. Mit jener Voraussetzung aber - mit der "kopernikanischen Wende" -, die KANT für seine synthetischen Urteile a priori macht, hat er gar nichts erreicht. Sie kann ihnen die ihnen als blinden mangelnde Sicherheit nicht geben, da sie ja selbst weder unmittelbar einleuchtet, nonch as wahr erwiesen ist. Sie erscheint als eine willkürliche Forderung, welche die Skepsis mit Recht verurteilt. Es ist also durch die Verkündigung des Kausalgesetzes als eines synthetischen Urteils a priori gegen die Zweifel HUMEs nicht das geringste gewonnen - vielmehr ist durch die Einschränkung seiner Kompetenz von den "Dingen-ansich" auf die sogenannten Phänomene, d. h. auf die Dinge, sofern wir sie zu unseren Objekten machen - also auf das Erscheinende, Vorgestellte, Gedachte als solches - alles verloren.

30. Dabei allerdings stimmt BRENTANO mit KANT vollkommen überein, daß es zu wahrhaft allgemeinen Sätzen niemals durch bloße Erfahrung per enumerationem simplicem [durch einfache Aufzählung - wp] (38) kommen kann. Das Kausalitätsgesetz, wenn es wahrhaft allgemeingültig sein soll, muß eine apriorische Erkenntnis, d. h. aus den Begriffen evident sein.

Freilich kann nicht geleugnet werden, daß seine Einsichtigkeit hinter der des Kontradiktionsgesetzes in gewisser Weise zurücksteht, sei es, daß die Einsicht aus den Begriffen bei im gewisser Vorbereitungen bedarf, die dort nicht nötig sind, sei es, daß wir leichter an ihm irre werden, oder sei es, daß beides der Fall ist. Ist doch PLATO an der Wahrheit des Satzes, daß es nichts Unbestimmtes, Universelles geben kann, irre geworden, obgleich ein jeder auf die Frage, ob es einen Hund geben kann, der weder ein Pudel, noch eine Dogge, noch ein Rattler, noch sonst irgendeiner Art differenziert ist, mit Nein antworten wird. In der Tat haben wir schon weiter oben gesehen, daß dieser Satz zur Rückführung auf den Satz des Widerspruchs als a priori einleuchtend dargelegt werden kann. So glaubt BRENTANO dann auch, das Kausalitätsgesetz und den Satz vom ausgeschlossenen Zufall schlechthin aufgrund des Kontradiktionsgesetzes darlegen zu können, obgleich er nicht leugnen möchte, was manche behaupten, daß er auch vielleicht unmittelbar mit Evidenz erkennbar ist. Seine Methode getreu hat er es nicht verabsäumt, vorerst den Begriff der Ursache zu klären und seinen Ursprung aufzuweisen, indem er das Beginnen DAVID HUMEs, die "impression" aufzuweisen, aus welcher er geschöpft ist, wieder aufnimmt und dort fortsetzt, wo jener es, an einem Gelingen verzweifelnd, aufgegeben hat. Aus den Kollegien BRENTANOs ist diese Lehre in MEINONGs Humestudien (1877, Seite 118, 122) übergegangen, um dort ohne Namensnennung polemisch behandelt zu werden. Vollständiger ist der Ursprung des Kausalitätsbegriffes nach BRENTANOs Lehre wiedergegeben in MARTYs "Raum und Zeit", Seite 105f. BRENTANO selbst hat das Wesentliche mitgeteilt im "Ursprung sittlicher Erkenntnis" (Seite 51). BRENTANO glaubt - hierbei auf ARISTOTELES und THOMAS von AQUIN als seine Vorgänger verweisend (39) - daß wir den Begriff aus gewissen Akten bewußter Motivation schöpfen (Verursachung des Mittelwollens durch den Zweckwillen, des Denkens der Konklusion durch das Denken der Prämissen, des Einleuchtens der apriorischen Axiome ex terminis [grenzenlos - wp]). - Trotz der von den genannten Schülern erhobenen Einwendungen hat BRENTANO sich nicht veranlaßt gesehen, diese Lehre zu modifizieren, indem er auch jede Mitursache als wahre Ursache zu betrachten sich berechtigt glaubt.

Ist nun gegen DAVID HUME festgestellt, daß wir es beim Begriff der Ursache nicht mit einer Fiktion zu tun haben, so dient uns diese Konstatierung, um die von KANT in Verwirrung gebrachte Unterscheidung von ursächlicher Bedingung und Notwendigkeit wieder in ihr Recht einzusetzen: der Begriff der Notwendigkeit schließt ebensowenig jenen der Bedingung ein, wie der der Unmöglichkeit. Wie apodiktisch verneinende Urteile uns veranlassen, von "unmöglich" zu reden, so sprechen wir, indem wir uns den analogen Begriff des apodiktisch Bejahenden synthetisch bilden, von Notwendigkeit, und das "unmittelbar Notwendige" ist das "unbedingt Notwendige". Das "bedingt notwendig" steht daher dem "unbedingt notwendig" gegenüber wie eine negative Erkenntnis einer affirmativen. Es ist nicht derselbe Gegensatz wie zwischen "relativ notwendig" und "absolut notwendig". Das relativ Notwendige, aber nicht absolut Notwendige wäre etwas, was, indem es ist, in der Existenz eines anderen seine Ursache hat, während dieses ebensogut sein wie nicht sein könnte.

Bei der Untersuchung des Satzes vom zureichenden Grund scheidet nun BRENTANO die Frage, ob ein zufälliges Entstehen und Vergehen möglich ist, von der Frage nach der Möglichkeit eines anfangslosen Zufalls; falls ein solcher bestände, wäre die Frage nach dem letzten Warum ohne Antwort. BRENTANO ist jedoch mit LEIBNIZ der Überzeugung, daß, wer das eine oder das andere behaupten wollte, einen Verstoß gegen das Gesetz des Widerspruchs begeht, und bemüht sich, was LEIBNIZ unterlassen hat, dies auch zu zeigen. Obgleich er für diesen Zweck als genügend ansieht, daß, wer in senus diviso [in teilender Absicht - wp] Entgegengesetztes unter denselben Umständen für möglich hält, es auch in sensu composito [in verbindender Absicht - wp] für möglich halten müßte, so legt er doch den größeren Nachdruck auf gewisse Betrachtungen, die er aufgrund des Wahrscheinlichkeitskalkuls anstellt. Während er aber in früherer Zeit auf diese Weise bloß die unendliche Unwahrscheinlichkeit eines zufälligen Entstehens, Vergehens und Bestehens aufwies, dient ihm diese Methode nun dazu, um die Unmöglichkeit des Zufalls a priori zu erweisen. Die mannigfachen Einwendungen, die einer solchen Verwendung der Wahrscheinlichkeitsrechnung entgegengesetzt werden können, nötigen ihn zu besonderen Untersuchungen des Wahrscheinlichkeitsbegriffs und wiederholter minutiösester Erörterung gewisser Schwierigkeiten des Probabilitäts[Wahrscheinlichkeits- | wp]kalküls. Die Wahrscheinlichkeitsrechnung hat BRENTANO in ihrer nicht zu überschätzenden Bedeutung für die induktive Logik früh erkannt und die Bemerkungen von LEIBNIZ in ihrem Wert wohl gewürdigt. Er hat auch seine Schüler zur Beschäftigung mit diesen Fragen angeregt; STUMPFs in der "Bayerischen Akademie der Wissenschaft" erschienene Abhandlungen zeugen hiervor. THOMAS GARRIGUE MASARYKs Schrift "David Humes Skepsis und die Wahrscheinlichkeitsrechnung" trägt die Spur BRENTANOs. Auch die Übersetzung von LAPLACEns philosophischen Versuch ber die Wahrscheinlichkeit von NORBERT SCHWAIGER verdankt dem Seminar BRENTANOs ihre Entstehung. Auch HILLEBRANDs Abhandlung zur Hypothesenbildung kann in diesem Zusammenhang genannt werden, wie auch MEINONGs diesbezügliche Arbeiten hier ihre ersten Impulse empfangen haben.

Nach Erledigung der Einwürfe betrachtet BRENTANO die Frage, ob absolut zufälliges Entstehen und Vergehen möglich ist. Wäre dem so, so müßte in jedem beliebigen einzelnen Augenblick ebenso leicht oder jedenfalls nicht weniger leicht ein abrupter Wechsel zwischen Sein und Nichtsein oder Nichtsein und Sein als ein Fortbestand des Seins oder des Nichtseins eintreten können. Die Wahrscheinlichkeit eines solchen Wechsels wäre somit für den einzelnen Moment zumindest einhalb. Allein, nichtsdestoweniger wäre es notwendig, daß ein abrupter Wechsel zwischen Sein und Nichtsein unendlich seltener wäre als der Fall des Fortbestandes von Sein oder Nichtsein, denn jeder abrupte Wechsel findet in einem Zeitpunkt statt und keine zwei Zeitpunkte können unmittelbar einander folgen; sie müssen durch eine Zeitlänge getrennt sein. Nun ist es aber widersprechend, daß in jedem einzelnen Punkt die Wahrscheinlichkeit des abrupten Wechsels mindestens einhalb ist und doch von der Gesamtheit der Punkte notwendig unendlich mehr ohne abrupten Wechsel als mit abruptem Wechsel vorkommen, also sehen wir uns durch die Annahme eines zufälligen Entstehens oder Vergehens zu einem Widerspruch geführt.

Die Frage nach der Möglichkeit eines anfangslosen Zufalls wird von BRENTANO in analoger Weise behandelt: es werden die aus einer solchen Hypothese sich ergebenden Folgerungen für die Wahrscheinlichkeiten der Erfüllung oder Nichterfüllung von Räumen untersucht und gezeigt, daß sie zu Widersprüchen führen. Nach umsichtiger Erwägung verschiedener Einwendungen, die ihm von befreundeter Seite brieflich mitgeteilt worden waren, oder die BRENTANO selbst in unermüdlicher Aufspürung von Aporien [Widersprüchen - wp] erhoben hatte, glaubte er das geleistet zu haben, was er bei LEIBNIZ vermißte: die Zurückführung des principium rationis sufficientes [Prinzip des hinreichenden Grundes - wp] auf den Satz des Widerspruchs. Der Satz: nichts kann sein, ohn, sei es mittelbar oder unmittelbar, notwendig zu sein, schien ihm gesichert.

31. Da sich nun leicht zeigen läßt, daß nichts von dem, was in unsere Erfahrung fällt, unmittelbar notwendig ist, so ist der Schluß auf etwas Transzendentes, das unmittelbar notwendig ist, unausweichlich. Hierbei nimmt er Gelegenheit, die Art und Weise, wie KANT die Gedankengänge des kosmologischen Arguments darstellt, als unzutreffend zu kennzeichnen. Insbesondere habe er auf LEIBNIZ nicht die gebotene Rücksicht genommen. Nicht von der Existenz von Dingen schlechthin, sondern von solchen, die nicht unmittelbar notwendig ("kontingent") sind, nimmt LEIBNIZ seinen Ausgang und indem das unmittelbar notwendige Wesen als Ursache solcher Dinge erschlossen wird, von denen eine beliebig große Zahl und eine beliebig verschiedene Ordnung gleich möglich ist, während eine derselben mit der anderen sich nicht verträgt, kommt die Hypothese eines mit Verstand bevorzugenden unmittelbar notwendigen Wesens gegenüber einem blind wirkenden in einen unermeßlichen Vorteil. Denn alles, was blind wirkt, scheint eine gewisse ausschließliche Beziehung zu dem, was wirklich in ihm resultiert, haben zu müssen. Beim weiteren Fortgang dieser Erwägungen gelangt man, nach BRENTANOs Darlegungen, vom Schluß auf ein unmittelbar notwendiges Wesen nicht nur zu dem eines Verstandes, sondern eines unendlichen Verstandes, ja eines unendlich vollkommenen Ur-Dings. Wohl handelt es sich bei all dem um Wahrscheinlichkeiten, aber BRENTANO zeigt, daß wir es nicht mit einem Argument von bloß endlicher Wahrscheinlichkeit zu tun haben. Obgleich BRENTANO hier vieles von jener philosophischen Tradition wieder aufnimmt, die durch KANTs Kritik unterbrochen wurde, so wahrt er sich doch auch jener gegenüber die Selbständigkeit des Denkens. Da nichts, was uns in der Erfahrung vorliegt, ohne zeitlichen Wechsel ist, so ist es schlechterdings unmöglich, daß etwas, was selbst ohne allen Wechsel ist, Ursache eines Wechsels wird. In diesem Sinne gibt er TRENDELENBURG recht, der ganz richtig gesagt hat, es sei denkbar, daß Bewegung zur Ruhe, nicht aber daß Ruhe zur Bewegung führt. Die Lehre von einem veränderungslosen ersten Beweger ist nicht aufrecht zu erhalten.

Das, was wir oben über den allgemeinen Begriff des Dings als Grenze, die einem primären zeitlichen Kontinuum zugehört, gesagt haben, weist auf einen Charakterzug des ersten Prinzips hin, jenes Ur-Dinges, durch das alle anderen sind und verharren. Auch bei ihm muß das Sein in einem kontinuierlichen Verlauf bestehen, der in Richtung Verlauf vollkommen gleichmäßig eindimensional und unmittelbar notwendig ist. Er ist dies aber nur einer seiner Grenzen nach, welche von jeder anderen als später oder früher und als seiende von nichtseiender, ja als notwendige von unmöglicher absteht. Dieser Wechsel aber, weit davon entfernt, das Frühere und Spätere in einem Gegensatz zu zeigen, ist gerade darum verlangt, um jeden Gegensatz zwischen Früherem und Späterem im ersten Prinzip auszuschließen. Nur dann bleibt es vollkommen mit sich selbst im Einklang, wenn es entsprechend dem Wechsel im Sein der von ihm gewirkten Dinge eines in eben demselben Maß wechselnden Wissens teilhaft its, und nicht etwas, was es jetzt als in hundert Jahren seiend erkennt, nach hundert Jahren unverändert als in hundert Jahren seiend erwarten würde. Was wäre das für ein Gott, der zwar den ganzen Weltlauf kennt, aber nicht weiß, bis welchem Moment der Entwicklung er gerade gelangt ist! Unter den Gegnern des Gottesgedankens ist es DAVID HUME, dessen Einwürfe BRENTANO als die scharfsinnigsten und beachtenswertesten hervorhebt. So ist es z. B. gewiß eine Bemerkung, die Aufmerksamkeit verdient, wenn HUME geltend macht, es sei nichts geklärt, wenn man die Ordnung der Welt aus einem göttlichen Verstand erklären will, denn das hieße eine Ordnung durch eine andere erklären, nämlich durch die im Verstand Gottes vorbestehende. BRENTANO erwidert, es könne, wenn eine gewisse Ordnung erklärungsbedürftig ist,. weil sie nicht in sich selbst notwendig ist, wie z. B. die in einem Organismus bestehende, durch die Zurückführung auf eine andere homogene Ordnung keine Erklärung geliefert werden, weil diese Ursache ebensowenig unmittelbar notwendig sein kann wie die homogene Wirkung. Ganz anders, wenn wir einen ordnenden Verstand annehmen; dieser ist dem Körperlichen nicht homogen. Man hat nur die Wahl zwischen einem unbewußten und einem bewußten Prinzip. Das Unbewußte kann nicht unmittelbar notwendig sein, eben weil es dem Gewirkten homogen ist. Wenn das Bedingende dem Bedingten homogen ist, kann, wenn das letztere auch das erstere nicht in sich notwendig sein. Auch ist der Verstand nicht in demselben Sinn eine Ordnung wie die Welt. Denn das von ihm Gedachte als solches, welches geordnet erschiene, wenn es wäre, ist ja nicht, sondern das Denken ist und dieses ist eine Einheit.

32. Ohne den Entwicklungsgedanken zu bestreiten, der vielmehr nach BRENTANO auf das ganze Universum als weltbeherrschendes Gesetz auszudehnen ist, hat BRENTANO doch den spezifisch DARWINschen Erklärungsversuch der allgemeinen Umbildung niemals anerkannt und ihn für nicht weniger unanehmbar bezeichnet als den von LAMARCK. Es ist sehr bedauerlich, daß die betreffenden Teile seiner Vorlesung nicht veröffentlicht worden sind. So konnte es geschehen, daß viele seiner kritischen Bemerkungen inzwischen von anderen gemacht wurden. Hat DARWIN selbst bei dem Gedanken, wie sich die Bildung neuer Organe und ihre Entwicklung bis zur ersten Brauchbarkeit erklären soll, einen gelinden Schauer empfunden, so hat BRENTANO darauf verwiesen, daß zufällige Variation und natürliche Auslese bei der Vervollkommnung schon hoch entwickelter, sozusagen exquisiter Organe neue Rätsel aufgibt, weil in solchen Fällen das Zahlenverhältnins der möglichen günstigen und ungünstigen zufälligen Abweichungen die letzteren in stets wachsender Majorität erscheinen läßt. BOLTZMANNs Lehre von der Destruktion der Ordnung durch sich häufende Zufälle steht zu dieser Behauptung DARWINs, nach welcher, auf organischem Gebiet zumindest, die sich häufenden Zufälligkeiten mit höchster Wahrscheinlichkeit zum Aufbau einer immer vollkommeneren Ordnung führen würden, in einem bemerkenswerten Gegensatz. Der Wahrhscheinlichkeitsbruch für die Frage, ob der Schein der Teleologie als wirkliche Teleologie zu begreifen ist, ergibt sich aus dem Vergleich der Zahl der gleich denkbaren Fälle welche eine so ausgezeichnete Ordnung zeigen, mit jenen, die sie nicht zeigen. Forscht man danach, so ergibt sich eine unendliche Majorität der Fälle der Unordnung. Nur durch die Anwendung dieses Gedankens konnte BOLTZMANN es unternehmen, die Entropie verständlich machen zu wollen. Und BRENTANO erklärt es für höchst sonderbar, daß man in gleicher Weise DARWIN und BOLTZMANN Beifall zollt.

Wie LEIBNIZ, so glaubte auch BRENTANO eine optimistische Weltanschauung rechtfertigen zu können. Auch für ihn ist der Weltprozeß nichts anderes als ein unendlicher Entwicklungsprozeß. Hat LEIBNIZ den modernen Entwicklungsgedanken vorausgedacht, so denkt ihn BRENTANO zu Ende. In einem unendlichen Aufstieg sieht er das Endziel oder richtiger gesagt das Ziel ohne Ende, das teleologische Weltgesetz, das mit dem kausalen vereint alles Geschehen durchwaltet. Das Universum kann nach einem aristotelischen Wort nicht, einer schlechten Tragödie gleicht, in lauter Episoden zerfallen. Gibt es außer unserer dreidimensionalen Welt etwa noch anders gestaltete Topoide von vier und mehr Dimensionen - und was sollte uns hindern dies anzunehmen (40) - so ist es der Strom des geistigen Lebens, der, von unserer räumlichen Erfahrungswelt in jene Überräume hinüberflutend, die Einheitlichkeit des Kosmos aufrecht erhält. Denn wie mit einem dreidimensionalen Gehirn, so kann die seelische, unausgedehnte Substanz auch mit einem Organ höherer Mannigfaltigkeit in Wechselwirkung treten. So eröffnen sich unendliche Perspektiven, wie sie sich in gleicher Großartigkeit kaum nonch einem anderen Denker aufgetan haben, wollte man nicht etwa SPINOZA ausnehmen, der, indem er neben den beiden empirischen Attributen seiner Gott-Natur noch unendlich viele unbekannte lehrt, an einen ähnlichen Gedanken rührt. Doch durch den Pantheismus SPINOZAs abgestoßen, fühlt sich BRENTANO vielmehr zur ARISTOTELES und LEIBNIZ hingezogen. Und diesen großen Lehrern der Menschheit ebenbürtig wird ihn - daran zweifle ich nicht - die Zukunft erweisen.

33. So haben wir dann einiges aus dem gewaltigen Fragenkomplex gestreift, dem BRENTANO sein vorzüglichstes Nachdenken zugewendet hat. Der Inhalt seiner großen historischen Arbeiten blieb hierbei - umd diese Schrift nicht allzusehr anschwellen zu lassen - vollständig außer Betracht. Was seine Veröffentlichungen zur systematischen Philosophie anlangt, so haben wir uns aus dem gleichen Grund in wesentlichen Punkten mit dem eindringlichen Hinweis auf sie begnügt. Zur Rechtfertigung seiner Dreiteilung der psychischen Beziehungen in Vorstellungen, Urteile und Gemütstätigkeiten ist von ihm und anderen so eingehend gehandelt, die Verankerung der drei praktischen Disziplinen: der Ästhetik, Logik und Ethik in jeder dieser drei Grundklassen wiederholt (41) so im Einzelnen dargelegt worden, daß wir in diesem Augenblick nichts Neues hätten hinzufügen können. Mit Recht hat auch Freiherr von PIDOLL in seinen erwähnten "Erinnerungen" auf die außerordentliche Bedeutung aufmersam gemacht, die gewisse Schriften BRENTANOs für den Juristen und Politiker besitzen. Die Polemik gegen RUDOLF von JHERING über den Begriff des Rechtes im "Ursprung sittlicher Erkenntnis", seine Ausführungen über die Aufgabe der inneren und äußeren Politik in der "Zukunft der Philosophie", seine weit ausgreifenden Arbeiten über das Ehehindernis der höheren Weihen nach österreichischem Recht sollen darum auch hier besonders hervorgehoben sein. BRENTANOs "Letzte Wünsche für Österreich", jener Aufsehen erregende Mahnruf, den er 1894, anläßlich seines Scheidens von Wien, an die österreichische Regierung richtete, waren es, in denen er unter anderem eine freiheitliche Auslegung des § 63 des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches (42) als jene nachwies, die dem Buchstaben, der Entstehungsgeschichte und dem Geist des Gesetzes entspricht. Der eifervolle Widerspruch des Prager Universitätsprofessors HORAZ KRASNOPOLSKI nötigte ihn zu einer Reihe weiterer zeitraubender Studien und Arbeiten, die im unten folgenden Schriftenverzeichnis angegeben sind. Die Auffassungen, die in diesen Meisterwerken juristischer Methodik verfochten werden, hat der größte österreichische Jurist JOSEF UNGER in der Festschrift zur Jahrhundertfeier des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches als die richtigen erklärt (43). In unserer Zeit, wo das Interesse für eine Rechtsmethodik in weitesten Kreisen erwacht ist, kommt diesen klassischen Untersuchungen eine erhöhte Bedeutung zu. (44)

Die eben erwähnte literarische Fehde und die daran sich knüpfende Abwehr persönlicher Angriffe, auf die ich in einem anderen Zusammenhang zurückkommen möchte, ist das letzte Ereignis gewesen, das BRENTANO für längere Zeit von der Philosophie abzog. Von da an verlief sein äußeres Leben in gleichmäßig ruhigen Bahnen. Nach kurzer Wanderzeit ließ er sich in Florenz nieder, vertauschte es wohl zeitweilig aus Gesundheitsrücksichten mit Palermo, aber alljährlich führte ihn der Sommer nach der Wachau in das liebliche Donautaul zurück, was das gastfreie Schönbühler Haus seine Freunde und Schüler um ihn versammelt.

Zeitlebens hat sich BRENTANO den hohen Sinn für das Gut der Freundschaft in jener edelsten Form gewahrt, wie sie PLATO verherrlicht und ARISTOTELES preist. Gern gedachte er seines Jugendfreundes, des Dominikanerprios ADLER, der, jüdischer Abstammung, durch ihn dem Christentum zugeführt war, und der noch in seiner Sterbestunde den Freund in sein Gebet einschloß; rühmend sprach er von den Tugenden seines Jugendgenossen, des berühmten Bildhauers KASPAR ZUMBUSCH, den ein ähnlicher Lebensweg nach Wien geführt hatte, und von den sympathischen Charaktereigenschaften des kunstsinnigen HERZ von HERTENRIED. In einem freundlichen Andenken behielt er von seinen Wiener Fakultätsgenossen den angesehenen Slavisten MIKLOSCH und den greisen Zoologen CLAUS. Mit Ehrfurcht hörte ich ihn die Namen älterer Freunde und Berater nennen: den seines Erziehers, des Lyzealprofessort und Hofbibliothekars JOSEF MERKL, dem er dankbar die "Psychologie des Aristoteles" gewidmet hatte, des ihm väterlich gesinnten, weisen Benediktinerabtes HANEBERG, der ihm während seiner Glaubenskrise Zuflucht und Beistand gewährt hatte, und des vornehm denkenden IGNAZ von PLENER.

Kindliche Pietät und Dankbarkeit sprechen aus manchen seiner formvollendeten Gedichte, die er seiner edlen Mutter widmete. Ein starker Familiensinn beseelte ihn bis in sein höchstes Greisenalter. Mit gleichem Interesse verfolgte er das Los seiner Geschwister, die das Schicksal über ganz Europa verstreut hat. Hatte ihn sein künstlerischer Hang nach Italien gelockt, so fand ihn der Ausbruch des italienischen Krieges in Zürich, die eine Schwester - die Witwe nach PETER le PAGE RENOUF, dem berühmten Ägyptologen - in London, die andere - die Gattin des Professors THEOPHIL FUNCK - in Paris, den Bruder LUJO und die jüngste Schwester in und bei München. So fühlte er, dessen Gattin aus Österreich stammte, - obgleich er die Sache der Mittelmächte in ihrem Ursprung als eine gerechte und reine erklärte - die ganze Tragik des brudermörderischen Völkerzwistes in tiefstem Herzen.

Manch edle Frauengestalt hatte zu seinem Freundeskreis gezählt. Dem Verkehr mit der dichterisch begabten DORA Freifrau von GAGERN verdankte die erste Auflage seines Rätselbuches ihre Entstehung; auch die befreundete EBNER-ESCHENBACH schätzte seine poetischen Erzeugnisse und wünschte dringend ihre Veröffentlichung. In Florenz kam er mit ISOLDE KURZ und deren Mutter in Berührung, während die Begegnung mit WALDWIGA von MEYSENBUG in Rom flüchtiger gewesen zu sein scheint. Aus der Aschaffenburger Zeit blieb er in dauernder Beziehung zur Familie seiner Jugendfreundin KAROLINE HAUSER-EDEL, deren Tochter ihm längere Zeit als Sekretärin zur Seite stand. In Wien hatte er sich häufig in der literarischen Zentrale der Verlegersgatting ROSA GEROLD eingefunden. Die Damen WERTHEIMSTEIN, Mutter und Tocher, letztere einst die gefeiertste Schönheit Wiens, standen seinem Herzen besonders nahe. IDA LIEBEN, die er sich zur Gattin wählte, rühmt jeder, der sie kannte und er selbst als Verkörperung der Klugheit, Hingebung und Güte. Nach ihrem Tod fand er im Jahre 1897 in EMILIE RUEPRECHT, seiner Nachbarin von Schönbühel her, die zweite Lebensgefährtin, die nicht nur seinem jungen Söhnchen die zärlichste Mutter werden sollte, sondern auch mit unermüdlicher Liebe ihn selbst betreute und der Sorglosigkeit steuerte, mit der ihr Gatte den Gefährdungen seiner Gesundheit Trotz zu bieten pflegte.

Ein treuer Anhänger entstand BRENTANO in MARIO PUGLISI, den er in Florenz kennenlernte und der späterhin die "Klassifikation der psychischen Phänomene", mit einer biographischen Einleitung und Einführung versehen, ins Italienische übersetzte. Innige Sympathie verband BRENTANO mit seinem Nachbarn, dem russischen General ZOUBOW, dessen berühmter Garten bei der Villa dell' ombrellino (Bellosguardo) mit seinen Wandelgängen und Loggien ihm jederzeit offenstand. Nicht minder herzlich gestalteten sich die Beziehungen zu STALLO, dem Verfasser des bekannten Werkes "Die Begriffe und Theorien der modernen Physik", das BRENTANO mit großem Interesse kritisch glossierte. Ebenso hat LUDWIG BOLTZMANN, der geniale Physiker, in seinen letzten Lebensjahren Anschluß an BRENTANO gesucht und gefunden. Im Jahr 1908 reiste er nach Florenz und wurde bald als willkommener Gast im Haus BRENTANOs heimisch. In Italien hatte BRENTANO eine ganze Reihe philosophischer Freunde gewonnen; in Palermo wurde er der Mittelpunkt eines philosophischen Kreises, aus dem Dr. AMATO hervorragte. Die Verehrung, die ihm dort entgegengebracht wurde, nahm mitunter enthusiastische Formen an. Eine Anzahl jüngerer Forscher, darunter Professor VAILATI und andere, suchten ihn auf, und freigebig wie immer, erschloß BRENTANO ihnen seinen geistigen Reichtum. Mehrere Abhandlungen in Briefform an die Philosophen FAGGI, GUASTALA, AMATO sind auf diese Anregungen zurückzuführen.

Überhaupt bildet der Briefwechsel BRENTANOs eine der wichtigsten Quellen für die Kenntnis seiner Lehre. Der briefliche Verkehr mußte ihm oft Ersatz bieten für die unmittelbare persönliche Einwirkung und Lehrtätigkeit, nach der er sich sehnte, und besonders die schriftliche Auseinandersetzung mit verständnisvollen, in die Eigenart seines Denkens eingelebten Schülern und Enkelschülern wurde von Italien aus eifrig gepflegt. Die Kontroversen mit MARTY z. B. sind Fundgruben ersten Ranges für die Kenntnis gewisser Entwicklungsphasen seiner Philosophie; wertvolle psychologische Erörterungen finden sich unter anderem in Briefen an HILLEBRAND, STUMPF und manche seiner Hörer; metaphysische und religionsphilosophische Fragen kommen in Briefen an HERMANN SCHELL zur Besprechung und eingehende briefliche Kritik übte er an den polygamischen Reformideen und kosmogonischen Spekulationen des Freiherrn von EHRENFELS; mit Gelehrten wie BOLTZMANN, MACH, ENRIQUES, mit LUTOSLAVSKI, EUGEN ROLFES, GUSTAV SCHNEIDER wurden wissenschaftliche Briefe gewechselt. Mit dem Neurologen Doktor JOSEF BREUER, seinem bewährten Hausarzt, führte er lange schriftliche Diskussionen über die DARWINsche Hypothese und daran anknüpfende Fragen. Auch einen Enkelschülern widmete er ausführliche Schreiben, wann immer sie sich mit Fragen oder mit Einwürfen an ihn wandten. Viele von ihnen und gar mancher seiner ehemaligen Hörer pilgerten nach Florenz und jene, welche die weite Reise scheuten, konnten sicher sein, zur Sommerzeit in Schönbühel auf das Herzlichste willkommen geheißen zu werden. Oft beherbergte auch Kellergeschoß und Mansarde die Freunde, die das Gastzimmer nicht mehr aufnehmen konnte. Diesen Verkehr mit philosophisch interessierten Männern und Wahrheitssuchern hat BRENTANO niemals missen wollen. Er war ihm - ich hob es schon hervor - ein unabweisliches Bedürfnins. Darum lud sich sein Mitteilungs- und Lehrdrang geeigneten, mitunter auch ungeeigneten, Persönlichkeiten gegenüber geradezu eruptiv; er überschüttete den Hörer, mochte er auch von langer Reise noch so ermüdet und noch so wenig aufnahmefähig sein, mit einer überquellenden Fülle von Gedanken (45), die zu erfassen selbst für den Lernbegierigsten kaum möglich war. Nur wer gleich oder unmittelbar darauf das Gehörte aufzeichnete, war imstande, es zu verarbeiten und zu bewahren, so z. B. enthält MARTYs Nachlaß Hunderte Blätter, gefüllt mit Notizen, die seinen jährlichen Ferialbesuchen entstammen.

Für mich bedeuten die Wochen, die ich in Schönbühel oder Florenz im Verkehr mit BRENTANO verleben durfte, Tage des Glücks und der reinsten geistigen und sittlichen Erhebung. Kaum vermochte das Bewußtsein, einem des Augenlichtes Beraubten gegenüberzustehen, dieses Hochgefühl zu trüben. Ja die klaglose Heiterkeit des Blinden sprach umso ergreifender für die Kraft und Tiefe seiner philosophischen Überzeugung. Zu spät hatte BRENTANO die Abnahme seiner Sehkraft den Ärzten offenbart; zwei glücklich verlaufende Operationen hatten seine nahezu völlige Erblindung nur noch zu verzögern vermocht. Aber seine Energie blieb ungebrochen. Als 1914 ANTON MARTY starb, hielt ihn nichts zurück, seiner Freundspflicht Genüge zu tun; von seiner Gattin geleitet, reiste er nach Prag, um an der Stätte, wo dieser Treueste aller Treuen sein Grab gefunden hatte, den Dank für lebenslang bewahrte Liebe und Freundschaft zu zollen.

Im Herbst 1916, nach zweijähriger Trennung, trieb die Sehnsucht meinen Freund KASTIL und mich nach Zürich. BRENTANO hatte auf dem Zürichberg Wohnung genommen. Einige Freunde der Philosophie pflegten sich auch dort um ihn zu versammeln; mehrere Stunden täglich widmete er der Niederschrift eines religionsphilosophischen Werkes, das abgeschlossen vorliegt und seine Stellung zum Christentum in fesselndster Weise darlegt, und diktierte jene knappen Entwürfe seiner Weltanschauung und Erkenntnistheorie, denen die vorstehende Skizze einige Grundzüge und Kapitelstellen entnommen hat; unter jenen Diktaten findet sich auch eine Vorlesung über die Geistigkeit der Seele, die er in unverminderter Lehrfreudigkeit vor wenigen Gästen seines Hauses hielt.

Wir trafen den Meister womöglich vergeistigter als früher: das Auge völlig erloschen, die hohe Gestalt ungebeugt, vom Adel seiner Persönlichkeit umflossen; abgezogen von der Sinneswelt, in die tiefsten Probleme versenkt. Ehrfürchtig fühlten wir einem ganz Vollendeten nahe zu sein. Noch während meiner Anwesenheit erkrankte er an einer Blinddarmentzündung; er überstand den Anfall glücklich und ich konnte einen Genesenden verlassen. Im März des nächsten Jahres wurde er rückfällig. Ein unaufhaltsamer Kräfteverfall setzte am 17. März seinem Leben ein Ende, das mit dem 16. Januar die Schwelle des 80. Jahres überschritten hatte. Nicht einen Augenblick hatte ihn, selbst während der qualvollsten Schmerzen, sein Gottesbewußtsein verlassen. Am Grab des Konfessionslosen, das nur wenige Freunde umstanden, sprach FRIEDRICH WILHELM FOERSTERs, sein Nachbar auf dem Zürichberg, einige der Weihe der Stunde angemessene Worte des Abschieds. Auf dem Friedhof Sihlfeld ruht, was sterblich an ihm war.
LITERATUR - Oskar Kraus. Franz Brentano, München 1919
    Anmerkungen
    28) vgl. "Psychologie", Seite 183f.
    29) BRENTANO tadelt an DEDEKINDs und POINCARÉs Konstruktion, daß sie den wesentlichen Charakter des Kontinuums, nämlich, daß es Grenzen enthält, welche für sich nichts sind, aber doch in der Vereinigung mit anderen einen Beitrag zum Kontinuum liefern, verkennt.
    30) Dagegen fehlen auch jene, welche aus zwei Äpfeln und aus dem von diesen gebildeten Paaren als drittem Ding eine Vierheit bilden, die mit jenen zusammen fünf ergibt usw. ins Unendliche.
    31) Über die Frage der Immaterialität der Seele und die Wechselwirkung handeln mehrere Manuskripte; eine Abhandlung "Zur Würdigung der Puntini del corso obbligatorio d'anatomia" mit zwei Nachträgen, in Florenz verfaßt, und ein Entwurf für einen Vorlesungszyklus, den BRENTNAO in Zürich vor mehreren Freunden 1915 gehalten hat, dürften, von den Kollegien abgesehen, hier besonders in Betracht kommen.
    32) Vgl. hierzu die aristotelischen Schriften BRENTANOs insbesondere "Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles" und "Aristoteles und seine Weltanschauung".
    33) vgl. "Aristoteles und seine Weltanschauung", Seite 26 und 36.
    34) Es ist eine groteske Verballhornung von BRENTANOs Lehre, wenn HÖFLER am erwähnten Ort ihr zuschreibt, sie kenne auch als "nichtrichtig charakterisierte" Gemütsakte. Warum denn nicht auch "als unrichtig charakterisierte Urteile", also einsichtige Irrtümer? HÖFLER bemerkt weiter, er habe sich mit dieser Lehre BRENTANOs darum nie befreunden können, weil man doch jemanden, der schlechthin den Irrtum der Erkenntnis vorzieht, noch nicht unsittlich oder unethisch nennen würde. Das hat BRENTANO noch nicht behauptet; wohl aber liegt es in der Konsequenz seiner Gedanken, daß jemand, der den Wert der Erkenntnis, ihren Vorzug vor dem Irrtum, dann weiter die Vorzüge der anderen seelischen Güter und insbesondere den Vorzug ihrer Summierung und Ausbreitung schlechthin nicht zu erkennen imstande ist, also jede Wert- und Vorzugserkenntnis entbehrt, als mit moral insanity behaftet, aus der Reihe der Zurechnungsfähigen ausscheidet. Unethisch ist das Wollen desjenigen, der, obgleich er das praktisch Bessere erkennt, sich - in unentschuldbarer Weises - nicht von dieser Erkenntnis in seinen Entschlüssen bestimmen läßt. Näheres hierüber findet der Leser in meinem Buch "Das Recht zu strafen", Stuttgart 1911, in meinem Aufsatz "Der Begriff der Schuld" in der Monatsschrift für Kriminalpsychologie", IX. Jahrgang und im Artikel "Die Grundlagen der Werttheorie" in den "Jahrbüchern der Philosophie" 1914. Allerdings habe ich damals den fiktiven Charakter der "Inhalte", "Wertverhalte", "Objektive" noch nicht erkannt. Eine kurze Skizze von BRENTANOs Lehre nach ihrem fortgeschrittensten Stand habe ich zum Brentanoheft der pädagogischen Monatshefte beigesteuert.
    35) "Über die Zukunft der Philosophie", Wien 1893
    36) Vgl. "Kritik der reinen Vernunft", Seite 153 [Ausgabe KEHRBACH]
    37) vgl. ANTON MARTYs "Gesammelte Schriften", Bd. II, Seite 189, Humes und Kants Lehre vom Existentialsatz.
    38) vgl. KANT, a. a. O., Seite 186 und 648 und Logik (hg. von JÄSCHE), Seite 208.
    39) vgl. "Aristoteles und seine Weltanschauung", Seite 48.
    40) vgl. die "Vier Phasen der Philosophie", Anmerkung 62.
    41) vgl. MARTY, "Was ist Philosophie?" (Rektoratsvortrag), Gesammelte Schriften I, 1, Halle 1916. JOSEPH EISENMEIER, "Die Psychologie und ihre zentrale Stellung in der Philosophie", Halle 1914
    42) Er lautet: "Geistliche welche schon höhere Weihen empfangen; sowie auch Ordenspersonen von beiden Geschlechtern, welche feierliche Gelübde der Ehelosigkeit abgelegt haben, können keine gültigen Eheverträge schließen."
    43) Vgl. auch die Sonderausgabe "Priesterehen und Mönchsehen" von JOSEF UNTER, Jena 1910. Schon früher hatten die Rechtsgelehrten GLASER und MAASSEN, letzterer auch literarisch, die gleiche Ansicht vertreten. Der Zentrumsabgeordnete LIEBER stimmte brieflich zu.
    44) Vgl. meinen Artikel "Die leitenden Grundsätze der Gesetzesinterpretation" in der Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht der Gegenwart, Bd. 32, 1905.
    45) vgl. den Nachruf von EMIL UTITZ in den Kant-Studien, Bd. 22