tb-1K. B.-R. AarsW. OstwaldG. SchillingE. CassirerB. Schmid     
 
HEINRICH RICKERT
Die Philosophie des Lebens
- Darstellung und Kritik der
philosophischen Modeströmungen unserer Zeit -

[ 3/6 ]

    VorwortEinleitung
I. Das Leben als Modebegriff
II. Die modernen Lebensphilosophen
III. Die Prinzipienlosigkeit der intuitiven Lebensphilosophie
IV. Lebensform und Lebensinhalt
V. Das biologistische Prinzip
VI. Älterer und neuerer Biologismus
VII. Kritik des biologistischen Realitätsprinzips
VIII. Kritik des biologistischen Wertprinzips
IX. Der Kampf gegen das System
X. Leben und Kultur
XI. Das Recht der Lebensphilosophie

"Wir machen alles gleich, um es sparsam zu denken. Wer das gelernt hat, wird im Lebenskampf sich am leichtesten erhalten. Alle andere Wahrheit ist nicht mehr als Aberglaube."


Viertes Kapitel
Lebensform und Lebensinhalt

    "Den Gehalt in deinem Busen
Und die Form in deinem Geist."

       - Dauer im Wechsel -

Doch mit den Gedanken, die auf Anschauliches und Unmittelbares gehen, ist die moderne Philosophie nicht erschöpft. Wir haben ihre intuitiv und antirationalistisch gerichteten Tendenzen für sich betrachtet und ihre Kritik vorangestellt, weil sie den umfassendsten und allgemeinsten philosophischen Zug der Zeit darstellen. Zur Lebensphilosophie im engeren Sinn kommen wir erst, wenn wir außerdem noch einen engeren Lebensbegriff ins Auge fassen. Dann wird auch die Kritik der Denker einsetzen können, die sich selbst mit Emphase Philosophen des Lebens nennen.

Bei den intuitiv zu ergreifenden Erlebnissen oder Erlebnisinhalten bleibt niemand stehen, der ernsthaft besondere Lebensprobleme in Angriff nimmt. Bei jedem Versuch, dies zu tun, entsteht aus dem Erlebnis eine Lebenslehre,  und das bedeutet, daß zum Lebensinhalt die Lebensform hinzutritt. Sieht man das ein, so wird man meinen, die Lebensphilosophie habe nur dafür zu sorgen, daß die Formen, die sie braucht, echte  Lebensformen  seien, oder daß man das Leben mit seinen eigenen Formen begreife.

Zugleich aber ergibt sich für eine konsequente Lebensphilosophie daraus auch ein schweres Problem. Die Form ist nur dann "Leben", wenn wir dies Wort im denkbar weitesten Sinn als Erlebnis nehmen, also einen Begriff damit verbinden, der, wie wir sahen, in keiner Lebensphilosophie fruchtbar zu machen ist. Sobald der formale Faktor in Gegensatz zum Inhalt tritt, kommt er damit auch in Gegensatz zum Leben. Das gilt für jede Form ohne Ausnahme, also auch für die Lebensform. Alles Leben fließt kontinuierlich. Die Form dagegen bedeutet Begrenzung, ja ist selber Grenze. Das Leben befindet sich in dauernder Bewegung, und die Form stellt ihm gegenüber etwas Festes oder Starres dar. So lassen sich die Lebensformen nur im Kontrast zum kontinuierlichen Lebensfluß der Inhalte denken, und doch können wir sie nicht entbehren, falls wir irgendeine Erkenntnis des Lebens anstreben.

Man mag freilich den Schwerpunkt dabei mehr auf die Seite des Inhalts legen und dann die Form auf ein Minimum herabzudrücken suchen. Seitdem in der griechischen Philosophie HERAKLIT und PARMENIDES einander gegenüber standen, hat sich der Kampf zwischen Evolutionismus und Stabilität immer von neuem wiederholt. Aber auch der Weise von Ephesus, für den "alles fließt", war, soviel wir wissen, weit davon entfernt, in Wahrheit alles in Bewegung aufzulösen. Über dem Fließen schwebte für ihn der feste Rhythmus, den zu erfassen, die Aufgabe des Philosophen bildete. Wo man das Feste überhaupt leugnete, kam man zum Skeptizismus oder zu einem Relativismus, der nur durch Inkonsequenzen vom theoretischen Nihilismus getrennt blieb.

So gerät die Lebensphilosophie in eine üble Lage. Sie braucht die Lebensform, um  Philosophie  des Lebens zu sein, und sie muß jede feste Form ablehnen, um Philosophie des  Lebens  zu bleiben. Es geht weder mit der Form, noch ohne sie. Gibt es im strengen Sinne so etwas wie "Lebensformen", d. h. Formen, die nur Leben sind? Ist lebendig nicht allein der Lebensinhalt?

Unter den Lebensphilosophen hat keiner dies Problem klarer gesehen und tiefer erfaßt, als GEORG SIMMEL (1). Daß es im Leben ohne Form nicht geht, weiß er genau. Aber ebenso steht fest: das Lebendige duldet auf die Dauer nichts Festes. Von bleibenden Gestalten darf daher der Lebensphilosoph nichts wissen wollen. Er muß also versuchen, die Form mit dem Fließenden, die Grenze mit dem Grenzenlosen zu versöhnen, und zwar so, daß schließlich das lebendige Leben den Primat behält. Er kann zwar nicht anders, als eine Herrschaft der Form über das Leben anzuerkennen, aber es ist zugleich notwendig, daß die Herrschaft wieder gebrochen wird. Sonst läßt sich dem Leben die Stelle des ersten und letzten philosophischen Prinzips nicht retten.

Von hier aus ist SIMMELs "Metaphysik des Lebens" zu verstehen. Sie nimmt auch in dieser Hinsicht eine eigenartige Stelle in der Lebensphilosophie unserer Zeit ein, und die Klarlegung ihres Grundgedankens ist für die Kritik des modernen Denkens sehr lehrreich, obwohl keine Rede davon sein kann, daß ihr Prinzip in der Modephilosophie eine erhebliche Rolle spielt. Dazu ist es zu schwer zu erfassen. Wollen wir jedoch einen Blick in die Tiefe der Probleme tun, so dürfen wir daran nicht vorübergehen. Ein noch radikalerer Versuch, das Leben zum Herrscher über alles machen zu wollen, liegt bisher nicht vor, und wenn auch er scheitern sollte, ist mit der Einsicht in die Gründe dieses Scheiterns viel gewonnen.

SIMMEL geht davon aus, daß wir immer und überall Grenzen haben und auch Grenze sind. Zugleich  wissen  wir jedoch von unseren Grenzen, und der allein kann von ihnen Kenntnis besitzen, der schon außerhalb ihrer steht. Ob das richtig ist, bleibe dahingestellt. Jedenfalls vollzieht sich nach SIMMEL ein Sich-selbst-Überschreiten des Geistes auf den verschiedensten Gebieten.

Wir wissen z. B., daß unser Erkennen Grenzen hat, aber daß wir als erkennende Wesen und innerhalb der Möglichkeiten des Erkennens selbst die Idee überhaupt fassen können: die Welt ginge in die Formen unseres Erkennens nicht hinein, daß wir, selbst rein problematischer Weise, eine Weltgegebenheit denken können, die wir eben  nicht denken  können - das ist ein Hinausschreiten des geistigen Lebens über sich selbst, Durchbruch und Jenseitigkeit nicht nur einer einzelnen, sondern seiner Grenze überhaupt.

Das nennt SIMMEL dann den "Akt der Selbsttranszendenz, die immanente Grenze selbst erst setzt", und er sagt: "Mit dieser Bewegung in der Transzendenz seiner selbst erst zeigt sich der Geist als das schlechthin Lebendige". Der Gedanke wird nach mehreren Richtungen hin ausgeführt, auf die es im einzelnen hier nicht ankommt. Nur das ist wichtig: diese Existenzart allein nennt SIMMEL Leben, und eine letzte, metaphysische Problematik liegt für ihn darin, daß das Leben grenzenlose Kontinuität und zugleich grenzbestimmtes Ich ist. Ein nur kontinuierliches heraklitisches Fließen ohne ein bestimmtes beharrendes Etwas enthielte ja die Grenze gar nicht, über die ein Hinauslangen geschehen soll, nicht das Subjekt, welches hinausgreift.

So ist das Leben, wie es bei ZARATHUSTRA heißt, das, was sich immer selber überwinden muß, oder es ist ihm, wie SIMMEL mit absichtlich paradoxem Ausdruck sagt, die Transzendenz immanent.

Von diesem allgemeinen Prinzip kommen wir zur Form und ihrer Stellung zum Leben. Zwischen der Kontinuität und der Form als letzten weltgestaltenden Prinzipien besteht ein tiefer Widerspruch, da Form Grenze ist und sich nicht ändern kann. Den Zwiespalt von Leben und Lebensform gilt es zu überwinden. Genauer: nur der Intellekt nennt das eine Überwindung der Zweiheit durch die Einheit. Es ist an sich selbst ein Drittes, jenseits von Zweiheit und Einheit: das Wesen des Lebens als Überschreiten seiner selbst. In  einem  Akt bildet es etwas, was mehr ist, als die vitale Strömung selbst: die individuelle Geformtheit - und durchbricht eben diese, von seiner Stauung in jene Strömung hineingezeichnete, läßt sie über ihre Grenzen hinausgreifen und wieder in seinen Weiterfluß zurücktauchen. Wir sind nicht in grenzenfreies Leben und grenzgesicherte Form geschieden, wir leben nicht teils in der Kontinuität, teils in der Individualität, die sich gegenseitig aufheben. Vielmehr das Grundwesen des Lebens ist jene in sich einheitliche Funktion, das Transzendieren seiner selbst.

So gilt es, einen  absoluten  Begriff des Lebens zu gewinnen, der jenem, noch von einem Gegensatz sich abhebenden, als einen deshalb nur relativen unter sich begreift. Damit hat das Leben zwei, einander ergänzende Definitionen: es ist Mehr-Leben und es ist Mehr-als-Leben. Indem es Leben ist, braucht es die Form, und indem es mehr als Leben ist, braucht es mehr als die Form. Mit diesem Widerspruch ist das Leben behaftet, daß es nur in Formen unterkommen kann und doch in Formen nicht unterkommen kann, eine jede also, die es gebildet hat, überlangt und zerbricht.

SIMMEL weiß, daß er mit seinen Gedanken an die Grenze dessen gelangt ist, was sich noch sagen läßt, aber gerade weil er das weiß, muß er nach seinem Grundsatze annehmen, daß er diese Grenze zugleich  überschritten  hat, und er meint, als Widerspruch erscheine dies  nur  in der logischen Reflektion, für die die einzelne Form als ein für sich gültiges, real oder ideell festes Gebilde dasteht, die eine diskontinuierliche neben der andern und in begrifflichem Gegensatz zur Bewegtheit, Strömung, weitergreifen. Das unmittelbar gelebte Leben ist eben die Einheit von Geformtsein und Hinüberlangen, Hinüberfließen über Geformtheit überhaupt, was sich im einzelnen Augenblick als Zerbrechen der jeweiligen aktuellen Form darstellt. - Das Leben ist eben immer mehr Leben als dasjenige, das in der ihm jeweils beschiedenen, aus ihm selbst gewachsenen Form Raum hat. Damit ist in die Dimension gewiesen, in die das Leben transzendiert, wenn es nicht nur Mehr-Leben, sondern Mehr-als-Leben ist. Das Leben findet sein Wesen, seinen Prozeß darin, Mehr-Leben und Mehr-als-Leben zu sein, sein Positiv ist als solcher schon sein Komparativ.

SIMMEL schließt seine Darlegung mit den bezeichnenden Worten: "Ich weiß sehr wohl, welche logischen Schwierigkeiten dem begrifflichen Ausdruck dieser Art, das Leben zu schauen, entgegenstehen. Ich habe sie, in voller Gegenwart der logischen Gefahr, zu formulieren versucht, da doch immerhin  möglicherweise  die Schicht hier erreicht ist, in der logische Schwierigkeiten nicht ohne weiteres Schweigen gebieten - weil sie diejenige ist, aus der sich die metaphysische Wurzel der Logik selbst ernährt."

Es wäre zu wünschen, daß alle Lebensphilosophen sich in so hohem Maße die Schwierigkeiten klar gemacht hatten, die entstehen müssen, sobald man in der Wissenschaft das lebendige Leben über das Denken des Lebens zu stellen versucht. Dann könnte man aus der Lebensphilosophie erheblich mehr lernen.

In populärer Form hat SIMMEL diesen Gedanken an anderer Stelle so formuliert (2): Das Leben kämpft vermöge seines Wesens als Unruhe, Entwicklung, Weiterströmen dauernd an gegen seine eigenen festgewordenen Erzeugnisse, die mit ihm nicht mitkommen. Da es aber seine Außenexistenz nicht anders finden kann, als eben in irgend welchen Formen, so stellt sich dieser Prozeß sichtbar und benennbar als Verdrängung der alten Form durch eine neue dar. Der fortwährende Wandel ist das Zeichen oder vielmehr der Erfolg der unendlichen Fruchtbarkeit des Lebens, aber auch des tiefen Widerspruchs, in dem sein ewiges Werden und Sichwandeln gegen die objektive Gültigkeit und Selbstbehauptung seiner Darbietungen und Formen steht, an denen oder in denen es lebt. Es bewegt sich zwischen Stirb und Werde - Werde und Stirb.

Es war nötig, mehrere dieser Wendungen in ihrem Wortlaut zu geben, um der Gefahr einer Umdeutung aus dem Wege zu gehen. Ist der in ihnen enthaltene Versuch, dem lebendigen Leben die Stellung über der "toten" Lebensform zu retten, gelungen?

Gewiß enthalten diese Gedanken, wenn man sie richtig versteht, eine partielle Wahrheit. Aber ebenso gewiß sind sie rein wissenschaftlich nicht  durchzuführen,  und das weiß SIMMEL im Grunde selbst. Wir werden an die Grenze des Logischen, d. h. widerspruchslos Denkbaren geführt, und damit an die Grenze der Wissenschaft. Ja, wir überschreiten ihre Grenze mit dem Versuch, das als Einheit zu denken, was für das logische Denken immer in eine Zweiheit auseinanderfällt. Genauer: wir überschreiten, innerhalb der Wissenschaft, die Grenze  nicht,  denn wir  können  sie logisch denkend nicht überschreiten. Wir  versuchen  nur, etwas zu denken, was undenkbar ist, und das muß mißlingen.

Das Prinzip alles logischen Denkens, das heterologisch ist, kann uns an dieser Stelle nicht beschäftigen (3). Doch genügt eine einfache Überlegung, um zu zeigen, daß auch dieser scharfsinnigste Versuch, der vielleicht je gemacht worden ist, den Lebensbegriff als letztes Prinzip der Philosophie gegenüber allen theoretischen Einwänden aufrecht zu erhalten, als theoretischer Versuch scheitern muß. Wir haben es bei SIMMEL nicht nur mit  einem,  sondern mit  zwei  Lebensbegriffen zu tun, einem immanenten und einen transzendenten, und es ist unmöglich, daraus  einen  Begriff zu machen. Schon deswegen wird die angestrebte Lebenseinheit nicht erreicht.

Man kann die Undurchführbarkeit so zum Bewußtsein bringen. Begreifen wir das Leben, wie NIETZSCHE sagt, als "Selbst-Überwindung" oder mit SIMMEL als das, was Formen nur schafft, um sie wieder zu zerstören, so bedeutet das offenbar, daß wir das Leben in eine  Form  bringen. Was sollte es sonst heißen? In die Wissenschaft geht ja nie das Leben selbst ein, sondern allein sein Begriff, d. h. das Leben in einer Form, und gerade falls die Lebensphilosophie Recht hat, kann auch  ihr  Lebensbegriff oder  ihre  Lebensform lediglich einer der Begriffe und Formen sein, die das Leben selbst wieder zerstören muß. Damit wird dann aber zugleich auch das Recht der Lebensphilosophie  mit  zerstört, d. h. es war nie ein "Recht", denn was sich zerstören läßt, gehört zum theoretischen Unrecht.

Der Widersinn jedes theoretischen Relativismus, d. h. jedes Versuchs, die Wahrheit in den Fluß des Geschehens hineinzuziehen, den schon PLATON durchschaut hat, tritt zutage. Wir sind hier an der Grenze unseres Denkens angelangt, aber diese Grenze ist keine begrenzende Schranke, sondern unser theoretischer Halt, und mit dem Versuch, sie zu überschreiten, wird unser Denken haltlos. In der Einhaltung dieser Grenze liegt unsere Kraft.

So zeigt sich: jede Lebensanschauung, die sich  nur  auf das lebendige Leben stützen will, ist lediglich eine Auffassung des Lebens, neben der es noch andere, anders und theoretisch besser gestützte Lebensauffassungen gibt. Jedenfalls wird das, was  allen  logisch denkbaren Lebensbegriffen oder Lebensformen  gemeinsam  ist, als wissenschaftlich begründet gelten dürfen, und jeder Standpunkt, der Wahrheit für sic hin Anspruch nimmt, muß  irgend  eine Lebensform oder  irgend  einen Lebensbegriff, sei es auch nur den des formzerstörenden Lebens, als  fest  voraussetzen. Das tut auch SIMMEL, indem er das Leben als Selbst-Überwindung  begreift,  und damit durchbricht er sein eigenes Prinzip. Er kennt die Schwierigkeit und spricht sie klar aus. Aber damit wird sie doch nicht beseitigt. SIMMEL kann seine  eigenen  Begriffe vom Leben nicht "lebendig" machen wollen, so daß sie im Lebensstrom untergehen, und trotzdem zugleich fortfahren, sie für die Begriffe zu halten, mit denen er die Wahrheit  über  das Leben erfaßt. Er hat also ein Problem gestellt, aber er hat es nicht gelöst, und man wird es auf diesem Wege nie lösen.

Was SIMMEL sagt, als Widerspruch erscheine seine These vom Leben  nur  in der logischen Reflexion, so ist dies "nur" logisch unverständlich, denn Widersprüche gibt es überhaupt "nur" in der logischen Reflexion. Sind es also in ihr Widersprüche, dann sind es unter allen Umständen Widersprüche, und das einschränkende "nur" verliert seine Bedeutung, die wir mit diesem Wort zu verbinden gewohnt sind. Gewiß kann der Mensch Schichten erreichen, in denen die logische Schwierigkeiten ihm nicht mehr Schweigen gebieten dürfen, ja er "lebt" vielleicht immer in solchen Schichten. Aber als  theoretischer  Mensch, der über die Welt nachdenkt, darf umgekehrt auch er den logischen Schwierigkeiten nicht Schweigen gebieten, sondern hat sich ihnen unterzuordnen, wo sie unzweideutig ihre Stimme erheben, und das geschieht überall, wo wir merken, daß unsere Gedanken sich widersprechen. Den Widerspruch muß der theoretische Mensch trotz HEGEL oder vielmehr wegen HEGEL meiden. Will er das nicht, so vermag er wohl zu leben, doch nicht über das Leben zu denken, und das will er doch als Philosoph.

Kurz, SIMMEL erklärt es einmal für ein "ganz philiströse Vorurteil", daß alle Probleme dazu da seien, gelöst zu werden (4), und dagegen ist dann freilich nichts mehr zu sagen. In der Wissenschaft werden wir aber wohl an diesem Vorurteil festhalten müssen, mag es auch noch so philiströs sein. Sonst ist nicht recht einzusehen, wozu wir überhaupt noch Wissenschaft treiben. Dies Vorurteil ist ein "Vorurteil" im Sinne eines a priori, wie KANT es lehrt.

Auch gibt es ja außerhalb der Wissenschaft kein Lebens problem,  das mit dem von SIMMEL gestellten identisch wäre, und wenn also sein Lebensproblem auf seinem Wege unlösbar bleibt, so zeigt das doch nur, daß wir bei seinen Gedanken in Wissenschaft nicht halt machen können. Gerade dieser Versuch, der uns in die Tiefe der Probleme geführt hat, weist uns zugleich darauf hin: in der hier eingeschlagenen Richtung kommt die Wissenschaft nicht weiter. Das aber heißt: für den theoretischen Menschen bedeutet SIMMELs Philosophie des Lebens, gerade weil sie so tief greift und so radikal verfährt, die gründlichste  Widerlegung  jeder Philosophie des bloßen Lebens, die es geben kann.

Das Leben bleibt das eine und das Denken über das Leben das andere. Man kann nicht aus dem einen und dem andern eine unterschiedslose Einheit machen wollen. Auch das wird gerade bei SIMMEL deutlich: die Philosophie des reinen Lebens ist nicht  nur  Produkt wissenschaftlicher oder überhaupt  logischer  Überlegungen, sondern ruht auch, ja hauptsächlich auf der  Liebe  zum lebendigen Leben. Liebe bedeutet für sich zwar gewiß etwas Herrliches, gibt aber noch kein Fundament für die Theorie. Erstreben wir eine Wissenschaft vom Leben, so brauchen wir feste, unlebendige Lebensformen.

Es ist nicht notwendig, daß wir sie darum im Realen suchen. Dort können wir sie vielleicht nie finden. Für das Wirkliche mag der Satz HERAKLITs, daß alles fließt, seine Geltung behalten, und insofern ist das Reale auch lebendig zu nennen. Darin hat die Lebensphilosophie Recht. Alles Wirkliche fließt im heterogenen Kontinuum des Inhalts. Um so notwendiger ist dann aber die Annahme einer "irrealen" Welt der Formen, die sich nicht wieder als lebendig denken läßt, auch dann nicht, wenn sie die Welt der Lebensformen ist. Gerade bei ihnen muß man betonen: Formen des Lebens sind keine lebenden Formen. Was lebt, ist nicht die Form selbst, sondern das Leben  in  dieser Form.

Nur darüber kann also gestritten werden, in welchem  Maße  feste Formen des Lebens bestehen, nicht darüber, ob wir überhaupt Formen des Lebens als "unlebendig" annehmen müssen. Wäre doch gerade der Begriff der dauernden Lebensveränderung aufgehoben, falls nicht das, was Voraussetzung jeder Veränderung ist, selber sich der Veränderung entzöge und dauerte. Sonst hörte ja eventuell eines Tages jede Veränderung auf. Das wird nie geschehen, so wenig wie die Veränderung je angefangen hat. Es gab immer Veränderungen und es wird immer Veränderung geben. Also sind die Formen jeder Veränderung unveränderlich.

Das bedeutet in unserem Fall: erst beide, der sich wandelnde Lebensinhalt und die wandellose Lebensform, bilden zusammen die lebendige Welt. Die Welt als Ganzes ist nicht lebendig, sondern das Leben  in  der Welt ist lebendig. Es gibt Leben im All, aber das All selbst ist nicht Leben. Es kann nicht alles fließen, nicht alles in Bewegung sein. Bewegung ist ein Relationsbegriff und setzt Unbewegtes voraus, im Verhältnis zu dem etwas sich bewegt. Das sollte man gerade im Zeitalter der "Relativitätstheorie" nicht vergessen.

Soviel über den Versuch, die Formen des Lebens, die nicht entbehrt werden können, in das Leben selbst hinzuziehen. Er wird nie gelingen.


Fünftes Kapitel
Das biologistische Prinzip

    "Geprägte Form, die lebend sich entwickelt."
        - Urworte -

Doch braucht man deshalb, weil auf den bisher betrachteten Wegen eine Lebensphilosophie nicht zu gewinnen ist, noch nicht an der Möglichkeit jeder Lebensphilosophie überhaupt zu verzweifeln. Nur zum Teil werden die Lebenstendenzen unserer Zeit von der außerwissenschaftlichen Vorliebe für das unmittelbare und anschauliche Leben gegenüber allem Abgeleitetem und Begrifflichem getragen. Mit der bloßen Anschauung ist beim Denken nichts anzufangen. Daher reicht das intuitive Prinzip für sich allein zum Aufbau einer Lebensphilosophie nicht aus. Das hat auch SIMMEL gesehen. Es geht nicht ohne Lebensform. Aber weil er den Lebensbegriff allumfassend nahm und seine Lebensphilosophie zu einer Metaphysik des Lebens steigerte, die jede Form wieder im Lebensstrom untergehen ließ, mußte er scheitern.

Ist man dagegen weniger anspruchsvoll, so wird man vielleicht weiter kommen, und die eigentliche  Modephilosophie  unserer zeit macht in der Tat wenig Ansprüche. Sie greift zu festen Formen, um aus dem erlebten Leben eine  Lehre  vom Leben zu machen, und sie meint, jeder Gefahr, sich vom Leben zu entfernen, entronnen zu sein, falls sie sich dabei nur an die Wissenschaft vom vitalen Leben oder von den Organismen, also an die Biologie hält. Diese Disziplin lehrt uns die festen Lebensformen kennen, und wie sollten diese Formen als Formen des Lebens nicht Leben sein? So kommt man zur Philosophie des Lebens.

Die Grundlagen der Biologie spielen nicht allein in der empirischen, sondern auch in der metaphysischen Lebensauffassung, nicht nur in dem theoretischen, sondern auch in dem praktischen Teil der modernen Weltanschauung, eine große, ja entscheidende Rolle. Solchen Gedanken haben wir uns jetzt zuzuwenden, um zunächst ihre Bedeutung als Philosophie zu verstehen. Dann können wir auch zu  der  Lebensphilosohie kritisch Stellung nehmen, in der wir die eigentliche Mode der Zeit sehen müssen. Das Vorangegangene bildet dazu nur die Vorbereitung.

Wir kommen mit der Philosophie der biologischen Lebensformen schon deshalb auf einen neuen Boden, weil wir die verwirrende Fülle der "Erlebnisse" jetzt mit einem Schlage los sind. Wir erhalten ein  Prinzip  der  Auswahl,  das der intuitiv gerichteten Lebensphilosophie fehlt und fehlen muß. Im organischen Leben der Pflanzen und Tiere, zu denen auch der Mensch gehört, haben wir das, worauf es in der Lebensphilosophie eigentlich ankommt, das lebendige Leben im Unterschied von der toten Natur. So wird der weite und unbestimmte Lebensbegriff verengert und damit erst in Wahrheit zum Begriff gemacht. Mit den Erlebnissen überhaupt in ihrer Gesamtheit hat es die Naturwissenschaft von den Organismen ja nicht zu tun. Sie handelt nur von dem Teil der Welt, den wir in allgemein verständlicher und üblicher Weise "lebendig" nennen, im Gegensatz zu dem Teil, mit dem es die Physik, die Chemie, die Astronomie zu tun haben. Wegen der großen Vieldeutigkeit dieses Lebens, wo Mißverständnisse möglich sind, vom  vitalen  Leben reden. Man wird verstehen, daß das keinen Pleonasmus bedeutet.

Zugleich verstehen wir auch, warum sich mit den biologischen Begriffen die allgemeinsten Tendenzen der intuitiven Lebensphilosophie, d. h. das Verlangen nach Anschaulichkeit und Unmittelbarkeit verknüpfen. Die Physik, besonders als mechanische Naturauffassung, gibt viel weniger von dem, was wir unmittelbar und anschaulich erleben, als die Biologie.

Man kann die Naturwissenschaften geradezu danach anordnen, wie weit sie sich von dem Inhalt der Erlebniswirklichkeit entfernen. Je umfassender ihre Theorien sind, um so weniger nehmen sie von der Fülle des Besonderen in sich auf. Was in einen rein mechanischen Begriff eingeht, läßt sich überhaupt nicht mehr unmittelbar "anschauen", falls man den Begriff des Unmittelbaren nicht so erweitern will, daß er auch das isoliert gedachte Quantitative umfaßt. Die Chemie steht der Unmittelbarkeit der anschaulichen Erlebniswirklichkeit schon näher, und vollends ist der Inhalt der biologischen Begriffe dem Inhalt dessen, was wir intuitiv erleben, mehr verwandt.

Das braucht nicht genauer ausgeführt zu werden. Es genügt der Hinweis darauf, daß der wissenschaftliche Mensch selber ein Lebewesen ist, wie die Biologie es erforscht, und nichts unmittelbarer zu erfassen vermag, als sich in seiner unmittelbaren vitalen Lebendigkeit. Schon daraus verstehen wir, warum die intuitive Richtung des Denkens sich leicht mit der Orientierung an der Biologie verknüpft. Ob das in Wahrheit berechtigt ist, fragen wir zunächst nicht. Es gilt hier nur zu verstehen, wie die Verbindung von Biologie und Intuitionismus zustande kommt.

Doch bedeutet das zugleich nur die eine Seite der Sache. Soll aus der Lebenslehre, die an der Biologie orientiert ist, Philosophie, d. h.  universale  Wissenschaft vom Weltall werden, so muß man nach der vollzogenen Beschränkung auf Begriffe, die sich auf einen Teil der Welt beziehen, das Gebiet auch wieder erweitern. Die auf dem Boden der Biologie gefundenen Einsichten sind auf andere Sphären, wenn möglich auf das Ganze, zu übertragen. Sonst kommt man nicht zu einem wahrhaft kosmischen Denken. Es ist also nötig, daß man d as Weltall  biologisiert,  falls eine "Weltanschauung" auf biologischer Grundlage entstehen soll. Die biologische Form wird zur Lebensform überhaupt und dann zur Weltform gemacht. Deswegen trägt die Lebensphilosophie unserer Zeit, soweit sie sich nicht auf den Intuitionismus zurückführen läßt, meist den Charakter des  naturalistischen Biologismus. 

Auch das Wort Vitalismus wäre für sie geeignet, doch hat dieser Ausdruck eine engere und allgemein festgelegte Bedeutung. Wir sprechen daher, wo Mißverständnisse möglich sind, von der biologistischen Modephilosophie.

Ihr Wesen kommt freilich, ebenso wie das des Intuitionismus und die außerwissenschaftliche Lebensliebe, nicht allen ihren Vertretern zum Bewußtsein. Ja, einige von ihnen würden es wohl entschieden bestreiten, daß sie biologische Kategorien zu Weltkategorien machen wollen. Bei der Darstellung der Zeitphilosophie wurde deswegen absichtlich nicht von Biologismus gesprochen. Das Aufzeigen des biologistischen Prinzips oder der Gleichsetzung von biologischer Form mit Lebens- und Weltformen überhaupt, liegt schon auf dem Weg zur Kritik der Lebensphilosophie. Der Biologismus als Weltanschauung ist nur dort möglich, wo man den engeren, spezialwissenschaftlichen Lebensbegriff nicht von dem scheidet, nach dem alles, was wir "erleben", zum Leben gerechnet wird. Auf der Vermengung der beiden Formen des Lebens beruht, abgesehen von der Hineinziehung des intutitiven Moments, geradezu das  Prinzip  des Biologismus. Die Sprache trägt mit dem vieldeutigen Wort Leben dazu bei, es zu verdecken, und bildet so eine wesentliche Stütze der modernen Lebenstendenzen.

Es ist also für den Biologismus charakteristisch, daß die verschiedenen Bedeutungen, die das Wort Leben hat, darunter auch die, welche ihm heute den Zauber verleihen, bei seiner Verwendung  mitklingen, daß aber zugleich alle Lebensbegrife ihre besondere  Färbung  durch das naturwissenschaftlich-biologische Denken erhalten. Man glaubt, das erlebte Leben in seiner Ursprünglichkeit, Unmittelbarkeit und irrationalen Anschaulichkeit sei die eigentliche Wirklichkeit, und man meint zugleich, die Biologie allein als Wissenschaft von der lebendigen, d. h. organischen Natur sei mit ihren Lebensformen dazu berufen, die Begriffe für die gesamte Philosophie zu liefern und damit eine Philosophie des Lebens als universale Wissenschaft nach allen Seiten hin auszubauen.

Wenn man hierauf achtet, rücken manche scheinbar durch eine weite Kluft getrennte Richtungen in der Philosophie unserer zeit einander überrauschend nahe. Es wird nun möglich, von einer  einheitlichen Modephilosophie  zu sprechen. In ihr biologistisches Formprinzip haben wir zunächst noch mehr hineinzudenken, um es in seinen verschiedenen Ausgestaltungen kennen zu lernen, und dann kritisch zu ihm Stellung zu nehmen.

Damit wir ganz verstehen, was der Biologismus als Weltanschauung bedeutet, und warum das biologische Prinzip philosophisch brauchbar erscheint, obwohl es einer Spezialwissenschaft entnommen ist, erinnern wir uns auch an die besondere Bedeutung von Weltanschauung, welche die "Lebensanschauung" mit einschließt, und auf Grund deren wir sagen, daß die Philosophie den ganzen Menschen angeht, d. h. nicht nur den denkenden, sondern auch den wollenden und handelnden.

Überall, wo man nach einer Weltanschauung in diesem Sinn sucht, ist der zentrale Begriff, an dem man sich orientiert, der eines  Wertes  oder der eines Gutes als einer Wirklichkeit, die nicht darin aufgeht, da zu sein, sondern an der ein Wert haftet, um dessentwillen sie sein soll. man will mit anderen Worten in der Philosophie den "Sinn" des menschlichen Lebens kennen lernen, und dieser Sinn läßt sich nur dadurch deuten, daß man die Werte zum Bewußtsein bringt, die ihm zugrunde liegen. Werte allein verleihen dem Leben Sinn, und eine Philosophie, die Lebensanschauung geben will, muß daher Wertlehre sein.

Hiervon macht die biologistische Modephilosophie keine Ausnahme, wenn sie auch das Wort Wert in manchen ihrer Formen nicht liebt und vollends über den  Begriff  des Wertes und seinen Unterschied vom Begriff des Wirklichen, das als nur Wirkliches wertfrei ist, keine Klarheit besitzt. Sie möchte sogar  Imperative  für das Leben aufstellen, also die Lebensformen zugleich als Lebensnormen  verwenden, und das läßt sich ohne Werte, die gelten, und an denen die Normen gemessen werden können, nicht ausführen. Es ist für den modernen Biologismus sogar besonders charakteristisch, daß er im Leben nicht nur das wahrhaft erlebte und deshalb wahrhaft wirkliche  Sein,  sondern zugleich das  Gut aller Güter  sieht, das allein die wahrhaft gültigen Werte trägt. Alle Werte also, die gelten sollen, sind als Lebenswerte zu erweisen, d. h. als Werte, die am Leben haften, bloß darum, weil es Leben ist.

Erst, wenn wir auch hierauf ausdrücklich die Aufmerksamkeit lenken, verstehen wir die Beliebtheit und die weite Verbreitung der Meinung ganz, daß nur mit Hilfe einer an der Biologie orientierten Lebensphilosophie wir endlich zu einer wahrhaft wissenschaftlichen Weltanschauung kommen werden, die sowohl die Seinsprobleme, als auch die Wertprobleme zu lösen vermag. Der Biologismus gibt nicht nur eine theoretische, sondern auch eine praktische Philosophie.

Wo man nun für die "praktische" Seite des Biologismus nach einer wissenschaftlichen Begründung sucht, bietet sich vor allem die Begriffe des  aufsteigenden  und des  niedergehenden  Lebens dar. Blühen und Verwelken sind die beiden einander entgegengesetzten Formen, die jedes lebendige Leben zeigt, und aus ihnen sind die Lebensnormen zu gewissen. Leben ist mit anderen Worten stets  mehr  oder  weniger  lebendig. Es kennt graduelle Abstufungen und unterscheidet sich dadurch vom Toten, das nicht mehr oder weniger tot sein kann, falls es nicht zugleich noch irgendwie lebendig ist. Im Lebendigen und  nur  in ihm gibt es Komparative in zwei Richtungen:  höher  und  niedriger,  steigend oder sinkend. Das Tote kennt solche Gegensätze seiner Formen nicht, und gerade dieser Umstand wird für die Philosophie des Lebens als Lebensanschauung oder als "praktische" Philosophie grundlegend. Das aufsteigende, sich entfaltende, emporblühende Leben allein ist wahrhaft lebendig. Es  soll  daher sein, während das niedergehende, sinkende und verwelkende nicht sein soll, negativ werthaft oder wertfeindlich ist, da es zum Tode führt.

In diesem Gegensatz der Lebensformen glaubt man einen rein  biologischen  Wertgegensatz zu haben, und man wird darin durch den Umstand bestärkt, daß man dafür auch die naturwissenschaftlich klingenden Namen der  Gesundheit  und  Krankheit  verwenden kann. In der Steigerung des gesunden Lebens ruht das biologisch begründete  Ideal der "natürliche Wert", ohne den eine umfassende Philosophie, die nicht allein das Weltobjekt, sondern auch die Stellung des Subjektes zur Welt verstehen will, nicht auskommt. So wird die feste Lebensform zur Lebensnorm, and er alle Normen zu messen sind, und nun kann man glauben, sich dem Leben gegenüber Richtung gebend und Wege weisend nur in der biologisch naturwissenschaftlichen Sphäre zu bewegen.

Zunächst wendet man die Lebensform als Norm auf das einzelne Individuum an. Seine Lebendigkeit oder Gesundheit ist sein natürliches und zugleich philosophisch begründetes Lebensziel. Wer auf das aufsteigende Leben nicht den Schwerpunkt legt, muß ein Entarteter genannt werden. Er sollte nicht leben. Sein Untergang bedeutet ein Glück wie die Ausmerzung alles Krankhaften. Der Philosoph ist zum Arzt geworden. Dieser allein hat zu bestimmen, was gut und böse ist. Die Grundbegriffe einer umfassenden  Lebensethik  müssen sich von hier aus ableiten lassen.

Bei dem einzelnen Individuum aber kann es nicht sein Bewenden haben. Wenn alles auf die Förderung der Gesundheit, auf das Maximum der Lebendigkeit ankommt, dann gibt es auch für die menschliche  Gattung  kein anderes als dieses biologisch begründete Lebensziel. Die Gesellschaft, das Volk, eventuell die ganze Menschheit, sie sollen möglichst lebendig leben. Ja, erst die Gattungsgesundheit ist in Wahrheit das höchste Gut, weil ohne sie auch die Individuen nicht richtig leben können. Was wir zu tun haben, umd dem Gattungs- oder Menschheitsfortschritt in der Richtung der größten Lebendigkeit oder Vitalität zu fördern, das ist die Frage aller Fragen, das Grundproblem der Lebensanschauung, von dessen Lösung schließlich die gesamte Weltanschauung abhängt, und die Antwort kann selbstverständlich wieder nur eine biologisch orientierte Philosophie geben. Als Gattungshygiene erreicht sie ihre höchste Bestimmung.

So verstehen wir, wie aus den Lebensformen der Biologie sich eine Philosophie des Lebens entwickelt, die diesen Namen verdient. In dem vermeintlich naturwissenschaftlichen Lebensbegriff der Gesundheit besitzt sie das  Prinzip,  welches wir bei den anderen Arten der Lebensphilosophie vermissen.

Doch Hygiene im eigentlichen Sinn des Wortes kann sie nicht bleiben. Hat man einmal in der Lebensform der gesunden, aufsteigenen, lebendigsten Vitalität den entscheidenden Lebenswert gefunden, so muß man von hier aus die Normierung auch auf solche Gebiete erstrecken, deren Werte üblicherweise keine biologisch klingenden Namen führen.

Nehmen wir, um an eines der bekanntesten Beispiele zu erinnern, das Gebiet der Politik, und denken wir an die biologische Lehre, daß das Vehikel alles Fortschritts die "natürliche Auslese" ist. Daraus ergibt sich für den Biologismus die Folgerung: wo diese Lebensform in ihren Wirkungen gehemmt wird, muß eine Gesellschaft oder ein Volk notwendig entarten, d. h. in seiner Lebenskraft und Vitalität zurückgehen. Es kommt also darauf an, das Naturgesetz der Auslese, das zugleich das Gesetz des Fortschritts ist, auch im Staate walten zu lassen. Nicht  ob  die Politiker von der Biologie etwas lernen können, sondern nur  was  sie ihr zu entnehmen haben, steht in Frage. Man weiß, wie viele Versuche schon gemacht worden sind, mit Hilfe biologischer Lebensformen Staatsideale aufzustellen.

Auch für anderen Gebiete hat es an Bestrebungen dieser Art nicht gefehlt. Die Form aufsteigenden Lebens gilt schließlich als Formel für den Sinn der  gesamten Kultur,  und von biologischen Einsichten hängt daher aller  Kulturfortschritt  ab. Mit den Lebensformen und Lebensnormen der Biologie hat nicht nur unser Denken, sondern auch unser Wollen, Fühlen und Handeln zu harmonieren.

Die Zeiten sind also endgültig vorbeit, in den wir Ideale außerhalb des Lebens suchen durften. Als das geschah, waren die Menschen Träumer, die lebensfremden Trugbildern nachjagten. Wissenschaft vom Leben gab es damals noch nicht. Nun ist sie da, und nun ist der Traum ausgeträumt. Nur dem Begriffe des aufsteigenden Lebens darf man noch die sittlichen Forderungen entnehmen, für Liebe und Ehe, Familie und Erziehung. Die wahrhaft wissenschaftliche Ästhetik hat eine lebendige Kunst zu verlangen. Auch die Wissenschaften müssen in den Dienst des Lebens treten. So mag man noch viele andere Kulturgebiete biologisch erst wahrhaft zu würdigen imstande sein. Sogar der Glaube an das Übersinnliche läßt sich durch die Biologie stützen. Religion gewinnt Existenzberechtigung, sobald sie die Völker im Kampf ums Leben tüchtig macht.

Kein Wunder, daß es unter diesen Umständen schließlich nicht an Versuchen fehlt, die so oft lebensfremd gewordene  Philosophie  durch die Biologie wieder in die richtigen Bahnen zu lenken. Man muß ihr Wesen nur darin erblicken, daß sie uns die Welt so denken lehrt, wie es dem aufsteigenden Leben am förderlichsten ist. Damit begreift dann der Biologismus sich selber biologisch und schließt seine Lebensanschauung zu umfassender Weltanschauung ab.

So haben wir das allgemeine biologistische Prinzip erfaßt und aus ihm heraus die früher dargestellten Tendenzen der Lebensphilosphie, die in ihrer Unbestimmtheit zum Teil vielleicht schwer greifbar erschienen, erst gründlich verstanden. Das entscheidende Moment ist, daß diese Philosophie ein klares  Formprinzip  besitzt. Ihre Formen dürfen nur Lebensformen sein, und diese sind der Wissenschaft vom Leben, d. h. von den Organismen zu entnehmen. Es gilt, sie so auszugestalten, daß aus ihnen Formen und Normen für  alles  Leben und schließlich für die Welt entstehen.


Sechstes Kapitel
Älterer und neuerer Biologismus

  "Während es für den Darwinisten überall da keinen Daseinskampf gibt, wo die Existenz des Geschöpfes nicht bedroht ist, ist für mich der Lebenskampf ein allgegenwärtiger: Er ist eben primär ein Lebenskampf, ein Kampf um Lebens- mehrung, aber kein Kampf ums Leben!"
        - W. H. Rolph [1881] -

Doch diese Aufzeigung des biologistischen Formprinzips in seiner Allgemeinheit genügt noch nicht, wenn man die Lebensphilosophie der Zeit ganz durchschauen und so die kritische Stellungnahme zu ihr vorbereiten will. Sehen wir genauer zu, so zeigt sich, daß es  verschiedene Richtungen  im Biologismus gibt, die sich trotz der gemeinsamen Grundlage heftig bekämpfen, und erst wenn wir auch auf den Gegensatz achten, der diesem Streit zugrunde liegt, wird die philosophische Mode unserer Zeit, die nur eine besondere Form des Biologismus überhaupt darstellt, sich in ihrem Wesen ganz enthüllen.

Zunächst bringen wir die in sich widerspruchsvolle Mannigfaltigkeit biologistischer Lebensideale an einem besonderen Beispiel zum Bewußtsein. Charakteristisch dafür ist vor allem die Ethik oder die praktische Lebensphilosophie, und zwar liegt es am nächsten, in ihr wieder das schon genannte Gebiet herauszuheben, auf dem die praktische Philosophie besonders "praktische" wird, nämlich die Probleme des Staates und der Gesellschaft (5). Welches sind die politischen und die sozialen Ideale des Biologismus, wenn wir ihren besonderen Inhalt betrachten, auf Grund dessen sie Lebensprogramme bilden?

Es muß auffallen, daß fast jede sozialpolitische Richtung in der biologistischen Lebensphilosophie ihre theoretische Stütze gesucht und gefunden hat. Bei einem schematischen Überblick darüber, der genügt, um dies zu zeien, verbinden wir das Begriffspaar des Sozialismus und Individualismus mit dem von Demokratie und Aristokratie. Dann entstehen vier Gruppen von Tendenzen: die individualistisch-demokratischen, als der "Liberalismus" und das sogenannte Manchestertum, die sozialistisch-demokratischen, die im Marxismus (selbstverständlich nicht bei MARX selbst) ihren interessantesten Ausdruck gefunden haben, die invidualistisch-aristokratischen, deren bekanntester Wortführer FRIEDRICH NIETZSCHE ist, und endlich die Bestrebungen, deren Vertreter sich selber Sozial-Aristokraten bezeichnen (6).

Jede dieser vier Richtungen muß die andere bekämpfen und tut es. Aber in einem Punkte herrscht trotzdem Übereinstimmung: drei von ihnen haben die Geltung ihrer Ideale ausdrücklich auf die moderne Biologie zu gründen versucht, und bei der vieren, d. h. bei NIETZSCHE, kann man leicht zeigen, daß wenigstens für die Entstehung der Gedanken biologische Begriffe von ausschlaggebender Bedeutung waren.

Niemand hat so ausführlich demokratisch-individualistische Überzeugungen auf dem Boden des evolutionistischen Biologismus gerechtfertigt, wie HERBERT SPENCER. Natürliche Auslese und Anpassung sind die Grundbegriffe seiner Ethik, und das allgemeine Prinzip kann man etwa so andeuten: will man die Entwicklung des sozialpolitischen Lebens und seine Ziele verstehen, so muß man selbsterhaltende und arterhaltende Handlungen voneinander unterscheiden. Zwischen ihnen herrscht vorläufig noch Streit, da dieser jedoch unlustvoll und schädlich ist, so wird der natürliche Ausleseprozeß dahin führen, daß die selbsterhaltenden Handlungen immer zugleich auch arterhaltende werden, und die höchste Stufe der Kultur ist dann erreicht, wenn jeder jeden anderen nicht nur nicht stört, sondern positiv fördert.

Dieser Zustand aber setzt voraus, daß auch die natürliche Ungleichheit der Menschen und das durch sie bedingte Überragen des Stärkeren immer mehr verschwindet. So muß das biologisch-politische Ideal  demokratisch  sein. Doch wäre jedes Eingreifen in den natürlichen Entwicklungsprozeß verfehlt. Der Staat hat sich nur um das Recht zu kümmern und die Bürger gegen juristische Übergriffe zu schützen. Versucht er, Organisationen auch des wirtschaftlichen Lebens zu schaffen, so hält er damit den natürlichen, biologisch zu begreifenden Entwicklungsprozeß auf. Fabrikgesetzgebung, staatliche Armenpflege usw. setzen nur die natürliche Auslese außer Kraft. Was nicht durch eigene Stärke gedeihen kann, soll nach den Gesetzen der Natur zugrunde gehen.

Das demokratische Ideal eines harmonischen Zusammenwirkens von freien, gleichberechtigten Menschen kann nur auf natürlichem Wege, also nur erreicht werden, wenn es aus der natürlichen Anpassung hervorgegangen ist. Nur dann wird es auch dauernd bestehen. Der  Sozialismus  ist deshalb ein Unglück. Er glaubt, das soziale Leben bessern zu können, indem er das Grundgesetz allen Lebens: das Fortschrittsgesetz der natürlichen Auslese durch freie Konkurrenz, in seinen segensreichen Wirkungen stört oder aufhebt. So muß es zu individualistisch-demokratischen Idealen kommen.

In den demokratischen Zielen sind die Marxisten mit SPENCER zwar einig, aber über den Weg, der nach biologischen Prinzipien zu ihnen hinführt, denken sie genau entgegengesetzt. Freilich, die natürliche Auslese und die freie Konkurrenz sind die Hebel allen Fortschritts in der freien Natur. Doch diese darf man nicht mit der bestehenden Gesellschaftsordnung verwechseln. In ihr unterdrückt vielmehr eine kleine Minderheit, die sich im Besitz des Kapitals befindet, alles, was an lebenskräftigen Keimen in den großen Massen zum Lichte ringt. Es wird tot gemacht: nicht durch das natürliche Recht des Stärkeren, sondern durch die widernatürliche Brutalität des Erbkapitalismus. Dieser setzt für die Menge des Volkes das Gesetz der Auslese außer Kraft, ja nicht einmal in den Kapitalistenkreisen kann man noch von natürlicher Auslese reden, denn hier wird künstlich aufgepäppelt, was krank und schwach ist und zugrunde gehen sollte. Eine Anpassung erfolgt auch hier, aber an ein unnatürliches Milieu, und so verkehrt sich der natürliche Fortschritt notwendig in sein Gegenteil.

Nach biologischen Prinzipien gibt es nur ein Mittel, die natürlichen Verhältnisse wieder herzustellen: befreit die Menschheit von ihrem Erbfeinde, dem Erbkapital. Gebt allen den gleichen Anteil am Kollektiveigentum und die gleiche Möglichkeit zur Betätigung ihrer Kräfte, wie jedes Tier in der freien Natur sie hat, wo Luft und Sonne, Futter und Wohnung allen gehören. Dann allein herrschen die Bedingungen, unter denen die Lebewesen von den Protisten bis zu den Menschen fortgeschritten sind, und ungeahnte Zukunftsherrlichkeiten werden sich entwickeln. Der Gedanke daran, daß dieses revolutionäre Ideal dem biologischen Prinzip der allmählichen Entwicklung widerspreche, schreckt die Marxisten nicht. Sie weisen auf biologische Vorgänge, wie z. B. auf den der Geburt hin. Die sozialistische Gesellschaftsordnung ist längst "reif" geworden, und plötzlich, wie der Vogel die Eierschale durchbricht, wird sie ans Licht treten. Den Leitern des Staates fällt dabei die Rolle des Geburtshelfers zu.

Es ist nicht nötig, noch andere Punkte des sozialdemokratischen Biologismus hervorzuheben, wie den Kampf gegen die stehenden Heere, welche die Auslese mit Rücksicht auf das geschlechtliche Leben stören, die kräftigsten Individuen in den besten Jahren von der Zeugung fernzuhalten, sie der Prostitution zutreiben, sie unfruchtbar machen usw. Stets handelt es sich darum, daß die moderne Kulturentwicklung den Ausleseprozeß hemmt und deswegen vom biologischen Standpunkt zu verurteilen ist. Das mag genügen, um die sozialistisch-demokratischen Ideale des Biologismus zu charakterisieren.

Die Demokratie hat keinen leidenschaftlicheren Feind gehabt als NIETZSCHE, aber wie eng hängt auch sein radikal-aristokratisches und individualistisches Ideal des Übermenschen nicht nur mit dem allgemeinen Lebensprinzip überhaupt, sondern auch mit der modernen Biologie im Besonderen zusammen. Man lese die wenigen Verse des ZARATHUSTRA, mit denen die Lehre vom Übermenschen eingeführt wird. Dann sieht man, wie der Gedanke eines über den Menschen hinaus sich entwickelnden Wesens, den man übrigen als Hoffnung auf "Supravertebraten" auch bei dem bekannten Biologen RAMON y CAJAL finden kann, mit biologischen Gedanken in Verbindung steht. Auch führte schon der junge NIETZSCHE gegen die von STRAUSS mit der Biologie noch für verträglich gehaltene Humanitätsideale ausdrücklich und bewußt biologische Begriffe ins Feld, um seine aristokratische Lebensauffassung zu rechtfertigen, und an diesen Idealen hat er festgehalten.

Der Stärkere soll über den Schwächeren herrschen, so will es die Natur, unsere Lehrmeisterin. Die natürliche Ungleichheit ist das Vehikel allen Fortschritts und jede Sklavenmoral, die das Recht des "Herrn" in Frage stellt, bedeutet daher Niedergang und Verderbnis. Auf das einzelne, überragende Individuum kommt es an, ja manchmal klingt es so, als wolle NIETZSCHE es nach biologischen Prinzipien züchten. Jedenfalls: unter dem Zeichen der "Rückkehr zur Natur" stehen diese Gedanken, nur daß es nicht die idyllische, harmonische Natur ROUSSEAUs, sondern die Kampfnatur der modernen Biologie ist. Von ihr aus verwirft NIETZSCHE Demokratie und Sozialismus. Freilich gibt es auch sozial lebende Tiere, aber in ihrer Herdennatur steckt nichts Großes. ZARATHUSTRAs Lieblinge sind die Adler und Löwen, und will man sich wundern, daß, wenn überhaupt die lebendige Natur der Wertmaßstab sein soll, er sich gerade diese Lebewesen als Vorbilder aussucht? Ist der Individualismus nicht ebenso konsequent aus der Biologie entwickelt, wie die demokratischen Ideale SPENCERs und der Marxisten?

Die Sozialaristokraten endlich können sich, soweit das Aristokratische in Betracht kommt, auf NIETZSCHE stützen, aber sie kehren wieder mehr zum Herdenideal zurück. NIETZSCHE hat, so meinen sie, darin Recht, daß die Demokratie der Tod alles biologischen Fortschritts wäre. Inbesondere die christlich-demokratische Nächstenmoral, die Caritas, die mitleidig jedem helfen will, steigert durch ihre Schwäche nur Elend und Verkommenheit, weil sie die natürliche Auslese hemmt. Trotz des aristokratisch-biologistischen Prinzips dürfen wir aber nicht die vereinzelten Individuen, sondern nur die Gattungen ins Auge fassen und müssen daher eine Gesellschaftsordnung zerstören, in der nur dem degenerierten Erbkapitalisten alles offen steht, dem lebenskräftigsten Proletarier dagegen jeder Weg zur Höhe verschlossen ist. Wir sollen also doch einander helfen, nur nicht dem "Nächsten", wie das demokratische Christentum es will, sondern dem Besten, damit so die Gattung in die Höhe kommt. Das Leben ist, wie die Biologie zeigt, notwendig Kampf. Doch nicht allein die Individuen kämpfen miteinander, sondern vor allem die Rassen, die Gruppen, die Völker, und deswegen müssen nicht so sehr aristokratische Individuen, als vielmehr aristokratische Staaten und Gesellschaften unser Ziel sein.

So entsteht die Vereinigung des Sozialismus mit der Aristokratie auf biologistischem Boden. Je höher ein Volk als Ganzes durch die soziale Auslese sich hebt, je mehr durch das Walten des natürlichen Fortschrittsgesetzes sein Durchschnittsniveau steigt, um so höher werden auch die Spitzen des Volkes, die großen Individuen, ragen. Diese Ansichten liegen gewissermaßen zwischen denen der Marxisten und NIETZSCHEs, zugleich beide bekämpfend, und bilden den diametralen Gegensatz zu SPENCERs individualistischer Demokratie. Auch darauf sei noch hingewiesen, daß, währen bei den drei anderen biologistischen Richtungen ein ausgesprochen internationaler Zug vorherrscht, die Sozialaristokraten die Nation in den Vordergrund stellen. Es wird z. B. der Versuch gemacht, die Deutschen als das eigentliche Aristokratenvolk von Lebewesen besonders in einen Gegensatz zu den Franzosen zu bringen, die infolge des jedem Ausleseprinzip hohnsprechenden praktischen MALTHUSianismus dem biologischen Untergang geweiht sind.

Die flüchtige Skizze, die überall nur den entscheidenden Punkt andeuten sollte, kann genügen, um zu zeigen, wie bunt die Bestrebungen aussehen, die dem Versuche entsprungen sind, aus den Begriffen der modernen Biologie Ideale für das Leben abzuleiten. Wir stehen vor einem merkwürdigen Schauspiel: ein biologisch orientierter Denker beweist immer das Gegenteil von dem, was der andere aus den Lehren der Biologie für die Sozialpolitik folgert. Nicht nur die Mittel zur Erreichung der Ziele, die sich auf das wirtschaftliche Leben beziehen und dann entweder zu individualistischen oder sozialistischen Tendenzen führen, sondern auch die Ziele selbst stehen in schroffem Gegensatz zueinander. Das Ideal wird hier aristokratisch, dort demokratisch, und beides soll die Konsequenz biologistischer Theorien sein.

Besonders für die Uneinigkeit in der Zielsetzung, also für den Kampf der "aristokratischen" mit den "demokratischen" Tendenzen, die hier im weitesten Sinn zu nehmen sind, müssen wir nun die Gründe kennenlernen, insofern sie mit Verschiedenheiten innerhalb der biologischen Begriffe zusammenhängen. Im Anschluß daran wird dann zu konstatieren sein: es gibt eine  ältere  Richtung des Biologismus, die besonders bei SPENCER und den an DARWIN orientierten Marxisten zutage tritt, und die heute nicht mehr als ganz zeitgemäß gelten kann. Ihr ist endlich der eigentlich  moderne  Biologismus entgegenzustellen, dem wenigstens mit einem Teil ihrer Gedanken die Modephilosophen unserer Zeit, wie NIETZSCHE und BERGSON, angehören. Um sie ganz zu verstehen und zu beurteilen, werden wir jedoch auch die ältere Richtung noch genauer kennzeichnen, denn es ist nicht nur durch den Gegensatz zu ihr die neue Strömung besonders klar zu machen, sondern es spielt die ältere Tendenz zugleich in die neue noch immer hinein. Die begriffliche Scheidung erfolgt hier, ebenso wie die Trennung von Intuitionismus und Biologismus überhaupt, im Interesse einer kritischen Stellungnahme.

Es hat Lebensphilosophie gegeben, lange ehe das Wort Leben Modeschlagwort war. Sie ging von den Theorien DARWINs aus, und wir dürfen den älteren Biologismus kurz darwinistisch nennen, obwohl er nicht von diesem großen Naturforscher selbst, sondern von anderen Denkern auf Grund der Biologie DARWINs ausgebildet worden ist. Soll auch DARWINs Bedeutung für diesen Zusammenhang deutlich werden, so müssen wir fragen, wie es kam, daß seine spezialwissenschaftliche Theorie überhaupt zu philosophischen Konsequenzen führte. Dabei ist wichtig, daß er seine Lehren nicht allein im Anschluß an die Natur, sondern zugleich im Zusammenhang mit der Bevölkerungstheorie von MALTHUS entwickelte. Er knüpfte nämlich damit an Begriffe an, die sich von vornherein auf menschliches Kulturleben bezogen. Deshalb fiel es nicht schwer, seine biologischen Lehren wieder auf das Kulturleben zurück zu übertragen, also mit ihnen Fragen des wissenschaftlichen, sittlichen, künstlerischen Lebens in Angriff zu nehmen, die als philosophische Fragen gelten.

Zum Verständnis ist nur noch an eine bekannte Tatsache zu erinnern. Nach MALTHUS steht die Zunahme der Bevölkerung in ungünstigem Verhältnis zur Zunahme der Nahrungsmittel. Darauf wurde DARWIN aufmerksam, als er die "Entstehung der Arten" zum Problem machte, und er suchte nun die Veränderungen im Reiche der Organismen, die es zu erklären galt, auf den Kampf um die Nahrung zurückzuführen, der überall eintreten muß, wo Lebewesen sich regen, wenn auch das Wort "Kampf" bei Pflanzen selbstverständlich nur in übertragener Bedeutung zu gebrauchen ist. So wird das Prinzip von MALTHUS erweitert und auf die gesamte organische Natur angewendet. Da nicht allein in der Menschenwelt, sondern bei zunehmender Menge der Lebewesen überall auf die Dauer nicht genug Nahrungsmittel vorhanden sind, entsteht der vielgenannte "Kampf ums Leben", oder wie man in Deutschlang gewöhnlich übersetzte, ums "Dasein", was zeigt, daß damals "Leben" noch nicht Schlagwort der Mode war. Sonst hätte man sich den Ausdruck  life  nicht entgehen lassen. Sachlich kommt es darauf an, daß  die  Individuen sich am besten im Leben oder Dasein erhalten, die den Bedinungen, unter denen sie existieren, am besten angepaßt sind und dadurch am erfolgreichsten den Kampf um die Nahrung zu führen vermögen. Dasselbe gilt von den Gattungen. So entstehen die Arten durch natürliche Auslese, indem die am besten angepaßten allein übrig bleiben. Kurz, die Entstehung der Arten wird, wie es schon im Titel von DARWINs Hauptwerk präzise angegeben ist, begriffen durch den Gedanken an die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe ums Leben.

Betrachten wir nun die philosophische Bedeutung dieser Theorie, so steckt sie besonders im Ausleseprinzip, und es ist zu bemerken, daß es trotz seiner biologischen Verwendung einen  mechanistischen  Charakter trägt. Gerade dieser Umstand verschaffte ihm im älteren Biologismus sein philosophisches Ansehen. In abstrakter Formulierung ist das Prinzip uralt und schon früh mit der antiteleologischen Tendenz benutzt worden, die Annahme wirkender Naturzwecke überflüssig zu machen. Es scheint hiermit das größte Hindernis hinweggeräumt, das einer einheitlichen Erklärung des Weltganzen im Wege steht. An dem Reich der offenbar zweckmäßigen Organismen, glaubte man, müsse der Mechanismus scheitern. Der Begriff der natürlichen Auslese und der durch sie bedingten Anpassung haben diesen Stein des Anstoßes beseitigt.

Allerdings, so sagt man, sind die Organismen zweckmäßig, aber das wird verständlich ohne  wirkenden  Zweck, und nur dieser bringt in den Naturmechanismus störende teleologische Elemente. Ohne Absicht entsteht eine Fülle der verschiedensten Gebilde, von denen "zufällig" einige angepaßt sind. Nur diese leben und pflanzen sich fort, während die anderen notwendig zugrunde gehen. Organismen erhalten sich also nicht deshalb. weil unbekannte und naturwissenschaftlich unbegreifliche Kräfte sie zweckmäßig bilden, sondern wir  nennen  das zweckmäßig, was unter der Menge der verschiedensten, mechanisch entstehenden Formen gerade so geworden ist, daß es bestehen bleiben konnte. Wo dann der Kampf ums Dasein die natürliche Auslese vornimmt, müssen die Organismen "von selbst" auch immer angepaßter und zweckmäßiger werden.

Hieraus verstehen wir, wie blind mechanische Kräfte die Welt des scheinbar Absichtlichen und Planvollen hervortreiben. Nichts steht hiernach mehr der Durchführung einer mechanistischen Weltanschauung entgegen. Wir haben nur in jeder Wirklichkeit, die eine wirkende Vernunft zu bezeugen scheint, eine Selektionsprodukt zu erblicken. Auch der "Geist" ist dann begriffen als natürliche Natur: der Kampf ums Dasein muß durch natürliche Auslese Schritt für Schritt das Vernünftige aus dem Unvernünftigen hervorbringen.

Aber das ist nur die eine Seite dieses naturalistischen Biologismus, seine seinswissenschaftliche. Die andere hängt damit eng zusammen. Auch die  Werte,  an die der Mensch glaubt, und die Ziele, die er seinem Leben und Handeln steckt, hatten bisher keinen Zusammenhnag mit der natürlichen Wirklichkeit. Sie schwebten also haltlos in der Luft. Ja, man mußte das natürliche Leben geradezu herabsetzen, um überhaupt einen Sinn des Lebens zu gewinnen: das natürliche galt als das böse Prinzip. Der Mensch steht unter dieser Voraussetzung als trauriger Fremdling in der ihn umgebenden Welt.

Jetzt hat das Prinzip der natürlichen Auslese auch in dieser Hinsicht Wandel geschaffen. Wir erkennen, daß die ewigen Gesetze, die im Kampf ums Dasein das Unvollkommene ausmerzen, die Welt mit Notwendigkeit ihrem wahren Ziel zuführen und immer vollkommener gestalten. Das Naturgesetz ist zugleich das Gesetz des Fortschritts. Die natürliche Entwicklung bedeutet Entwicklung zum Guten. Lassen wir nur die Auslese ungestört walten, dann muß immer das entstehen, was sein soll. Wir brauchen daher die alten Werte nicht mehr, an die der naturfremde Mensch sich klammerte, um seinem Leben Bedeutung zu verschaffen. Der mechanistische Biologismus hat uns die köstliche Gewißheit gegeben, daß die Natur oder das Leben selbst uns mit sicheren Händen zu immer höheren Stufen der Vollendung trägt. Nur das Angepaßte erhält sich, ja alles Angepaßte muß sich erhalten. Das Unzweckmäßige, das stört, wird immer mehr ausgeschaltet, und die natürliche Entwicklung treibt daher von selbst einem Zustand der Harmonie und des Ausgleichs zu. Leben ist ein sich selbst regulierender Mechanismus. Es ist zweckmäßig, weil es mechanisch ist wie eine Maschine.

Jetzt ist, damit wir das Prinzip des  älteren  Biologismus ganz verstehen, nur noch nötig, das Naturgesetz, das zugleich das Fortschrittsgesetz darstellt, so zu formulieren, daß es auch eine praktische Anwendung ermöglicht oder zur  Norm  für den Willen wird.

Wenn das Angepaßte allein sich erhält und so das Zweckmäßgie mechanisch von selbst entsteht, dann bedeutet das, daß die Natur überall nach dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes arbeitet, und dies Prinzip scheint sofort eine praktische Konsequenz zu ergeben. Es kommt im Menschenleben überall auf möglichst große Sparsamkeit, auf ein Haushalten mit Lebenskräften an, damit wir in der Notlage des Daseiskampfes möglichst lebendig bleiben. Das Prinzip der  Lebensökonomie  muß also für die Gestaltung von allem Leben nach mechanisch darwinistischen Auslesegrundsätzen entscheidend sein.

Das führt man in die gesamte Weltanschauung ein, um das menschliche Leben nach den verschiedensten Richtungen nicht nur zu  verstehen  als beherrscht vom Gesetz der natürlichen Auslese, das die Begünstigten im Kampf ums Dasein erhält, sondern nach demselben Gesetz zugleich auch zu  regeln.  Beispiele werden besser als allgemeine Ausführungen zeigen, welche Konsequenzen man für das Kulturleben daraus gezogen hat. Wir wählen dabei Theorien, die radikal sind, auch heute noch Anhänger haben, ja teilweise in die neuesten Strömungen hineinspielen, obwohl sie einem Prinzip entstammen, das Denker wie NIETZSCHE und BERGSON bekämpfen, und zwar kommt es besonders darauf an, zu begreifen, wie mit dem mechanistischen Sparsamkeitsgedanken sich das Ideal der Massenvitalität und infolgedessen ein im weitesten Sinn "demokratischer" Zug verknüpft.

Vom darwinistischen Standpunkt hat man, um ein ethisches Problem voranzustellen, die in Europa herrschende Monogamie als unsittlich verurteilt (7). Dadurch, daß man die lebenskräftigsten Männer zwingt, mit nur einer Frau Kinder zu zeugen, versündigt man sich gegen das Prinzip der Lebensökonomie. Man verhindert, daß genug lebenskräftiger Nachwuchs in die Welt gesetzt wird. Nur die Vertreter des lebendigsten Lebens sollten zur Fortpflanzung gelangen, um so viel Kinder wie möglich zu bekommen, Man kann im Lebenskampf nicht genug Leben haben. Es gilt also, die Masse des Lebens zu fördern, und zu diesem Zwecke sind den lebenskräftigsten Männern möglichst viele lebenskräftige Frauen zur Verfügung zu stellen. Wer nicht zur Kräftigung der Rasse beizutragen vermag, ist von der Volksvermehrung auszuschließen, d. h. er darf nicht heiraten und hat sich, damit er keinen Schaden anrichtet, mit seinen sexuellen Bedürfnissen an unfruchtbare Hetären zu halten. Deren biologische Unentbehrlichkeit wird ebenfalls aus dieser Weltanschauung begründet.

Die Polygamie gilt jedoch selbstverständlich allein für Männer. Die fruchtbaren Frauen dürfen nur einen Gatten haben, denn jede Polyandrie wäre unter dem Gesichtspunkt einer Steigerung der Lebenskräfte sinnlos. Auf die Masse kommt es der Lebensökonomie an, und mehr Kinder könnten auch die lebenskräftigsten Frauen von mehreren Männern nicht bekommen, als von einem. Falls das Quantum der Kindererzeugung für die Philosophie des Lebens den gültigen Wertmaßstab bildet, erscheint diese "sittliche Forderung" also durchaus plausibel.

Daß die Monogamie kulturelle Vorzüge besitzt, die nicht rein vitaler Art sind, wird darum nicht geleugnet. Aber diese dürfen unter biologischen Gesichtspunkten nicht in Frage kommen. Jedes Volk hat - der Grund reicht aus - mit anderen Völkern einen Kampf ums Dasein zu bestehen, und es wird trotz aller anderen Kulturerrungenschaften zugrunde gehen, wenn es seinen Konkurrenten nicht an Vitalität überragt. Vor allem scheint das monogamische Europa zum Untergang verurteilt im Kampf mit Asien, wo biologisch begründete Eheordnungen herrschen.

So ist das Prinzip des "demokratischen" Massenbiologismus klar. Obwohl er auch heute noch Vertreter hat, gehört er der älteren, darwinistischen Richtung der Lebensphilosophie an.

Dasselbe gilt von der biologistischen Erkenntnistheorie des Pragmatismus, wie er sich besonders in England und Amerika gestaltet hat, aber auch in Deutschland Freunde besitzt. Die Wissenschaft ist unter dem Gesichtspunkt zu verstehen, daß sie Ersparnis von Lebenskräften bedeutet und so die Vitalität fördert. Wie die Geburtenökonomie zum Prinzip der Ehe, wird die Denkökonomie zum Prinzip des Forschens gemacht. Die Erkenntnis hat ihr höchstes Ziel erreicht, wenn es ihr gelingt, mit dem geringsten Aufwand von Begriffen auszukommen. So ist sie als Forsetzung des Naturprozesses der Anpassung verstanden. Solche Gedanken allein sind wahr, mit denen wir am bequemsten die Welt denken oder uns am leichtesten in ihr orientieren. Der logische Imperativ ergibt sich daraus leicht. Es gilt, die Wirklichkeit mit einem möglichst einfachen System von Begriffen zu überspinnen, in dem alles, was von ihr zu wissen wichtig ist, seinen Platz findet. Damit wird, wie RICHARD AVENARIUS (8) schon 1876 lehrte, die Philosophie zum "Denken der Welt gemäß dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes."

Vom Darwinismus abhängig brauchen allerdings solche Ideen nicht zu sein. Schon KANT meinte, man möchte vielleicht glauben, die Bildung von Gattungsbegriffen "sei ein bloßer ökonomischer Kunstgriff der Vernunft, um sich so viel als möglich der Mühe zu sparen". Zugleich wies er jedoch eine solche selbstsüchtige Ansicht noch zurück, da die Vernunft hier nicht bettle, sondern gebiete. Erst im Zeitalter des Biologismus haben die pragmatistischen Theorien viele Anhänger gefunden, und ihre am meisten zugespitzte Form zeigt sich wohl in der Auffassung der Naturgesetze. Diese sind wahr, weil sie viele einzelne Fälle gleichmäßig umfassen und so mit einem Schlage eine große Fülle der Ereignisse begrifflich zu beherrschen gestatten. Wir machen alles gleich, um es sparsam zu denken. Wer das gelernt hat, wird im Lebenskampf sich am leichtesten erhalten. Alle andere Wahrheit ist nicht mehr als Aberglaube.

Ins Breite über alles Leben hin ist das demokratische Massensparsamkeitsprinzip in der "energetischen" Kulturphilosophie ausgedehnt (9). Sie sucht durch ein quantitatives Verhältnis von Energiemengen zu bestimmen, worin das Prinzip des Kulturfortschritts besteht. Je sparsamer die Lebewesen mit der Energie umgehen, um so höher wie die Kultur ragen. Ob Kulturwerte, die in solche, am Verhältnis von Petroleumlampe und Gasglühlicht orientierte Formel sich nicht bringen lassen, Berechtigung haben, wird nicht gefragt. Es steht "a priori" fest, daß die echen Güter nur die Mengen der Energie sein können, die Lebewesen zur Verfügung stehen.

Daß es hier nicht der Begriff des Lebens selbst, sondern der der Energie ist, an dem die Kulturwerte gemessen werden, darf über den biologistischen Charakter der Gedanken nicht täuschen. Mit physikalischen Begriffen allein wäre in dieser Kulturphilosophie nichts anzufangen. Es müssen stets Lebewesen sein, für deren Leben die sparsame Verwendung von Energie Bedeutung hat. Erst durch die Lebensförderung also kommt der Wertgedanke und damit das Kulturprinzip in das Energieverhältnis. So ruht auch diese Kulturtheorie auf einem biologistischen Fundament, ja man kann sagen, daß wegen der Armseligkeit des Prinzips, das in dem energetischen Imperativ steckt, der ökonomische Biologismus hier seine "klassische" Ausprägung als Kulturphilosophie gefunden hat. "Vergeude keine Energie, verwerte sie." Das soll an die Stelle von KANTs kategorischem Imperativ treten! Darstellung und Kritik sind hier beim besten Willen nicht zu trennen.

Es ist klar, daß solche Gedanken im Einzelnen zu abenteuerlichen Konsequenzen führen können, und doch scheint das Prinzip, das der älteren Richtung zugrunde liegt, philiströs und trivial. Das ist nicht hervorzuheben, um damit ein Werturteil auszusprechen, sondern um die Tatsache zu konstatieren und zu verstehen, daß viele die Sache so  ansehen.  Die Trivialität und der philiströse Nützlichkeitscharakter dieses Biologismus hat nämlich wesentlich dazu beigetragen, eine Opposition gegen ihn zu entfesseln. Wie weit der biologistische Utilitarismus geht, zeigt der Umstand, daß man auf seinem Boden sogar eine Religionsphilosophie, und zwar eine Rechtfertigung des Glaubens durch das Ökonomieprinzip versucht hat. Ein Amerikaner (10) meinte, die religiösen Völker müßten im Kampf ums Dasein besser fortkommen, als die religionslosen, und damit schien der Wert der Religion als Waffe im Lebenskampf erwiesen.

Doch braucht das nicht näher ausgeführt zu werden. Die ältere biologistische Lebensphilosophie ist schon jetzt so weit charakterisiert, daß über die Hauptsache kein Zweifel mehr bestehen kann. Grundlegend wird der demokratische  Massenbegriff der Lebensökonomie, und er entspringt aus dem  mechanistischem,  antiteleologischen Prinzip, nach welchem die Lebewesen um ihre Nahrung kämpfen und sich durch Anpassung im Dasein erhalten.  Dagegen  hat die neue Richtung des Biologismus sich gewendet, und sie ist jetzt als die eigentlich zeitgemäße zu verstehen. Sie vor allem beherrscht die Mode.

Ihr Prinzip läßt sich leicht klar legen. Sie richtet sich, obwohl sie im allgemeinen den Gedanken des naturalistischen Evolutionismus, der durch DARWIN einflußreich geworden ist, beibehält, doch gerade gegen die Punkte, die wir als charakteristisch für DARWINs Biologie hervorheben mußten: erstens gegen das Moment, das mit den Theorien von MALTHUS zusammenhängt, ferner gegen die mechanistische Tendenz und drittens endlich gegen das Ideal der Lebensökonomie.

Echtes Leben ist nach ihr nicht bloßes Dasein, d. h. Leben, das sich lediglich  erhält.  Zumal die Art Anpassung, die zur Daseinserhaltung führt, bildet kein  Lebensprinzip, das diesen Namen verdient. Sie kommt nur ausnahmsweise in einer Notlage vor, und diese ist nicht für das Leben überhaupt charakteristisch. In der Meinung, daß Lebewesen aus Not sich anpassen, steckt eine ungerechtfertigte Übertragung physikalischer Begriffe, wie Trägheit und Beharrung, auf das biologische Gebiet. Sie bedeutet daher Mechanisierung und Tötung. Eine Philosophie des  lebendigen  Lebens kann auf dem Boden dieses Pseudo-Lebensprinzips nicht erwachsen. Sie bedarf einer anderen biologischen Grundlegung. Das lebendige Leben geht, wenn es echtes Leben ist, mit sich selbst  verschwenderisch  um. Es will sich nicht im Sein  erhalten,  sondern immer mehr wachsen, sich reicher, kräftiger, lebendiger  entfalten.  Dadurch steht es im schroffen Gegensatz zur mechanischen Bewegung, die nur passive, tote Ortsverschiebung kennt. Des lebendigen Lebens Grundprinzip ist Expansionsdrang und  Aktivität Gerade die nimmt ihm die darwinistisch-mechanistische Theorie. DARWINs Lehre vom Kampf ums Dasein ist der grundfalschen Lebensauffassung entsprungen, welche die Physik durchgesetzt hat. Sie kennt allerding nichts als Veränderung des sich Gleichbleibendem im Raum. Mit irgendeiner Art von Atomistik ist das Wesen des Lebendigen im Unterschiede vom Toten nie zu begreifen. Deswegen kann die Pseudobiologie nicht Grundlage für die Lebensphilosophie sein.

Das im Sinne dieser Biologisten mechanistische und daher unlebendige Lebensprinzip tritt am deutlichsten bei SPENCER zutage, der lehrt, daß, weil der Anpassungsprozeß immer weiter fortschreite, der Lebenskampf immer schwächer werden müsse. Die Interessengegensätze würden verschwinden, meint er. Das Leben nähere sich einer Ruhelage, und das höchste Lebensideal sei daher der Zustand, in dem die Menschheit vollkommen angepaßt jeden Lebenskampf aufgibt. Danach wäre das letzte Ziel des sich entwickelnden Lebens der Stillstand, also der Tod.

Mit dem Analogon der mechanistischen Auffassung, nach der jedes System von Kräften, wenn es sich selbst überlassen wird, seine Spannungen ausgleicht und alle kinetische Energie sich in potentielle verwandelt, wie der zweite Hauptsatz der Thermodynamik, der Satz von der Entropie oder vom Wärmetod lehrt, ist für das  Leben  nichts anzufangen. Die darwinistische Philosophie trägt ein  statisches  Gepräge. Es gilt, das dynamische Prinzip der nie ruhenden Kraftentfaltung, Machtsteigerung, Lebensschwungkraft in sein Recht einzusetzen.

Das kann man auch so zum Ausdruck bringen: nicht der "Wille zum Dasein" und der Kampf um die Lebenserhaltung beherrscht die lebende Welt, sondern der "Wille zur Macht" und deren Steigerung ist der treibende Faktor. Dem entspricht: Machtkämpfe sind der Sinn des wahrhaft lebendigen Lebens, den die echte Lebensphilosophie entdeckt hat. Das Sparsamkeitsprinzip ist verächtlich und pöbelhaft, erfunden von denen, die nicht leben und nicht sterben können. Es bedeutet eine Niedergangserscheinung, allgemeine Dekadenz. Darin zeigt sich das "aristokratische" Prinzip des Biologismus, der für die "Besten" als die kräftigsten und mächtigsten Lebewesen eintritt.

Mit diesen Schlagworten sind wir zugleich bei NIETZSCHE angelangt, und er ist in der Tat der am meisten charakteristische deutsche Vertreter der neuesten Lebensphilosophie, die wir jetzt aus ihren biologistischen Motiven erst ganz verstehen.

Mit den Schlagworten sind wir zugleich bei NIETZSCHE angelangt, und er ist in der Tat der am meisten charakteristische deutsche Vertreter der neuesten Lebensphilosophie, die wir jetzt aus ihren biologistischen Motiven erst ganz verstehen.

So betrachtet, bedeutet sie mehr als bloße Lebensstimmung oder prophetische Lebensbejahung. In dieser Hinsicht hat sie ein klares  Prinzip.  Sie stützt sich auf eine Theorie des unstillbaren Lebensdranges, der stets zu  Kämpfen  des einen Lebenswillen mit dem andern führen muß. Der Gedanke hat sich bei NIETZSCHE dann leicht mit romantischen Motiven verschmolzen, was für eine kritische Stellungnahme wichtig ist. Anfangs vom DARWINismus beeinflußt, dem seinerzeit nur wenige sich entzogen, nahm NIETZSCHE später mit ihm die Umbildung vor, die seinen romantisch-aristokratischen Neigungen entsprach. Der Kampf ums Dasein in der Notlage, wie DARWIN ihn mit MALTHUS lehrte, war ihm verächtlich. In der Masse sah er mit SCHOPENHAUER eine "Fabrikware der Natur". So mußte er die demokratische Tendenz ablehnen. Da Leben üppige Machtsteigerung ist, kommt es immer auf die lebenskräftigsten überragenden Individuen an.

Der Zusammenhang mit der antidarwinistischen Biologie tritt bei NIETZSCHE besonders deutlich zutage, wenn wir seine Lehren mit Gedanken einer wenig bekannten Schrift vergleichen, die W. H. ROLPH unter dem Titel: Biologische Probleme, zugleich als Versuch zur Entwicklung einer rationellen Ethik, 1881 veröffentlichte (11). Sie wendet sich hauptsächlich gegen SPENCER und in ihr steht der Satz: "Der Daseinskampf ist in Wirklichkeit ein Streben nach vermehrter Einnahme, nach Lebensmehrung und unabhängig von dem jedesmaligen Nahrungsangebot. Er findet jederzeit, also auch in der Überflußlage statt". Hier wird DARWIN auf biologischem Boden gerade in dem Punkt bekämpft, in dem er durch MALTHUS angeregt war. ROLPH sucht einen anderen, lebendigeren Lebensbegriff, und die ethischen Konsequenzen lauten: "Immer noch opfert die Natur dem Fortschritt überall die Masse auf, und darum müssen wir uns ernstlich fragen, ob nicht jene Verhältnisse der Ungleichheit, welche unsere idealistischen Philosophen und Volksbeglücker radikal ausrotten möchten, eben nötig sind und Bedingung des Fortschritts zum Besseren."

NIETZSCHE hat die Schrift gekannt und gelobt. Wieviel er ihr entnommen, läßt sich nicht feststellen. Doch ist es unwahrscheinlich, daß er ganz unbeeinflußt von ihr blieb.

Im übrigen kommt es darauf nicht an. Die Hauptsache ist, daß er 1888 in ROLPHs Sinne schrieb: "Was den berühmten Kampf ums  Leben  betrifft, so scheint er mir einstweilen mehr behauptet als bewiesen. Er kommt vor, aber als Ausnahme." Dann fördert er nur die Menge der Schwachen. "Der Gesamt-Aspekt des Lebens ist  nicht  die Notlage, die Hungerlage, vielmehr der Reichtum, die Üppigkeit, selbst die absurde Verschwendung - wo gekämpft wird, kämpft man um  Macht  .... Man soll nicht MALTHUS mit der Natur verwechseln.

Dieser "Anti-Darwin" überschriebene Aphorismus gewährt klaren Einblick in die biologistischen Motive von NIETZSCHEs Denken. In der Steigerung des Lebenswillens fand er als typischer Vertreter der neuesten Lebensphilosophie schließlich den Sinn des Lebens überhaupt. Das ließ sich dann gut auch mit seiner früheren, an SCHOPENHAUER und RICHARD WAGNER orientierten "dionysischen" Weltanschauung vereinigen. Ja, das Prinzip der lebendigen Machtentfaltung wurde zuletzt von ihm sogar wieder auf den Namen des DIONYSOS getauft. Jedenfalls: die Lebensgüter, die es nicht vertragen, am Wert des lebendigen und machtvoll sich steigernden Lebens gemessen zu werden, verwirft NIETZSCHE durchweg.

Beispiele machen das biologistische Prinzip neuester Observanz vollends deutlich. Biologisch fundiert ist der Kampf gegen die Sklavenmoral, d. h. gegen die herrschende Ethik, die für alle gleiches Recht verlangt. Sie will Anpassung der Masse und müßte zur Ruhelage aller führen. Daher ist sie unmoralisch. Von hier bekommt NIETZSCHEs moralfanatischer "Immoralismus", die Herrenmoral, die sich gegen jede Nivellierungstendenz, gegen jedes Streben nach Harmonie der Interessen, gegen jeden "Pazifismus" wendet, die biologistische Färbung. Auch die Wahrheit der Wissenschaft hat keinen Wert, wenn sie nicht dem aufsteigenden Leben dient. Allerdings berührt NIETZSCHE sich hier mit dem Pragmatismus, der meist darwinistische Tendenzen zeigt. Genauer: er hat diese Gedanken früher, als es das Schlagwort Pragmatismus dafür gab. Aber er weicht zugleich in charakteristischer Weise vom Pragmatismus ab, und einer der Gründe dafür liegt wieder in dem antidarwinistischen Lebensbegriff. Sein Aristokratismus wird hier sehr radikal. Die Naturgesetze, dei nach dem Ökonomieprinzip wahr sind, weil sie vieles unter denselben Begriff bringen, erkennt NIETZSCHE nicht an. Der Glaube an sie, die alles gleich machen, kommt nach ihm nur "den demokratischen Instinkten der modernen Seele" entgegen. Die Wahrheit eines Gedankens ist danach allein zu beurteilen, ob er die kämpfende,  aufsteigende  Vitalität fördert oder hemmt.

Vor allem aber darf der Mensch sich nie anpassen und so zum Stillstand kommen. Das würde zum "letzten Menschen" führen, der das "Glück erfunden" hat und "blinzelt", d. h. zum Ideal SPENCERs, wie ROLPH es kritisiert. Die bequeme Ruhelage wäre die Ebbe der größten Lebensflut. Immer muß das Lebewesen über sich hinaus wollen, etwas über sich sehen und haben, was ihm "über" ist. So braucht der Mensch den Übermenschen als den "Sinn der Erde." Es ist nicht nötig, die bekannten, in ihrer Art bewunderungswürdigen und hinreißenden Verse zu wiederholen. Sieht man von ihrem poetischen Gewand ab, so kommt in allen diesen Gedanken dasselbe biologistische Prinzip zum Ausdruck. Gerade die erste Einführung des Übermenschen zeigt das am deutlichsten. Sie klingt zum Teil sogar noch darwinistisch mit ihrem Hinweis auf den Affen. DARWIN ist eben erst überwunden. Der Umstand, daß sich bei NIETZSCHE daneben auch andere Motive finden, ändert daran nichts.

Manche der Ideen, die BERGSON berühmt gemacht haben, lassen sich ebenfalls von der antidarwinistischen Entwicklungslehre aus am besten verstehen. Sie zeigen unter dem biologistischen Gesichtspunkt zugleich nahe Verwandtschaft mit Gedanken NIETZSCHEs. Das wird wichtig, wo es gilt, das Gemeinsame in den mannigfaltigen Bestrebungen der Zeit zu erkennen. Nicht allein der Antimetaphysiker NIETZSCHE, der die Hinterweldler verspottet, zu denen er selber einst gehörte, sondern auch der Metaphysiker BERGSON, der im Leben das tiefste Wesen der Welt erschaut, gerät bei näherer Ausgestaltung seines Lebensbegriffs in das biologistische Fahrwasser der neuesten Richtung. Es genügt, das für wenige Punkte anzudeuten.

Daß BERGSON überhaupt Biologist, nicht nur Intuitionist ist, liegt besonders mit Rücksicht auf seine späteren Schriftenf auf der Hand. Wenn er von "schöpferischer Entwicklung" redet, so ist dabei nicht das Leben in seiner umfassendsten Bedeutung als Inbegriff aller anschaulichen Erlebnisse gemeint, zu denen das Tote ebenso gehört, wie das Lebendige. In diesem Sinn könnte das erschaute Erlebnis nicht zum metaphysischen Weltprinzip gemacht werden. BERGSON hat vielmehr überall das organische Leben zunächst als Teil der Welt, im Gegensatz zur toten Natur, im Auge, und er denkt es dabei so, wie die moderne Biologie als Spezialwissenschaft es versteht. Erst nachdem dies geschehen ist, wird der Lebensbegriff erweitert, damit er alles umfaßt. Ohne biologistisches Prinzip bliebe nicht allein der Begriff der schöpferischen Entwicklung, sondern auch der der Lebensschwungkraft unverständlich.

Ebenso ist klar, daß BERGSON zu den Biologisten antimechanistischer, antidarwinistischer oder antispencerscher Observanz gehört, die von einer immer größeren Anpassung kein Glück der Zukunft erwarten können. Von einer fortschreitenden Entspannung in der Richtung auf die Ruhelage will BERGSON nichts wissen, und er deutet dieses biologistische Prinzip erst nachträglich metaphysisch. Die Entspannung des Lebens ist die tote Materie, und der Tod die sittliche Unfreiheit. Das metaphysische Wesen der Welt geht nicht auf Daseinserhaltung, sondern auf Lebenssteigerung. BERGSONs Lehre von der Materie als Entspannung oder Ermattung des Lebens erweist sich somit in ihrer Herkunft ebenfalls als Produkt des neuesten biologistischen Denkens.

Charakteristisch ist ferner sein Verhältnis zum darwinistischen Pragmatismus. Er baut die bei MACH und AVENARIUS aus der älteren biologistischen Richtung stammende Erkenntnislehre zwar in seine Philosophie ein, muß ihr aber zugleich eine andere Pointe geben. Nur die das Leben verfälschende, mathematische Naturwissenschaft ist als Denken der Welt gemäß dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes zu verstehen, als entsprungen aus dem Willen zur Denkökonomie. Als Sparsamkeitsprodukt ist sie zugleich zu bekämpfen, wo es gilt, durch lebendige Intuition zum ewig quellenden und fließenden Lebensstrom vorzudringen. Auch das erinnert an NIETZSCHE, und die Verwandtschaft beruht wieder auf dem biologistischen Prinzip.

Selbstverständlich sollen diese Bemerkungen keine auch nur annähernd erschöpfende Würdigung von BERGSONs Philosophie in ihrer Totalität geben. Allein das, was davon in weitere Kreise gedrungen ist, interessiert uns hier, ebenso wie es bei NIETZSCHE nur auf das populär Gewordene ankam, und falls jemand sagt, die eigentliche Bedeutung dieser Denker liege in anderer Richtung, so brauchen wir nicht zu widersprechen. Nur in einigen ihrer Gedanken wollten wir das biologistische Prinzip aufzeigen. Nur was sie als Modephilosophen sind, ist uns wichtig. Ihr Biologismus bildet den allgemeinsten Faktor, der sich in den philosophischen Strömungen der Zeit immer wieder findet und diese zu einem einheitlichen Ganzen zusammenschließt. NIETZSCHE und BERGSON erscheinen so aufgefaßt als besondere "Fälle" einer weit verbreiteten Tendenz.

Daß jede solche generalisierende, "morphologische" oder "kollektivistisch" Darstellung ungerecht werden, ja eventuell das Wichtigste an einer Denkerpersönlichkeit beiseite lassen muß, hoben wir am Anfang ausdrücklich hervor. Mit dieser Einschränkung begegnen wir auch hier jedem Einwand.

Die allgemeinen Tendenzen in ihrer ganzen Breite auch bei kleineren Geistern, die nur Biologisten sind, zu verfolgen, hätte keinen Zweck. Dann würden wir nichts Neues lernen. Wir greifen daher nur noch einen besonderen bezeichnenden "Fall" heraus, der schon zur Kritik des neueren biologistischen Prinzips hinüberleitet.

Auch hier werden Formulierungen von SCHELER interessant. Er besitzt eine bemerkenswerte Fähigkeit, Modegedanken zum Ausdruck zu bringen und sie dabei so zuzuspitzen, daß sie die Kritik  herausfordern.  Das haben wir schon bei der "neuen Haltung" der intuitiven Lebensphilosophie gesehen, deren konsequente Durchführung zur Aufhebung jeder Wissenschaft führen muß, und diese radikale Ausgestaltung ist ein Verdienst. Für den Biologismus der neuesten Richtung kommt das viel genannte Buch über den Genius des Krieges in Betracht (12). Freilich erklärt SCHELER ausdrücklich, daß der Begriff des organischen Lebens zur Lösung der meisten philosophischen Probleme nicht ausreiche. Er will kein Naturalist sein, ebensowenig wie er faktisch die Philosophie  nur  auf Intuition stützen wollen kann. Trotzdem besitzt nach ihm die Einsicht in das Wesen der lebendigen, vitalen Natur für die Würdigung des Krieges die größte Bedeutung. Der Krieg muß wenigsten eine Wurzel im Wesen des Lebens überhaupt haben, also auch vom Leben aus verstanden, und das bedeutet für SCHELER: gerechtfertigt werden.

Die Lebenswurzel des Krieges ist nämlich nicht, wie die DARWINisten und SPENCER meinen, der tierische Daseins- und Nahrungskampf, nicht eine Folge gewisser Disharmonien der "Anpassung", die mit steigender "Anpassung" überwunden würde, so daß man ein Aufhören allen Kampfes erwarten und im Krieg nur Überreste einer unvollkommenen Anpassung, also Barbarei erblicken dürfte. Die wahre Wurzel des Krieges besteht vielmehr darin, daß allem Leben selbst und unabhängig von seiner besonderen, wechselnden Umwelt und deren Reizen eine Tendenz zur Steigerung, zum Wachstum und zur Entfaltung seiner Mannigfaltigkeit sarten innewohnt. Der Lebensbegriff DARWINs und SPENCERs ist für SCHELER als einen typischen Biologisten modernster Observanz viel zu passivistisch und mechanistisch.

Nur aus der antidarwinistischen Biologie ist auch das Wesen des Staates zu verstehen. Die Machtsteigerung liegt im Wesen des Staates selbst. Der nicht wachsende Staat, der Staat, der nur auf Erhaltung seines Seins und Soseins bedacht wäre, es wäre der tote, der erstarrte, der sein Wesen aufgebende, der sinkende Staat. Der Krieg aber ist der Staat in seinem aktuellsten Wachsen und Werden selbst, und er kann daher nie verschwinden. Schon SCHILLER hat ihn den Beweger des Menschengeschicks genannt. Er ist auch sittlich notwendig. Die Menschen hätten sich gegenseitig friedlich aufgefressen, wenn nicht die Würde des Krieges selbst noch die Gewalt geheiligt und auf gemeinsame Ziele großer Gemeinschaften gespannt hätte. Darum muß der Krieg als dauernde Institution alles wahrhaft lebendigen Lebens gelten. Der Pazifismus ist lebensfeindlich und staatsfeindlich.

SCHELER spitzt seine Gedanken dahin zu, daß "der Krieg in seinem Erfolg nicht nur die Wirtschaftspolitik katexochen, sondern auch die qualitative (nicht quantitative) Bevölkerungspolitik katexochen" sei! Weitere Proben seines Biologismus sind nicht nötig. In bezug auf den letzten Satz darf man wohl mit NIETZSCHE sagen: "Dieser Denker braucht niemanden, der ihn widerlegt: er genügt sich dazu selber." Man müßte denn den Krieg, den wir "erlebt" haben, keinen Krieg mehr nennen wollen.

Konsequent jedoch sind die Gedanken SCHELERs durchaus, und zwar in derselben Art, wie sein Preisen der neuen Haltung BERGSONs. Dort wurde wegen der Lebendigkeit der Anschauung ihre Befestigung durch den Begriff abgelehnt. Hier soll dem lebendigen Lebenskampf keine Fessel angelegt werden, damit - das Leben lebendig bleibt. Wer nicht allein sieht, daß natürliches, vitales Leben Wachstum ist und mit anderen Leben kämpfend zusammenstößt, sondern wer zugleich in diesem biologistischen "Gesetz" eine Norm für alles  Kulturleben erblickt, der  muß  in der Tat wie SCHELER denken. Sollte ihm aber nicht zugleich der Verdacht entstehen, daß in den Grundlagen von Gedanken, die zu solchen Konsequenzen führen, etwas nicht stimmen kann?

Doch wir legen zunächst nur das Prinzip klar, auf dem der Gegensatz der älteren und der neueren biologistischen Philosophie beruht. Ihn können wir jetzt so formulieren, daß er schärfer zum Ausdruck kommt, als bei den meisten Vertretern dieser Geistesbewegung unserer Zeit. Das schadet jedoch nicht, denn wir fragen nur nach der prinzipiellen Seite der Sache, und ein Prinzip kann man als theoretisches Prinzip nicht übertreiben.

Der Philosoph strebt nach einer einheitlichen Auffassung alles Wirklichen. Orientiert er sich dabei, wie es Vielen naheliegt, an der allgemeinsten Körpertheorie und nimmt man an, daß von den Körpern auch das Seelenleben irgendwie "abhängig" ist oder im Zusammenhang mit ihnen begriffen werden muß, dann wird er jede mechanistische Erklärung als prinzipiellen philosophischen Fortschritt begrüßen. Nach DARWIN schien der Durchführung des Mechanismus nicht mehr im Wege zu stehen. Vertrat die Philosophie vorher einen "Dualismus" von blinder Ursache und vernünftigem Zweck, der nichts erklärte, sondern nur ein asylum ignoratiae war, so stehen wir jetzt vor der Welt als einem "monistischen" Komplex rein mechanischer Ursachen und Wirkungen, in den alles sich einordnen läßt mit Einschluß der zweckmäßig oder vernünftig gestalteten Organismen. Wir brauchen also in kein Asyl mehr zu flüchten. Wir haben eine rein wissenschaftliche Weltanschauung.

Zugleich wird auch das Problem der Lebensanschauung oder das Wertproblem monistisch lösbar. Früher hatte man die Werte der Natur entgegengesetzt. Das begann in der Philosophie schon mit PLATON, wurde durch das Christentum befestigt, beherrschte das Mittelalter, und in einem solchen "Mittelalter" leben viele beklagenswerte Philosophen noch heute. In dieser Hinsicht brachte das Prinzip der natürlichen Auslese ebenfalls einen Wandel. Wir sind nicht Fremdlinge in der Welt, sondern sie ist unsere Heimat, und der Sinn unseres Lebens kann kein anderer sein, als daß wir ihren Gesetzen zu gehorchen suchen. Von der Amöbe bis zum Kulturmenschen hat sie überall das Unvollkommene vernichtet und das Vollkommene erhalten.

So befriedigen die darwinistischen Theorien nicht allein den  Intellekt,  der eine einheitliche Erklärung des Seins der Welt verlangt, sondern ebenso den  Willen,  der nach gesicherten Idealen sucht, um das Handeln danach zu lenken.

Der neue Biologismus erstrebt formal dasselbe philosophische Ziel. Auch er will zu einer einheitlichen Erklärung des Seins der Welt kommen und im unmittelbaren Zusammenhang mit ihr eine Lehre von den Werten schaffen. Aber nicht der Mechanismus ist der allgemeinste Rahmen, in welchen er die Welt hineinstellt. Er geht von dem aus, was jeder mechanischen Auffassung spottet. Das Leben ist nur antimechanistisch als Kraftentfaltung, als Wachstum, als beständige Steigerung, als élan vital zu begreifen. Dann gilt es, um zur Einheit der Weltanschauung zu kommen, nicht das Leben in die Materie, sondern umgekehrt die Materie in das Leben einzuordnen, also das scheinbar Tote als Form des sinkenden und ermattenden Lebens zu verstehen. Die Auffassung des Seins der Welt ist so ebenfalls "monistisch". Sie legt jedoch den Schwerpunkt auf die entgegengesetzte Seite des zu überwindenden Dualismus.

Die Wertlehre endlich, die sich auf diesem Boden ergibt, entspricht dem antimechanistischen oder vitalistischen Prinzip. Von einer Vervollkommnung der Welt durch Annäherung an die Ruhelage, in der das Leben aufhören würde, lebendig zu sein, dürfen wir nicht reden. Wie die Welt im tiefsten Grunde Lebensschwungkraft ist, so haben auch die einzelnen Individuen wie die Gemeinschaften sich in den Dienst der schöpferischen Entwicklung zu stellen. Lebendiges Leben aber bedeutet Machtsteigerung, und diese gibt es nie ohne Kampf. So tritt eine heroische Lebensauffassung der Friedenssehnsucht der Mechanisten gegenüber. Es gilt, alles zu bekämpfen, was sich nur erhalten will. Die Menschen sind verpflichtet, stets über das schon Erreichte hinauszustreben. Glück und persönliche Wünsche sind nicht entscheidend. Der Mensch darf seine "Bestimmung" nur darin finden, daß in ihm das Wachsein und Sichentfalten des vitalen Lebens zum Ausdruck kommt, welches das allgemeine Weltprinzip darstellt. So ist auch hier die Lebensanschauung in der Weltanschauung verankert.
LITERATUR - Heinrich Rickert, Die Philosophie des Lebens - Darstellung und Kritik der philosophischen Modeströmungen unserer Zeit, Tübingen 1920
    Anmerkungen
    1) Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel. 1918. Als Gegenstand der Kritik kommt nur das erste Kapitel: die Transzendenz des Lebens, in Betracht. Die Ausführungen des zweiten: Die Wendung zur Idee, stehen der hier vertretenen Ansicht nahe. Auch auf den Grundgedanken des vierten Kapitels: Das individuelle Gesetz, habe ich 1902 in meinem Buch über die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung (2. Aufl. Seite 619ff) hingewiesen. Freilich scheint mir der Ausdruck "Gesetz" in diesem Zusammenhang bedenklich, doch ist die Differenzierung mehr terminologisch, als sachlich.
    2) Der Konflikt mit der modernen Kultur, 1918
    3) Vgl. meine Abhandlung: Das Eine, die Einheit und die Eins, Logos II, 1912, Seite 35f
    4) Der Konflikt der modernen Kultur, Seite 47
    5) Einen Teil der folgenden Darlegungen habe ich vor ungefähr zwanzig Jahren in der Zeitschrift "Der Lotse" veröffentlicht. bei der Entwicklung, die die Lebensphilosophie genommen hat, scheinen sie mir noch nicht veraltet. Nur war damals "das Leben" noch nicht so sehr Modewort, wie jetzt. Ich habe daher früher zum Teil "Natur" geschrieben, wo jetzt Leben steht. Sachlich ist dadurch jedoch nichts geändert. Ich erwähne dies nur, weil es zeigt, wie jung die Lebensmode ist, und wie sie eine besondere Art des Naturalismus darstellt.
    6) Diese Richtung ist am wenigsten bekannt, aber im theoretischen Interesse nicht zu übersehen. Sie hat in dem Buch von ALEXANDER TILLE, Von Darwin bis Nietzsche, 1985, und vielleicht noch deutlicher in der anonymen, wohl ebenfalls von TILLE verfaßten Schrift: Volksdienst, Von einem Sozialdemokraten, 1893, ihren Ausdruck gefunden.
    7) Vgl. CHRISTIAN von EHRENFELS, Sexualethik, 1907
    8) Philosophie als Denken der Welt gemäß dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes. Prolegomena zu einer Kritik der reinen Erfahrung, 1876. Die Schrift sollte jeder kennen, der sich für die Entwicklung der biologistischen Philosophie interessiert. Sie gehört zu den frühesten Kundgebungen dieser noch immer sehr lebendigen Bewegung.
    9) Ihr Vertreter ist der bekannte Chemiker WILHELM OSTWALD. Vgl. MAX WEBERs Kritik: "Energetische" Kulturtheorien, 1909, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. XXIX, Seite 575f
    10) B. KIDD, Soziale Evolution, 1985. Es ist bemerkenswert, daß dieses wunderliche Werk das Interesse eines Biologen vom Range AUGUST WAISMANNs erregte, so daß er zur deutschen Übersetzung ein Vorwort schrieb.
    11) Zweite, nach dem Tode des Verfassers herausgegebene Auflage, 1884
    12) MAX SCHELER, Der Genius des Krieges und der deutsche Krieg. 1915. Selbstverständlich ist hier keine Würdigung des ganzen Buches beabsichtigt. Nur wenige Sätze greife ich als Symptome heraus. In dem Werk steht manches, was auch positive Bedeutung hat.