cr-2DiltheyHelmholtzWundtE. RothackerB. ErdmannA. Stadler    
 
CARL STUMPF
Zur Einteilung der Wissenschaften
[2/3]

"Die Erscheinungen sind uns mit ihren Eigenschaften gegeben, stehen uns als etwas Objektives, Eigengesetzliches gegenüber, das wir nur zu beschreiben und anzuerkennen haben."

"So wahr es ist, daß das Seinsollende nicht zusammenfällt mit dem Seienden, so wenig kann doch die Welt der Werte losgelöst von der Welt der Dinge und ihrer empirischen Gesetze konstruiert werden."

"Meinong  legt besonderes Gewicht darauf, daß die ganze Mathematik nur als  ein Stück Gegenstandstheorie  verstanden werden kann."

"So wenig wie ein Begriff eine Zusammenfassung von Individuen ist, so wenig ist ein Gesetz eine Zusammenfassung von Tatsachen. Nicht eine einzige Tatsache ist im Gesetz enthalten, geschweige eine Vielheit, da es eben stets nur ein hypothetisches, niemals ein thetisches Urteil ist."

"Der Historiker spricht: nur die Tatsache hat Bedeutung.  Johann ohne Land  ist hier vorbeigegangen - das ist bemerkenswert, das ist eine tatsächliche Wahrheit, für die ich alle Theorien der Welt hergeben würde. Der Physiker dagegen:  Johann ohne Land  ist hier vorbeigegangen - das ist mir gleichgültig, da er nicht wieder vorbeikommt."


IV. Neutrale Wissenschaften

1. Phänomenologie

Wenn Natur- und Geisteswissenschaften, speziell ihre Grunddisziplinen Physik und Psychologie, gemeinschaftlich von den Erscheinungen ausgehen, keine von ihnen aber bei den Erscheinungen stehen bleibt, sondern die einen auf die jenseitsliegenden Vorgänge übergehen, die anderen auf die mit den Erscheinungen verknüpften psychischen Funktionen, beide also nicht in den Erscheinungen selbst ihren eigentlichen Gegenstand finden: welcher Wissenschaft kommt dann die Untersuchung der Erscheinungen als solcher zu?

Praktisch wird sie zur Zeit von Physiologen und Psychologen betrieben, ja na Bedarf ihrer Wissenschaften. Am meisten scheinen sich die Psychologen ihrer anzunehmen. Früher beschäftigten sich auch Physiker damit, und jetzt noch findet man wenigstens in den physikalischen Lehrbüchern traditionelle Kapitel über Komplementärfarben, Kontrasterscheinungen, Mischungsgesetze, Drei- und Vierfarbentheorie, Klangfarbe, Konsonanz und Dissonanz und dgl., obschon alle diese Besonderheiten der Erscheinungen mit den Dingen außer uns nichts zu tun haben und tatsächlich in diesem Zusammenhang ganz deplaziert sind. Denn für die Gesetze der Bewegungen, auch der oszillierenden Bewegungen, ist es bedeutunglos, was für Empfindungen und Gefühle dadurch in uns hervorgerufen werden. Physikalisch interessiert nur die Entstehung mehr oder weniger zusammengesetzt Wellenformen bei verschiedener Erregungsweise eines Mediums, nicht aber die Weichheit oder Schärfe oder die Annehmlichkeit oder gar die Wohlgefälligkeit einer Klangerscheinung.

Nimmt man es streng mit den vorausgehenden Definitionen, so muß die Phänomenologie als eine besondere Disziplin betrachtet werden, die weder den Natur- noch den Geisteswissenschaften angehört. Daß ihre prinzipielle Selbständigkeit nicht schon früher erkannt ist, liegt zum Teil daran, daß sie in der Durchführung eng mit den genannten Disziplinen verknüpft werden muß, zum anderen Teil aber auch daran, daß man die Erscheinungen als etwas genügend Bekanntes, wissenschaftlicher Beschreibung im allgemeinen nicht Bedürftiges ansah; ähnlich wie man etwa in der alten Zeit Luft, Feuer, Wasser und Erde unbesehen für Elemente nahm.

Wir wissen jetzt, daß hier ein Reichtum von Problemen liegt. Die Lehre von den fünf Sinne ist verschwunden, neue Sinne sind aufgedeckt, die scharfe Abgrenzung der "niederen Sinne" gegeneinander ist dagegen zweifelhaft geworden. Die weitgreifendsten Verschiedenheiten unter den Tieren (aus den Organen und den Reaktionen erschließbar), aber auch auffallende typische Abweichungen bei menschlichen Individuen sind festgestellt. Die eigentümlichen qualitativen Reihenbildungen, wie die natürliche Ordnung der Töne in einer Geraden, die der Farben in einer in sich zurücklaufenden Kurve, wurden untersucht.

Eine Reihe von Fragen kam hinzu, die sich bei allen Sinnen mehr oder weniger wiederholen: nach den Mischungen gleichzeitiger Eindrücke, nach den an Sinneserscheinungen zu unterscheidenden Bestimmungsstücken (Qualität, Stärke usw.), nach den Verhältnissen von Ähnlichkeit, Steigerung, Verschmelzung usw., die zwar nicht selbst Erscheinungen, aber mit und in denselben gegeben und zu jeder Beschreibung unentbehrlich sind. Weiter nach den sogenannten qualitativen Richtungsänderungen (mittels derer GEORG ELIAS MÜLLER mit Recht den Begriff der "Hauptfarben" definiert), nach den auszeichnenden Eigenschaften der konstanten Tonintervalle und etwaigen Parallelerscheinungen auf anderen Gebieten; nach den Unterschieden zwischen Erscheinungen erster und zweiter Ordnung (Empfindungen und bloßen Vorstellungen), soweit nicht funktionelle Unterschiede hier beteiligt sind; nach der Natur der sinnlichen Annehmlichkeit und Unannehmlichkeit (ob sie als eines der Bestimmungsstücke der Erscheinungen oder als besondere Erscheinungsklasse oder als Funktionen anzusehen sind).

Ferner galt es, die Eigenschaften des sinnlich-anschaulichen Raums, des Gesichts- und Tastraums, aufzuzeigen, die sich mit den postulierten Eigenschaften des geometrisch-physikalischen Raums keineswegs decken, sowie den Unterschied der Raumvorstellungen verschiedener Sinne untereinander (wie dann selbst die Töne lokale und quantitative, wenngleich nicht meßbare Bestimmungen aufweisen). Es entstand die noch schwierigere Aufgabe einer rein deskriptiven Untersuchung der Zeitvorstellung und ihrer Derivate, einer Analyse der Bewegungsvorstellungen, die Frage nach dem Vorkommen wahrer und strenger Stetigkeit im Erscheinungsgebiet, und so noch viele andere.

Überall liegen hier innerhalb des Erscheinungsgebietes selbst auch  Gesetzlichkeiten Nicht etwa Gesetze der Sukzession (Kausalgesetze) - denn solche gibt es, wie gesagt, im Erscheinungskreis selbst nicht -, sondern immanente Strukturgesetze. Daß sie teilweise sogar die Anwendung mathematischer Begriffe und Operationen gestatten, ist bereits im 18. Jahrhundert von LAMBERT, im 19. zuerst von HERMANN GRASSMANN bemerkt worden.
    Von GRASSMANNs Ausdehnungslehre angeregt, veröffentlichte WILHELM PREYER 1877 "Elemente der reinen Empfindungslehre" ganz im Sinne einer reinen Phänomenologie, wenn auch im einzelnen sehr angreifbar. HELMHOLTZ definierte den Begriff "Kürzeste Linien im Farbensystem", Sitzungsbericht der Berliner Akademie der Wissenschaften, 17. Dezember 1891, Zeitschrift für Psychologie, Bd. 3, Seite 108. MEINONG erweiterte solche Betrachtungen zum Begriff einer "Farbengeometrie", Zeitschrift für Psychologie, Bd. 33, Seite 1f. Bezüglich der Töne darf ich vielleicht auf die Erörterung in meiner  Tonpsychologie I,  Seite 142 verweisen (Zeile 14 muß es aber  yz  statt  yx  und Zeile 19  xy  statt  xz  heißen). Besonders wichtig ist dabei die schon von HERBART betonte allgemeine, auch auf Qualitatives anwendbare, Bedeutung des Ausdrucks "zwischenliegend". Ferner gibt es eine rein qualitative Algebra der Intervalle, gemäß den in meinen und K. L. SCHAEFERs "Tontabellen" (1901) entwickelten Formeln. Hierbei handelt es sich keineswegs, wie in früheren Darstellungen, um eine Algebra der Schwingungszahlverhältnisse, die den Intervallen zugehören, sondern um algebraische Operationen, durch die ohne jede Kenntnis dieser Zahlenverhältnisse aus einem gegebenen Ton ein beliebiges musikalisches Intervall, z. B. die übermäßige Quart, gewonnen wird. Die Formel  Q = T ·t  besagt, daß man zur Quinte kommt durch zwei mit ihren Grenztönen aneinandergefügte Terzen, eine kleine und eine große, deren Reihenfolge aber gleichgültig ist. Ebenso ist es bei der Formel  Q/q  für die große Sekunde gleichgültig, ob man den Quintenschritt aufwärts  (Q  im Dividendus) zuerst vollzieht, dann den Quartenschritt abwärts  (q  im Divisor) oder umgekehrt. Man  kann  natürlich diese Formeln auch zur Berechnung der resultierenden Zahlenverhältnisse und Schwingungszahlen benutzen. Aber sie haben Sinn, Gültigkeit und Anwendbarkeit auch ganz abgesehen davon, auch für den, der von den Proportionen der Intervalle nichts wüßte und sie nur als Tonerscheinungen durch den Gehörsinn kennt. Es ist also hier eine ähnliche Übertragung algebraischer Operationen auf Qualitatives möglich, wie etwa in der neueren Physik bei der Addition und Subtraktion von Vektoren. Nach kürzlich veröffentlichten brieflichen Äußerungen WILHELM WEBERs hat auch ihm bereits derartiges vorgeschwebt. Er schreibt an FECHNER 1850: "In ihrem jetzigen Gebiet (der Empfindungsmessung) ist die Entdeckung solcher Fakta (die mit FECHNERs Ideen zusammenträfen) "vielleicht sehr unwahrscheinlich, aber doch möglich, wie vorhandene Fakta beweisen, z. B. daß Quinte und Quarte sich zur Oktave, große Terz und kleine Terz genau zur Quinte ergänzen, die,  auf unmittelbarer Tonempfindung beruhend, von akustischen Theorien unabhängig dastehen."  (G. F. LIPPS, "Zwei Briefe usw." Sitzungsbericht der königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften, Mathematisch-physische Klasse, Bd. 57, Seite 393)

    Es erscheint nicht ausgeschlossen, daß bei einer Umwandlung unserer mechanischen Weltanschauung in abstraktere Formen, wie sie jetzt vielfach in Aussicht genommen wird, dergleichen innerhalb des rein qualitativen Erscheinungsgebietes vorkommende gesetzliche Beziehungen von Bedeutung würden. Von vornherein ist es ja nicht so selbstverständlich, wie die Kantianer meinen, daß alle Naturgesetzlichkeit sich nur mit den Anschauungen von Raum und Zeit ausdrücken läßt. Diese haben sich vorzüglich brauchbar erwiesen, und man wäre töricht, sie um ein Linsengericht zu verwerfen. Aber prinzipiell haben sie keinen Vorrang vor irgendwelchen anderen Daten des Erscheinungsgebietes. HEYMANS spricht in diesem Sinne von einer  denkbaren  "akustischen Weltanschauung", in der alle Verhältnisse des physischen Geschehens als Tonverhältnisse ausgedrückt wären (Einführung in die Metaphysik, 1905, Seite 178f). Desgleichen BINET (L'Ame et le Corps, 1905, Seite 38f). Ich wies mehrfach auf solche Möglichkeiten hin ("Tonpsychologie I", Vorrede, Seite VII, Seite 101; II, Seite 213. "Psychologie und Erkenntnistheorie", Seite 504). Und bereits LOTZE benutzte mit Vorliebe, um die bloß symbolische Beschaffenheit der räumlichen Vorstellungsweise zu verdeutlichen, die Ersetzung des räumlichen Bildes durch das einer unräumlichen und doch aufs feinste abgestuften Tonwelt. Neuerdings hat man sogar die qualitativen Verhältnisse der Gerüche zum gleichen Zweck herangezogen. All das hat aber vorläufig doch nur den Sinn und Nutzen, uns gegenüber aprioristischen Erkenntnistheorien in physikalischen Dingen die wünschenswerte geistige Freiheit zu verschaffen. Praktische Anwendungen in der physikalischen Forschung kommen nicht in Frage.
Mit Gesetzen psychischer Funktionen haben diese Erscheinungsgesetze nichts zu tun. Aus den Bedingungen der Analyse und des Zusammenfassens, der Affirmation [Bejahung - wp] und Negation, des unmittelbaren und mittelbaren Erkennens, des Begehrens und Verabscheuens, Zwecksetzens, Vorziehens läßt sich keine der Eigenschaften des Farben- oder Tongebietes ableiten. Die Eigenschaften entstehen ja nicht durch die Betätigung jener Funktionen, lösen vielmehr die Funktionen aus und bestimmen ihre Richtung. Die Erscheinungen sind uns mit ihren Eigenschaften gegeben, stehen uns als etwas Objektives, Eigengesetzliches gegenüber, das wir nur zu beschreiben und anzuerkennen haben. (1) Es kommt wohl vor, daß die Funktionen rückwirkend die Erscheinungen selbst verändern (wie z. B. durch eine konzentrierte Aufmerksamkeit die Intensität eines sehr schwachen Sinneseindrucks oder eines bloßen Vorstellungsinhaltes bis zu einem gewissen Grad erhöht werden kann). Aber im allgemeinen findet eine solche Rückwirkung nicht statt, und wo sie stattfindet, hält sie sich innerhalb der Möglichkeiten, die durch die eigene Natur der Erscheinungen vorgezeichnet sind. Wir können z. B. mit aller Anstrengung der Aufmerksamkeit dem Anschauungsraum keine neue Dimension hinzufügen, einen einfachen Ton nicht in zwei verwandeln, keinen Übergang zwischen Farben und Tönen erfinden, nicht einmal einen direkten Übergang zwischen Blau und Gelb (ohne Vermittlung von Rot oder Grün).

Eher kann man die Strukturgesetze der Erscheinungen auf physiologische Erklärungsgründe zurückführbar denken. Angenommen, wir erlangten einmal eine sogenannte astronomische Kenntnis der Gehirnprozesse, an die Farben, Töne usw. geknüpft sind, so müßten unter der Voraussetzung, daß die Erscheinungen diesen Prozessen genau parallel gehen, alle gesetzlichen Verhaltensweisen der Erscheinungen aus jener Kenntnis ableitbar werden. Dahin zielende Hypothesen finden sich jetzt schon gelegentlich, so z. B. in G. E. MÜLLERs physiologischer Theorie der Farbenerscheinungen. Denkt man sich solche allseitig vollendet und erwiesen, so würde die Phänomenologie mit diesem deduktiven Unterbau zugleich eine viel größere Allgemeinheit und innere Verknüpfung ihrer Sätze erhalten. Ihr Gegenstand wäre aber nach wie vor von den Gehirnvorgängen selbst verschieden, und sie würde keineswegs zu einem bloßen Kapitel der Physiologie. Denn würden auch die Gesetzlichkeiten innerhalb der einzelnen Sinne physiologisch deduzierbar, so bliebe doch die Eigenart der Qualitätenkreise (der Modalitätsunterschied nach der Ausdrucksweise von H. HELMHOLTZ) unableitbar. Augenblicklich aber ist die Phänomenologie nicht bloß eine selbständige Wissenschaft bezüglich des Gegenstandes, sondern auch bezüglich fast aller Aussagen, die über den Gegenstand gemacht werden können: sie können eben vorläufig nur direkt auf die Beobachtung des Gegenstandes gegründet werden.

In dieser Hinsicht ist immer noch das Geben auf seiten der Phänomenologie und das Nehmen auf seiten der Physiologie. HERING hat mit Recht betont, daß das Erste in der Farbentheorie die Analyse und Beschreibung der Erscheinungen, das Zweite erste die Aufstellung von Hypothesen über die ihnen entsprechenden organischen Prozesse sein muß. Wenn neuerdings JOHANNES von KRIES diesem Weg eine gewisse Skepsis entgegenbringt (2), so beziehen sich seine Bedenken, genau betrachtet, doch nur auf die zwingende Kraft gewisser Überlegungen, die bei der Aufstellung der Hypothesen mitwirken. Die von ihm gezogenen Schlüsse aus den Tatsachen der Farbenblindheit und der Helligkeitsverteilung im Spektrum auf die Netzhautprozesse nehmen doch prinzipiell denselben Weg. Vor allem aber liefern für die zentralen Vorgänge bei der Sinnesempfindung und bei den Assoziationsvorgängen, wenn man überhaupt etwas darüber sagen will, die subjektiv beobachteten Erscheinungen weit mehr Anhaltspunkte als die experimentelle Untersuchung der chemischen Veränderungen oder die mikroskopische Erforschung der Strukturverhältnisse in den Ganglienzellen der Gehirnrinde, obgleich natürlich alle diese Forschungswege miteinander verbunden werden müssen.

Demnach betrachten wir die Phänomenologie als eine Disziplin für sich neben den Natur- und Geisteswissenschaften; vorausgesetzt immer, daß man die von diesen beiden gegebenen Definitionen zugrunde legt. Aber die Trennung bedeutet auch nur eine Trennung der Aufgaben, nicht der Arbeit. Es gibt eine Phänomenologie, aber keinen Phänomenologen. Die Lösung der phänomenologischen Aufgaben wird noch lange hinaus oder allezeit Sache der Physiologen und der Experimentalpsychologen bleiben. Das Studium der obigen Fragen erfordert überall das Eingreifen des Experiments zur Veränderung der Reizeinwirkung auf die Nerven, es erfordert aber auch die beständige Verwendung psychologischer Begriffe und Kenntnisse. An der Verteilung der Arbeiten wird also durch die Anerkennung des selbständigen Gegenstandes nichts geändert. Dennoch ist es nützlich, sich der Verschiedenheit der spezifisch psychologischen, der physiologischen und der phänomenologischen Aufgaben bewußt zu bleiben.


2. Eidologie

Es ergibt sich aber aus den früheren Erwägungen (3) noch eine weitere Aufgabengruppe, die ihrer Natur nach keiner der bisher erwähnten Disziplinen zugehört: die Untersuchung der  "Gebilde".  Also die Lehre von den Begriffen, ihrem Verhältnis zu den Erscheinungen und zueinander; dann die Lehre von den Inbegriffen, speziell den Formen, worüber sich mancherlei allgemeine Sätze werden aufstellen lassen; weiter die Lehre von den Sachverhalten in allen ihren formalen Eigenschaften und gegenseitigen Beziehungen, z. B. vom Unterschied der Tatsachen und der Gesetze, der unmittelbaren und mittelbaren Wahrheiten, der einfachen und der in verschiedener Weise zusammengesetzten Sachverhalte, vom Zusammenhang und Bedingungsverhältnis der Sachverhalte, kurz alles, was man in der Logik als Eigenschaften und Unterschiede von Urteilen ihrem Inhalt nach, sowie als Schlußregeln aufzuzählen pflegt. (4) Schließlich aber auch die Lehre von den Werten, ihren allgemeinsten Klassen, ihren Zusammenhängen, ihrem System (Gütertafel).

Die Gesamtheit dieser Untersuchungen, die Wissenschaft der Gebilde, der sachlichen Korrelate psychischer Funktionen, können wir als  Eidologie  bezeichnen. Der Name mag und soll an die platonische Ideenlehre erinnern. Die Untersuchungen decken sich in der Tat mit denen, die PLATO im Sinn hatte und in Angriff nahm, wenngleich nicht mit seinen metaphysischen Folgerungen. Der gegenwärtigen Philosophie hat sich die Notwendigkeit, die Gebilde sowohl von den Erscheinungen als auch von den Funktionen zu unterscheiden, am handgreiflichsten in Sachen der Logik und Erkenntnistheorie fühlbar gemacht. Der innere Nexus eines logischen Schlusses ist lediglich bedingt durch den Inhalt der Prämissen und des Schlußsatzes. Die Schlußregeln sind nicht Kausalgesetze der Entstehung und Aufeinanderfolge von Urteilsakten, sondern Strukturgesetze von Sachverhalten. Die logische Notwendigkeit ist nicht identisch mit der psychologischen (5). Aber auch die Probleme einer allgemeinen Wertlehre sind schärfer gestellt, und ihre Durchführung ist versucht worden. Es handelt sich darum, ob überhaupt von unbedingt Wertvollem gesprochen werden kann, ob darunter bestimmte Gegenstände im früher erläuterten Sinn, etwa bestimmte gegenständlich betrachtete psychische Zustände (Erkenntnis, Liebe) zu verstehen sind, wie die Güterlehre will, oder nur formelle Eigenschaften psychischer Funktionen (KANTs kategorischer Imperativ verlangt eine formale Übereinstimmung des Wollens mit einem allgemeinen Gesetz, HERBARTs praktische Idee ebenso gewisse formale Eigenschaften des Wollens); ferner welche allgemeinste Verhältnisse zwischen Werten bestehen (primäre - abgeleitete Werte, Einschluß, Antagonismus oder gegenseitige Hebung und dgl.); ob es qualitativ unvergleichbare Werte gibt, wie etwa das Edle und das Gefällige (KANT) und unter diesen wieder spezifisch verschiedene Klassen; ob quantitative Bestimmungen und Vergleichungen möglich sind, selbst bei qualitativ Heterogenem, und nach welchen Gesichtspunkten; welchen sinn die Begriffe  Entwicklung, Fortschritt  besitzen, die offenbar auf Wertbegriffe gebaut sind (RICKERT unterscheidet nicht weniger als sieben Definitionen des Entwicklungsbegriffs) usw.

Wenn FRANZ BRENTANO (6) den Unterschied von "unmittelbar und mittelbar als richtig charakterisierten" Gefühls- und Wollensgegenständen in Analogie setzt zu dem Unterschied der unmittelbar und mittelbar einleuchtenden Wahrheiten, und wenn er demgemäß eine Art von emotionaler Evidenz lehrt: so zeigt schon die Möglichkeit einer solchen Auffassung die Verwandtschaft dieser Untersuchungen mit denen der "Reinen Logik". Es sind die inneren sachlichen Zusammenhänge, auf die in beiden Fällen die Frage zielt, in der Eidologie des Denkens wie des Wollens, nicht aber die durch die mannigfaltigsten psychologischen und selbst physiologischen Faktoren mitbedingten Sukzessionen der Denk- und Wollenszustände im denkenden und wollenden Individuum.

Die von den FICHTEschen Gedanken beeinflußten Forscher (RICKERT und MÜNSTERBERG) pflegen für diese rein sachlichen Bedingungen des Denkens wie des Fühlens und Wollens den Ausdruck "Überindividuelles" zu gebrauchen. Was wir  Eidologie  nennen, heißt ihnen Wissenschaft des Überindividuellen. Ich vermeide solche Ausdrücke, um nicht sogleich wieder metaphysische Gedanken in Mitschwingung zu versetzen, von denen diese Wissenschaft zunächst möglichst frei bleiben muß, wie wahr es auch sein mag, daß man von ihr aus zur Metaphysik weitergetrieben wird.

Nun gilt aber auch hier wie bei der Phänomenologie, daß die Lösung der erwachsenden Aufgaben nicht ohne Hilfe der Nachbardisziplinen erfolgen kann. Das Scheuklappenrezept versagt überall, wo empirische Zusammenhänge mitwirken und nicht rein deduktive Erkenntnisse möglich sind. Begriffe, Inbegriffe, Sachverhalte und Werte sind nun einmal Gebilde, die sich nicht irgendwo abgesondert in der Welt oder an einem "übersinnlichen Ort" als für sich seiende Wesen, sondern die sich überall als spezifische Inhalte psychischer Funktionen finden und nur als solche untersucht und beschrieben werden können. Sie existieren nicht als tote Präparate, als Petrefakten, sondern im Verband des lebendigen seelischen Daseins. Die Forderung einer Logik, Ästhetik, Ethik ohne jede Rücksicht auf Psychologie ist, wie man auch im übrigen die Aufgaben dieser Wissenszweige bestimmen mag, schlechthin widersinnig. Wenn Erkenntnistheoretiker, wie besonders HUSSERL, gegen die Vermischung der Psychologie mit der "Reinen Logik" kämpfen, so haben sie nur die genetische, nicht die deskriptive Psychologie im Auge, wobei letztere vielmehr gerade von HUSSERL in jedem Punkt herangezogen und zum bevorzugten Gegenstand seiner eindringenden Untersuchungen gemacht wird. Die Beschreibung, Unterscheidung, Klassifikation der "Akterlebnisse", das Studium ihrer feinsten Zusammenhänge durchzieht sein ganzes Werk. Nun läßt sich freilich von der bloßen Deskription die genetische Psychologie doch auch nicht so vollkommen trennen, wie man ihre Aufgaben trennen kann und soll (7). Aber abgesehen davon: Psychologie ist die eine wie die andere. (8)

Und nicht allein Psychologie, auch zahlreiche andere Wissenszweige haben bei der Eidologie mitzuhelfen. Wie wollte man etwa eine allgemeine Theorie der Formen (9) und der ästhetischen und ethischen Werte aufbauen ohne das umfassende Material der geschichtlichen und ethnologischen Bildungen? Die Wertlehre hat dann auch schon engen Anschluß mit der Nationalökonomie gewonnen, nicht minder mit der Jurisprudenz und sozialgeschichtlichen Forschungen. Das Ineinandergreifen aller psychischen Funktionen und das Aufeinanderwirken psychischer Individuen unter den verschiedensten äußeren Bedingungen, wie es die konkreten Geisteswissenschaften darstellen, liefert allein die Tatsachen, deren sorgfältige Analyse, zusammen mit der Selbstbeobachtung des Psychologen, zu den allgemeinen Begriffen und Sätzen einer Wertlehre führen kann. Ebenso kann man ja auch eine induktive Logik, die reine Logik induktiver Schlußfolgerungen, nicht entwickeln, außer aufgrund der Vertiefung in die tatsächlichen Wege der induktiven Einzelwissenschaften, mag man auch dabei immer zuletzt auf apriorische Grundsätze stoßen. So wahr es ist, daß das Seinsollende nicht zusammenfällt mit dem Seienden, so wenig kann doch die Welt der Werte losgelöst von der Welt der Dinge und ihrer empirischen Gesetze konstruiert werden.

Man muß hier aber die Quellen eidologischer Erkenntnisse und die eigentliche Beweisführung unterscheiden. Ich denke, daß es sich damit ähnlich verhält wir mit mathematischen Sätzen. Sie werden vielfach durch Erfahrungen des täglichen Lebens oder durch unseren besonderen Beobachtungen und Versuche der Aufmerksamkeit des Mathematikers nahegelegt. Aber den Beweis wird er nicht darauf stützen. Und so dürfte ein vernünftiger Purismus in dem einen Punkt Recht haben: daß die Schönheit einer Form, die Wahrheit eines Satzes, die Güte einer Willensrichtung nicht durch irgendwelche bloß genetische Betrachtungen  bewiesen  werden kann. Selbst wenn die ganze Menschheit gleichzeitig von einem Glauben zum andern, von einer Werthaltung zur anderen übergegangen wäre, würde daraus nicht folgen, daß der spätere Glaube richtiger, das spätere Fühlen reiner und höher wäre. Entweder kann dies überhaupt nicht bewiesen werden, oder es bedarf noch anderer und besonderer Prämissen, die aus einem innerlichen Erfassen, einer intuitiven Evidenz ihre Kraft Beziehen. Das ist der einfache, nichtsdestoweniger bedeutsame Sinn des Protestes gegen Psychologismus, Historismus, Pragmatismus. Was darüber hinausgeht, bedeutet einen Rückfall in Fehler der aprioristisch-konstruktiven Philosophie (10).

Wieder eine besondere Frage betrifft die Darstellung der Ergebnise. Wir wollen annehmen, die eidologischen Disziplinen seien bereits so entwickelt, daß es möglich wäre, ihre Begriffe und Gesetze als gesonderte Erkenntniskomplexe einheitlich hinzustellen (was nur für die "reine Logik" bis jetzt in größerem Umfang möglich ist): dann ist es sicherlich geboten, in einer solchen Darstellung die rein sachlichen Verknüpfungen, die von einem zum anderen Punkt führen, herauszuschälen und sie von allen psychologischen, genetischen, historischen Zutaten ebenso zu sondern, wie der Mathematiker historische Erläuterungen und praktische Anwendungen von seinen Lehrsätzen sondern muß. Aber es ist ein Unterschied: bei der Mathematik bleibt eine solche Darstellung in sich verständlich und von höchstem Interesse, sie ist ohne weiteres vollständig. Bei eidologischen Wissenschaften würde sie für sich allein weder hinreichend verständlich noch besonders fesselnd sein. Hier müssen in der Darstellung unbeschadet aller begrifflichen Reinheit die Bedingungen, unter denen die Gebilde in Wirklichkeit auftreten oder in Wirklichkeit übergeführt werden, beständig mitberücksichtigt werden. Es möchte sich daher nicht empfehlen, Professuren der reinen Eidologie zu begründen.


3. Allgemeine Verhältnislehre

Eine dritte Gruppe von Gegenständen, die man weder physische noch psychische im vorher erläuterten Sinn nennen kann, bilden die Verhältnisse. Jede Wissenschaft erforscht spezifische Verhältnisse zwischen ihren Gegenständen oder den Teilen ihrer Gegenstände. Die entsprechenden, oft sehr verwickelten Verhältnisbegriffe werden durch Definitionen festgelegt. Sie enthalten aber einfachste Verhältnisbegriffe, wie Ähnlichkeit, Gleichheit, Steigerung, logische und reale Abhängigkeit, Verhältnis von Ganzem und Teil usw. Diese Begriffe bedeuten weder Erscheinungen noch aus ihnen Erschlossenes noch psychische Funktionen noch Gebilde. Auch die kantische Bezeichnung "Denkformen" scheint mir irreführend, da es sich nicht um Eigenschaften intellektueller Funktionen, um Verfahrensweisen des Geistes und dgl. handelt. Die Ähnlichkeit ist nicht ein Vergleichen, das Ganze nicht ein Zusammenfassen, die Abhängigkeit nicht ein Abhängigsetzen. Vielmehr sind bestimmte urpsrüngliche Verhältnisse uns in einem gleichen Sinn gegeben wie die Erscheinungen, in und mit ihnen, oder wie die Funktionen (wenn es sich um Verhältnisse von Funktionen unter sich handelt), oder wie beide zusammen (wenn es sich um Verhältnisse zwischen beiden handelt). Sie werden mit wahrgenommen, drängen sich auf; wir konstatieren sie, schaffen sie aber nicht. Aus diesen ursprünglich gegebenen können dann erst die verwickelteren durch Definitionen geschaffen werden.

In vielen Fällen handelte es sich auch wohl, statt um ein Wahrnehmen, um ein bloßes Annehmen von Verhältnissen. Wir erschließen bestimmte Relationen, analog denen, die wir bereits durch Wahrnehmung an Erscheinungen oder Funktionen kennen, nach gewissen Anhaltspunkten auch da, wo wir sie nicht direkt beobachten können, im physischen oder im unbewußt-psychischen Gebiet (natürlich auch im bewußt-psychischen, soweit dieses selbst nur erschlossen wird). Aber auch da ist es nicht ein Schaffen, sondern nur ein Nachschaffen, ein Wirtschaften mit den zuvor wahrgenommenen Verhältnissen.

Im Hinblick auf jene allgemeinsten und einfachsten Relationsbegriffe entsteht nun die Aufgabe, sie vollständig zu bestimmen und ihren Ursprung wie die etwa daran geknüpfte innere Gesetzlichkeit nachzuweisen. Unter "Ursprung" sind diejenigen Erscheinungen oder Funktionen oder Gebilde zu verstehen, deren Wahrnehmung zugleich das jeweilige Verhältnis mitzuerfassen gestattet. So bieten uns die Erscheinungen vielfältige Ähnlichkeiten, Steigerungen, Verschmelzungen, Teilverhältnisse überhaupt, die Sachverhalte, Verhältnisse logischer Abhängigkeit u. a., die psychischen Funktionen (wie ich mit BENEKE glaube) Verhältnisse realer Abhängigkeit. Es ist nichts weiter als Konzentration des Bewußtseins auf diese Gegenstände erforderlich, um konkrete Verhältnisse der genannten Art zu erfassen und damit die Grundlage für die Verhältnisbegriffe zu gewinnen.

Es ist aber auch eine wichtige Aufgabe, die Verhältnisse zwischen jenen großen Gebieten selbst, Erscheinungen, Funktionen, Gebilden, festzustellen. Und schließlich ist es nötig, die charakteristischen einfachen Relationen aufzusuchen, die sich nur in einzelnen Gebieten finden; beispielsweise zu untersuchen: ob nur innerhalb der Erscheinungen und vielleicht sogar nur unter einzelnen Klassen derselben solche Verhältnisse vorkommen, die die Anwendung von Größenbegriffen und von Messungen gestatten; ferner: ob das Verschmelzungsverhältnis, das im Tongebiet eine fundamentale Rolle spielt, Analoga auf anderen Gebieten hat; nicht minder: ob das Verhältnis von Erscheinungen und von psychischen Funktionen, die sich auf sie beziehen, unter irgendein anderes Verhältnis subsumierbar oder ob es gänzlich  sui generis  (aus sich selbst heraus - wp] ist, usf.

Diese Aufgaben können, sollten unsere früheren Bestimmungen zutreffen, weder der Psychologie noch der Phänomenologie noch der Eidologie zufallen, sondern nur einer besonderen Wissenschaft, einer allgemeinen Verhältnislehre. Ihren Gegenstand bilden also die einfachsten Verhältnisse auf allen Hauptgebieten des menschlichen Erkennens. Gräzisiert [vergriechischt - wp] müßte sie  Logologie  heißen, wir werden aber hier den deutschen Ausdruck und entsprechende Umschreibungen in anderen Sprachen vorziehen. Zu einer solchen Verhältnislehre haben LOCKE und HUME den Grund gelegt, sie ist neuerdings von MEINONG, LIPPS, HUSSERL weitergebildet worden. Aber auch Naturforscher und Mathematiker (AMPÉRE, H. GRASSMANN und die Vertreter der "Algebraischen Logik" oder "Reinen Mathematik", zuletzt BERTRAND RUSSELL) haben eine zumindest relativ allgemeine Verhältnislehre, nämlich für Erscheinungs- und für Begriffsverhältnisse, aufzustellen versucht.

Die in diesem Abschnitt erläuterten drei Wissenschaften könnte man in gewissem Sinn als  Vorwissenschaften  sowohl für die Natur- wie für die Geisteswissenschaften bezeichnen, und zwar nicht bloß für die theoretischen, sondern auch für die praktischen Diszplinen beider Gebiete (so die Wertlehre für die Ethik, Pädagogik, Volkswirtschaftslehre). Sie sind das Atrium und das Organon jeder anderen Wissenschaft, sofern der Gegenstand einer jeden  ihren  Gegenstand einschließt, sofern jede Forschung von Verhältnisbegriffen und -gesetzlichkeiten Gebrauch macht und es daher, ideal gesprochen, das Richtige sein würde, sich zuerst über deren wissenschaftliche Legitimation Rechenschaft zu geben. In einer idealen Enzyklopädie des Wissens müßte in synthetischer Weise alles, was sich über Relationen zwischen beliebigen Elementen im allgemeinen sagen läßt, vorausgeschickt werden. Wer dies bewältigt hätte, würde dann mit geschärftem Blick an die Einzeldarstellung herantreten.

Gleichwohl würde sich dies wegen der außerordentlichen Abstraktheit solcher Sätze didaktisch kaum empfehlen, und der historische Verlauf ist ja auch der umgekehrte. Jede Disziplin formt die für sie maßgebendsten zusammengesetzteren Verhältnisbegriffe zu ihrem Hausgebrauch, wandelt die Definitionen aufgrund genauerer Analyse oder Tatsachenkenntnis um, bedient sich dabei stets implizit der allgemeinsten und einfachsten Relationen, ohne darüber zu reflektieren, und sieht sich erst spät durch auftauchende und immer wiederkehrende prinzipielle Schwierigkeiten zu einer solchen Reflexion gezwungen. So sind Streitigkeiten über den Kausal- und Substanzbegriff, über die mathematischen Grundverhältnisse, über das Verhältnis der Erscheinungen und psychischen Funktionen, über das zwischen erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt usw. entstanden. Und so wurde erst jetzt die Idee einer allgemeinen Verhältnislehre da und dort lebendig.

Was man seit ZELLER  Erkenntnistheorie  nennt, fällt zum großen Teil oder ganz in den Rahmen dieser Vorwissenschaften. Nur möchte ich glauben, daß man (ganz abgesehen vom Formelwesen eines verknöcherten Kantianismus) die Fragen, die in ein Organon der Wissenschaften gehören, in den üblichen erkenntnistheoretischen Untersuchungen viel zu eng begrenzt habe. Schon dadurch, daß fast immer nur von der Erkenntnis der Außenwelt die Rede ist, als gäbe es nicht noch umfassendere und tiefere Probleme. Ferner dadurch, daß die Phänomenologie in diesem Kreis ganz vernachlässigt wurde, während gerade von hier aus durch eine genaue Erforschung des in den Erscheinungen unmittelbar gegebenen Tatbestandes wichtigste Beiträge zu gewinnen sind. Denken wir nur an den Begriff der attributiven Verknüpfung (wie zwischen Farbe und Ausdehnung); an die Raum-, Zeit- und Bewegungserscheinungen, deren rein phänomenalistische Analyse erst klar die Bedeutung der begrifflichen Umformungen zeigt, wodurch sie für die Naturwissenschaft verwendbar wurden; an jene qualitative Algebra, die vom Bann der räumlichen Vorstellungswelt prinzipiell befreit. Im übrigen ist nichts dagegen zu sagen, daß man die drei Vorwissenschaften unter dem Namen Erkenntnistheorie zusammenfaßt. Auch brauchen die drei in der Durchführung nicht so gesondert gehalten zu werden wie in der Definition, sondern können in verschiedener Weise in das Ganze einer organisch zusammenhängenden Darstellung verwoben werden. Ja, es ist sogar unmöglich, die Verhältnisse gründlich abzuhandeln, ohne beständig in die Phänomenologie und Eidologie hinüberzugreifen, und umgekehrt. Hier war es uns nur wieder um eine möglichst konsequente Klassifikation der Probleme selbst zu tun.
    In neueren Zeit spricht MEINONG von "Gegenstandstheorie" in einem Sinne, der augenscheinlich gleichfalls auf eine Art von Vorwissenschaft zielt (11). Ausdrücklich betont er, daß die reine Erscheinungslehre nicht zur Psychologie gerechnet werden kann, daß man ferner "Gegenstände höherer Ordnung" unterscheiden muß, wozu er die Verhältnisse und die "Objektive" (Sachverhalte) rechnet, und daß diese Gegenstände besondere Untersuchungen beanspruchen. Indem ich diese Übereinstimmungen, die ohne Zweifel gleich manchen sonstigen in einem gemeinschaftlichen Ausgangspunkt der BRENTANOschen Lehre von den psychischen Akten wurzeln, hervorhebe, muß ich doch bekennen, daß es mir nicht gelungen ist, über die allgemeine Definition der "Gegenstandstheorie" ins Klare zu kommen.

    Unter den Gegenständen versteht MEINONG alles, worauf psychische Akte gerichtet sein können (§ 1). Da aber alles, was Gegenstand irgendeines psychischen Erlebnisses sein kann, auch Gegenstand einer Erkenntnis sein kann, so läßt sich Gegenstandstheorie auch als Theorie der Erkenntnisgegenstände definieren (§ 6). Ich möchte nun fragen: was soll hier eigentlich von den Erkenntnisgegenständen festgestellt und über sie ausgesagt werden? Wenn man absieht von einer Untersuchung der  einzelnen Klassen  von Erkenntnisgegenständen, welche doch Aufgabe anderer Wissenschaften ist, der Mineralogie, Psychologie, Sprachforschung usw., wenn man also nur das untersucht, was sich über Gegenstände als solche überhaupt sagen läßt, so scheint mir nichts als die Bestimmung des Gegenstandsbegriffes selbst und die Klassifikation der Gegenstände übrigzubleiben. Phänomenologie, allgemeine Verhältnislehre gehören auch schon nicht mehr zu einer Theorie der Gegenstände überhaupt, sondern behandeln besondere Klassen von Gegenständen (das Wort in einem weiten Sinn genommen, wie es MEINONG tatsächlich versteht), so gut wie Mineralogie oder Psychologie. Jene Wissenschaft aber, die den Gegenstandsbegriff selbst und seine Arten zu ihrem Gegenstand macht, würde ich nur als ein Kapitel der Eidologie ansehen, da die Entstehung von "Gegenständen" aufs das Engste mit der von begrifflichen Gebilden zusammenhängt. In praxi wird man davon in der Logik handeln.

    Wenn man Phänomenologie, Verhältnislehre, Objektivenlehre zu einer Gruppe unter einem Namen zusammenfaßt, so kann dies nur geschehen mit Rücksicht auf jene ihre eigentümliche Stellung zu den übrigen Wissenschaften, derzufolge wir sie als Vorwissenschaften bezeichneten. Auch MEINONG schreibt ihnen offenbar eine ähnliche Bedeutung zu. Aber die Subsumtion unter seine "Gegenstandswissenschaft" kann ich nur als eine unglückliche ansehen, da ich eben das gemeinsame Merkmal, das die Subsumtion rechtfertigen würde, in der Definition dieser Wissenschaft nicht zu entdecken vermag.

    MEINONG legt besonderes Gewicht darauf, daß die ganze Mathematik nur als "ein Stück Gegenstandstheorie" verstanden werden kann, und daß nur mit der Aufstellung dieses Begriffs die alte Schwierigkeit, die Mathematik im System der Wissenschaften unterzubringen, lösbar erscheint (§ 2, § 9). Dadurch würde nun freilich der neuen Wissenschaft ein ungeheures Königreich eingegliedert, und niemand könnte mehr an der Existenz und Berechtigung einer Gegenstandstheorie zweifeln. Aber MEINONG betrachtet sie dann doch nur als eine  "spezielle  Gegenstandstheorie", von der er die intendierte  allgemeine  Gegenstandstheorie noch unterscheidet (§ 10). Über diese selbst erfahren wir damit noch nichts. MEINONGs Schüler MALLY stellt nun aber im gleichen Sammelwerk die Mathematik zur Gegenstandstheorie vielmehr in  Gegensatz:  diese untersuche Gegenstände  gegebener  Vorstellungen und Begriffe, die Mathematik aber bildet und untersucht die in ihren Definitionen  angenommenen  (fingierten) Gegenstände. Die Gegenstandstheorie würde demnach mit sämtlichen anderen Wissenschaften der Mathematik gegenüberstehen und diese nicht einschließen, sondern ausschließen. Die Auffassung weicht prinzipiell von der MEINONGschen ab, wovon aber beide Autoren keine Notiz nehmen. Jedenfalls führen so verschiedene Versuche, die Mathematik in ein Verhältnis zur Gegenstandstheorie zu bringen, nicht zu besserer Erkenntnis dieser letzten, sondern eher zu dem Schluß, daß ihr Begriff noch nicht mit genügender Klarheit formuliert ist.

    Gegen den Schluß von MEINONGs Ausführungen wird, um Gegenstandstheorie und Metaphysik abzugrenzen, noch eine beachtenswerte Definition gegeben. "Was aus der Natur eines Gegenstandes, also a priori in Bezug auf diesen Gegenstand erkannt werden kann, das gehört in die Gegenstandstheorie." In MEINONGs späteren Ausführungen tritt dieses Merkmal geradezu als das entscheidende auf. Danach muß allerdings die ganze Mathematik dazu gerechnet werden: aber eine Abgrenzung der allgemeinen gegen die spezielle Gegenstandstheorie ist damit doch auch nicht gegeben. Von der Phänomenologie, die doch im Hinblick auf ihren Gegenstand einen festgeschlossenen und wohlabgegrenzten Kreis von Untersuchungen bildet, würde der Gegenstandstheorie nur das Apriorische zufallen. Wieviel nun von phänomenologischen Ergebnissen a priori bewiesen werden kann, mag hier unerörtert bleiben: - alles aber jedenfalls nicht. Somit müßte sie gespalten werden. Der apriorische Teil würde dann aber wieder nicht etwa der allgemeinen, sondern offenbar einer speziellen Gegenstandstheorie angehören. Also auch von der Phänomenologie bliebe für die allgemeine Gegenstandstheorie nichts übrig. Und von jenen "heimatlosen Gegenständen", die MEINONG in der letzten Abhandlung (Über die Stellung etc.) für sie reklamiert, blieben nur die "unmöglichen Gegenstände", denen man doch schwerlich eine selbständige Wissenschaft widmen wird.

    Nun ist es gewiß denkbar, daß das Gemeinschaftliche aller speziellen apriorischen Erkenntnisse, d. h. die allgemeinsten apriorischen Sätze aller Wissenschaften schlechthin, zu einem Ganzen vereinigt würde, wie dies in ihrer Weise die schottische Schule und KANTs Vernunftkritik versucht haben. Die Aufgabe ist aber von der Logik und Erkenntnistheorie doch niemals aus dem Auge gelassen worden; während sich gerade von den "Untersuchungen zur Gegenstandstheorie" bisher keine einzige damit beschäftigt.

4. Metaphysik

Die Verfolgung der durch den Gegensatz der Erscheinungen und der psychischen Funktionen gegebenen Richtungslinien führt zu einer letzten Wissenschaft, die gegenüber den Vorwissenschaften und dem Zentralstock als Nachwissenschaft gelten kann: zur Metaphysik. In diesem Sinne würden wir freilich ebensogut Metaphysik sagen können, da Psychologie ebenso und noch mehr ihre Voraussetzung ist wie Physik.

Es seien die Erscheinungen in sich selbst, es seien die psychischen Funktionen, es seien die Gebilde, auch die Verhältnisse in und zwischen diesen Gegenständen, schließlich die jenseits der Erscheinungen liegenden physischen Gegenstände bestonderen Wissenschaften oder Wissenschaftsgruppen zugeteilt: so entsteht schließlich die Frage  nach gemeinschaftlichen Gesetzen und nach dem einheitlichen Zusammenhang aller dieser vorher unterschiedenen Gegenstände.  Welchen Begriffen und Gesetzen läßt sich besonders das Verhältnis des Physischen zum Psychischen unterordnen? Welches ist ferner der Begriff und das Kriterium der Realität (denn dieser Begriff ist vor allem das Zentrum, das alle Gegenstände zusammenbindet, wenn er auch nicht der Gattungsbegriff für alle ist), und was ist nach dem aufzustellenden Kriterium als real anzuerkennen, Physisches oder Psychisches oder beides oder ein unbekanntes Drittes statt beider? Was heißt Kausalität im physischen, im psychischen Gebiet? In welcher Beziehung steht das Psychische zum Gesetz der Energie und anderen im physischen Gebiet als allgemein gültig angesehenen Formeln? Gibt es ein allgemeines Gesetz der Stetigkeit (LEIBNIZ)? Läßt sich ein allgemeinster Begriff und lassen sich allgemeine Gesetze der zeitlichen Entwicklung aufstellen, und in welchem Verhältnis stehen wieder die Entwicklungen der psychischen und der physischen Welt, für welche Gebiete uns beiderseits ein so reiches, aber noch keineswegs einheitlich verknüpftes Material vorliegt? Gibt es eine immanente Zweckmäßigkeit oder Zielstrebigkeit der Dinge? Wie ist das teleologische Problem in seiner allgemeinsten Form zu fassen und zu lösen? Was hat die Objektivität und Identität der "Gebilde", ihre Unabhängigkeit von den individuellen Akten, zu bedeuten? Wie müssen die durch den zweiten Hauptsatz der mechanischen Wärmelehre entstandenen Paradoxien in Bezug auf Anfang und Ende des Weltprozesses behandelt werden? Wie sind die dadurch erneuerten alten Antinomien betreffs Endlichkeit und Unendlichkeit von Raum, Zeit, Masse heute am einwandfreiesten aufzulösen? (Denn daß KANTs Lösung nur eine Zurückschiebung war, ist leicht zu sehen.) Läßt die nicht-euklidische Geometrie, speziell der RIEMANNsche Raum, läßt ferner die CANTORsche Mengenlehre stichhaltige Anwendungen auf diese Probleme zu? Welche allgemeine Weltanschauung ergibt sich aus all dem als getreuester Ausdruck des gegenwärtigen Standes menschlicher Wissenschaft?

Man sieht, von allen Seiten drängen die Fragen heran, und keine Disziplin der reinen Vernunft kann dem menschlichen Geist wehren, ihrer Klärung nachzugehen. Nicht bloß eine Wissenstheorie, sondern in der Tat eine Welttheorie ist es, die trotz allen Widerspruchs der Erkenntniskritiker unabweislich gefordert werden muß. Sie ist nicht ein aus einem Mißverständnis des Erkenntnisbegriffs und der Erkenntnisbedingungen hervorgegangenes Phantom, sondern prinzipiell genauso möglich und berechtigt wie jede sonstige Erkenntnis. Freilich nicht irgendeiner alten Metaphysik reden wir das Wort, sondern einer neuen, und nicht einem a priori konstruierten, mit einem Wurf vollendeten Bau, sondern einer Erfahrungsmetaphysik, wie sie jede Zeit als relativen Abschluß ihres Wissens braucht. Weil sie an die Fortschritte der Einzelwissenschaften gebunden ist, setzt sie unter allen Wissenschaften geradezu die breiteste Erfahrungsbasis voraus, ist Erfahrungswissenschaft im prägnantesten Sinn des Wortes. Jeder neue Aufschwung, jede gründliche Umwälzung größerer Wissenschaftsgebiete bedeutet auch für sie eine neue Förderung, wenn auch nur die allergrößten Revolutionen direkt neue metaphysische Gestaltungen nach sich ziehen: wie das Aufkommen des kopernikanischen Systems, wie die Blüte der Physik seit GALILEI, wie die entwicklungsgeschichtliche Auffassung der Organismen. Wegen dieses Abhängigkeitsverhältnisses, das ihrer königlichen Würde keinen Abbruch tut, haben wir Metaphysik als eine Nachwissenschaft bezeichnet; wie es dann auch bei ANDRONIKUS von RHODUS wohl nicht ganz zufällig war, daß er die aristotelischen Schriften über die "erste Philosophie" hinter die physischen (meta ta physika) stellte. Daß die Nachwissenschaft gleichwohl die älteste, die Vorwissenschaften aber die neuesten sind, darf niemand wundern, der den Gang des menschlichen Erkennens verfolgt. Das Höchste reizt zuerst den Wissenstrieb. Vor den sich auftürmenden Schwierigkeiten scheut er zeitweilig zurück, aber die alten Fragen lassen ihm keine Ruhe.


V. Reduktion durch Einführung
des Realitätsbegriffs

Die im vorigen entwickelte Gliederung nach Gegenständen nimmt den Gegenstandsbegriff im weitesten Sinne, wie er im II. Abschnitt erläutert ist. Vom Merkmal der Realität wird dabei abgesehen. Sie wird aus ebendiesem Grund nicht jedem zusagen. Soll wirklich, wird man fragen, die alte Scheidung des Physischen und des Psychischen, statt überwunden zu werden, noch durch neue Glieder vermehrt werden, während doch Erscheinungen nicht vorkommen ohne erscheinendes Objekt und ohne Subjekt, dem sie erscheinen, Gebilde aber nur als Inhalte psychischer Funktionen denkbar sind? Und soll gar noch eine Welt der Verhältnisse danebengestellt werden, während doch Verhältnisse nie getrennt von den Dingen und Eigenschaften vorkommen, die in Verhältnissen zueinander stehen?

Hier gilt es, den allgemeinsten Begriff des Gegenstandes und den des realen Gegenstandes genau auseinanderzuhalten. Sobald man den letzten zum Einteilungsgrund nimmt, verändert sich die Konfiguration. Dann wird man Natur- und Geisteswissenschaften von vornherein bestimmen als Wissenschaften vom physisch Realen und vom psychisch Realen; oder, wie der parallelistische Monist sagt, vom Realen nach seiner physischen und von demselben Realen nach seiner psychischen Seite. Dann gibt es nur  eine  Wissenschaft außer diesen beiden Gruppen: die von den gemeinschaftlichen Begriffen und Gesetzen für alles Reale schlechthin, bzw. für beide Seiten des Realen; welches nunmehr die Definition der Metaphysik ist. Von den Vorwissenschaften gehören dann Phänomenologie und Eidologie zur Psychologie, weil Erscheinungen und Gebilde zur psychischen Realität gehören: die allgemeine Verhältnislehre aber bildet einen Teil der Metaphysik, weil es sich um Verhältnisse handelt, die gleichmäßig in beiden Gebieten oder die zwischen ihnen obwalten.

In diesem Fall resultiert nur eine  Dreiteilung.  Aber es liegen hier eben eine Reihe Voraussetzungen zugrunde, die bei der vorigen Gliederung umgangen werden: nämlich die Realität des Physischen, die der Realität des Psychischen (mag es dasselbe Reale sein oder ein verschiedenes), die der Unrealität der Erscheinungen und der Gebilde in sich selbst, schließlich die der Unrealität oder unselbständigen Realität der Verhältnisse (in welcher Beziehung man schlechthin nichtreale Verhältnisse, die nur durch Denken entstehen, und solche, die in den Dingen selbst wurzeln, zu scheiden pflegt). Wenn man nun die hierauf bezüglichen Fragen und vor allem die nach dem Realitätsbegriff selbst als einstimmig und definitiv beantwortet ansehen könnte, so ließe sich in der Tat unter Vorausschickung der nötigen Erläuterungen die Einteilung und Definitioni der Wissenschaften in dieser Weise vornehmen und würde als einfachere den Vorzug verdienen. Sachlich wird so natürlich an den Gegenständen und Aufgaben der einzelnen Untersuchungen nichts geändert; z. B. die Erscheinungslehre bleibt, was sie ist, mag sie als besondere Wissenschaft oder als Teil der Psychologie betrachtet werden, und so auch die übrigen.

Sieht man die gegenwärtigen Lehrbücher der Physik, Physiologie, Psychologie daraufhin an, so wird man bemerken, daß sie tatsächlich oft ein gutes Stück Metaphysik an den Eingang stellen. Der Physiker pflegt es kürzer, wie eine leidige Notwendigkeit, abzumachen. Viel mehr findet man schon bei Physiologen (wie VERWORN, BUNGE). Besonders aber ergehen sich Psychologen in ausführlichen Einleitungen über diese Fragen, über Objekt und Subjekt, Wesen der Seele, Verhältnis zum Leib, Parallelismus, Panpsychismus usw. Und zwar verfahren so nicht bloß Psychologen älterer, mehr abstrakter Richtung, sondern auch Experimentalpsychologen, wie EBBINGHAUS und MÜNSTERBERG. Bekanntlich hatte F. A. LANGE eine "Psychologie ohne Seele" verlangt und LOTZE dafür getadelt, daß er sogar seiner "Medizinischen Psychologie" 170 Seiten Metaphysik vorausschickte. Der mehr geistreiche als gründliche Geschichtsschreiber des Materialismus hat mit seiner scharfen Zensur, wie man sieht, das Wiederaufleben der angeblichen Unart nicht verhindert. Ja, die heutige Psychologie ist fast wie die HERBARTsche "neugegründet auf Erfahrung, Metaphysik und Mathematik", jedenfalls noch immer mehr auf Metaphysik als auf Mathematik.

Ob nun diese metaphysischen Einleitungen in Lehrbüchern durchaus notwendig sind, bleibt hier dahingestellt; es wird auf die näheren Zwecke einer Schrift ankommen. Ich führe sie hier nur als Beweis an, daß eine gegenständliche Abgrenzung der Natur- und Geisteswissenschaften, wenn eine größere Zahl von Einteilungsgliedern vermieden werden soll, notwendig metaphysische Erörterungen voraussetzt, die sich um den Realitätsbegriff gruppieren. Will man solche Erörterungen nicht, so muß man eben Psychologie als Lehre von den psychischen Funktionen erklären, und dann fallen Phänomenologie usw. nicht in die Psychologie und man kommt zur mehrgliedrigen Einteilung des vorigen Abschnitts. Sie ist voraussetzungsloser.

Daß gemeinhin bloß Natur- und Geisteswissenschaften und über ihnen noch allenfalls Metaphysik unterschieden werden, beweist demnach nur wieder, daß eben auch das allgemeine Denken genug metaphysische Voraussetzungen mit sich führt, um die Erscheinungen ohne weiteres der Seele oder den Körpern und damit die Phänomenologie der Psychologie oder der Naturwissenschaft einzufügen.

Ich möchte hier eine noch weiter greifende Vereinfachung kurz berühren, die scheinbar gerade auf einer völligen Elimination des Realitätsbegriffs ruht. Naturforscher, die KANT oder SCHOPENHAUER, neuerdings auch wohl MACH, zum Führer gewählt haben, überraschen uns durch eine merkwürdige Wendung. Sie schließen: da die Naturwissenschaft von den Erscheinungen handelt, Erscheinungen aber etwas Psychisches sind, so soll überhaupt alle Wissenschaft Psychologie sein (12).

So hätten wir einen universalen Psychologismus, gegen welchen der von den Erkenntniskritikern so stark perhorreszierte [abgelehnte - wp] Psychologismus, der sich nur die Eidologie angeeignet hatte, eine Kleinigkeit wäre. Er hätte nicht bloß die gesamte Philosophie, sondern auch alle übrigen Wissenschaften in sich verschlungen. Nachdem man schon vom "kaudinischen Joch [schimpfliche Demütigung - wp] der Psychologie" gesprochen hat, darf wohl besonders konstatiert werden, daß dieser Gedanke nicht von Psychologen ausgegangen ist.

Aber die erste Prämisse des Schlusses, die zu so einer paradoxen Folgerung führt, ist falsch, die zweite nur bedingt richtig. Weder handelt die Naturwissenschaft von Erscheinungen, noch sind Erscheinungen etwas Psychisches im Sinne der psychischen Funktionen, die den primären Gegenstand der Psychologie bilden. Die Naturforschung hat ihr selbständiges, von dem der Psychologie hinsichtlich der Objektbestimmung durchaus unabhängiges, Untersuchungsgebiet.


VI. Individuelles und Allgemeines.
Tatsachen- und Gesetzeswissenschaften

1. Den Unterschied zwischen individuellen und allgemeinen Gegenständen dürfen wir hier als gegeben hinnehmen. Worin auch immer das Kriterium der Individualität (Prinzip der Individuation) in den verschiedenen Gebieten gesucht und in welchem Sinn überhaupt von einem solchen Kriterium gesprochen werden mag: wenige werden leugnen, daß die Wahrnehmung, auch die bloße Vorstellung und das Urteil, im physischen wie im psychischen Gebiet Individuelles zum Gegenstand haben kann. Zu den individuellen Gegenständen rechnen wir hier aber auch Gruppen von individuellen Gegenständen (Kollektiva), innerhalb deren Individuen in engerem Sinn unterschieden werden können. Die Bestimmung der letzten Individuen unterliegt, im physischen Gebiet zumindest, bekannten Schwierigkeiten. Für die Anhänger der Atomlehre würde, wenn sie den Begriff des Atoms in einem absoluten Sinn fassen, damit zugleich das Individuum im engsten Sinn gegeben sein, wie es ja auch das Wort selbst andeutet. Alle übrigen sogenannten physischen Dinge wären Kollektiva. Wer aber einen stetigen Zusammenhang der Materie annimmt, muß den Begriff in den einzelnen Gebieten durch Definitionen festlegen, und es mag auch wohl das nämliche, was in Bezug auf höhere Kollektiva Individuum genannt wird, mit seinen eigenen Teilen verglichen, Kollektivum heißen. Diese Fragen können aber hier ganz auf sich beruhen. Denn ob man das Matterhorn als Individuum oder als Kollektivum betrachtet, jedenfalls ist es etwas Individuelles und nicht ein bloßer Begriff.

Daß man zwar von allgemeinen Gegenständen reden darf, wird nicht von jedem zugestanden, ist aber nicht minder einleuchtend, wenn der Ausdruck Gegenstand in einem weiten Sinn genommen wird, wie wir es hier verlangen, und wenn man die Unmöglichkeit des Nominalismus in all seinen Formen eingesehen hat. (13)

Nun kann man zwar von einem individuellen Gegenstand ein Gesetz behaupten. Denn wenn ich auch nur sage: "Dieser Apfel kann nicht zugleich reif und unreif sein" oder: "Dieser Apfel muß fallen, wenn sein Stiel durchschnitten wird", so spreche ich damit eine Notwendigkeit, also ein Gesetz aus, ganz ebenso, wie wenn ich den Satz des Widerspruchs oder das Fallgesetz in allgemeiner Form ausspreche. Und umgekehrt kann man in Bezug auf etwas Allgemeines eine bloße Tatsache aussprechen, z. B. "Es gibt unter den Sinnesinhalten Ähnlichkeiten, die nicht auf partielle Gleichheiten zurückführbar sind." Dennoch ist es gewiß, daß Wissenschaften von individuellen Gegenständen wesentlich auf die Formulierung bloßer Tatsachen, Wissenschaften von allgemeinen Gegenständen aber auf die Formulierung von Gesetzen abzielen, wenn auch Sachverhalte der entgegengesetzten Art in beiden Fällen als notwendige Durchgangspunkte auf dem Weg liegen. Und so führt der Unterschied von individuellen und allgemeinen Gegenständen auf den Unterschied der Tatsachen- und der Gesetzeswissenschaften.

Den Unterschied von Tatsachen und Gesetzen selbst halte ich für einen durchaus scharfen, ebenso wie den von Individuellem und Allgemeinem. Tatsache im weiteren Sinn heißt nach dem Sprachgebrauch jede Wahrheit. Aber Tatsache im engeren Sinn, bloße Tatsache, ist eine Wahrheit, die nicht Gesetz oder (was dasselbe sagt) nicht notwendig ist. Der primäre Begriffe also, von dem aus der Unterschied zu definieren ist, ist der des Gesetzes.

Und hier wieder ist das Primäre, wovon man ausgehen muß, das Logisch-Gesetzliche. Wer im Zweifel ist, ob der Ausdruck  Notwendigkeit  eine Bedeutung hat, die sich von der eines bloß als tatsächlich anerkannten Sachverhalts unterscheidet, braucht sich nur die logischen Axiome zu vergegenwärtigen. Sollten ihm aber, wie einigen Neueren, diese Sätze als bloße Definitionen, nicht als Erkenntnisse von Sachverhalten erscheinen,, so verweisen wir auf die Erkenntnis des Zusammenhangs von Prämissen mit den zugehörigen Schlußsätzen in gültigen Schlüssen beliebiger Art. Man braucht nur die Prämissen und den Schlußsatz eines gültigen Schlusses, statt sie als selbständige Urteile gesondert auszusprechen, durch die Formel "Wenn ..., und wenn ..., dann ..." mit dem Schlußsatz zu verbinden, so hat man ein zusammengesetztes Urteil, das niemand als Tautologie oder bloße Definition ansehen kann, und das dennoch eine unmittelbare Evidenz besitzt. Zum Beispiel: "Wenn alle  A B  und alle  B C  sind, so sind auch alle  A C."  Diese "Folgerungsaxiome" liegen nicht etwa selbst wieder als Prämissen unseren Schlüssen zugrunde (sonst hätten wir ja eben drei Prämissen statt zweier, und da ihr Zusammenhang mit dem Schlußsatz wieder einen evidenten Satz darstellt, so wrden sich ins Unendliche solche versteckte Prämissen herausziehen lassen, so daß jeder Einzelfall eines gültigen Schlusses tatsächlich unendlich viele Prämissen hätte). Vielmehr können die Folgerungsaxiome nur aus gegebenen Schlüssen nachträglich abstrahiert werden,  wenn  man seine Aufmerksamkeit auf den Zusammenhang der Vordersätze mit den Nachsätze richtet und diesen Zusammenhang zum Gegenstand eines besonderen Urteils macht. Tut man dies aber, dann erweisen sie sich als Sätze, die den Charakter der logischen Notwendigkeit an sich tragen. (14)

Jeder noch so extreme Empirist geht nicht bloß von irgendetwas Gegebenem aus, über das er einen Streit für ausgeschlossen hält, sondern er geht auch beständig von Erkenntnis zu anderen Erkenntnissen über, die er durch die ersten begründet denkt. Damit erkennt er, ohne es zu wollen und zu bemerken, den einleuchtenden Zusammenhang von Erkenntnissen an, den wir als logische Notwendigkeit bezeichnen. Damit ist das Fundament des strengen Begriffs von Notwendigkeit, von Gesetzlichkeit gegeben, ohne welchen jede Theorie menschlichen Wissens ein vergebliches Bemühen bleibt.

Von größter Wichtigkeit ist es, sich klar zu werden, daß diese Notwendigkeit nicht ein blinder, von irgendeiner unbekannten Macht ausgeübter Zwang, sondern eine aus dem augenblicklichen Bewußtseinsinhalt selbst fließende, in ihm selbst wurzelnde ist; weshalb wir ein solches Urteil nicht als einen blinden Glauben, sondern als eine Einsicht bezeichnen. Selbstverständlich steht es, als psychischer Akt betrachtet, innerhalb des allgemeinen Kausalzusammenhangs, ist es also die Wirkung vorausgehender realer Bedingungen, psychischer oder sonstwelcher. Aber nicht auf diesen Kausalzusammenhang kommt es hier an. Er findet sich bei falschen wie bei wahren Urteilen, bei ungültigen wie bei gültigen Schlußfolgerungen, beim blindesten Glauben wie bei der hellsten Einsicht. Die Eigenschaft, um derentwillen wir von notwendigen Urteilen im logischen Sinn des Wortes sprechen, ist nicht diese psychologische, reale Notwendigkeit. Sie ist eine immanente Eigenschaft des Urteils  in Bezug auf seinen Inhalt,  also des Sachverhalts. Diesem kommt sie zu, nicht dem Urteilsakt. Darum und insofern sind wir auch berechtigt, sie als eine objektive, nämlich vom augenblicklichen individuellen Akt des Urteilens unabhängige, zu bezeichnen.

Von diesem Urbegriff des Notwendigen ausgehend, können wir erst den Begriff des  Naturgesetzes  oder des  Physisch-Notwendigen  bilden, nicht aber läßt sich umgekehrt die logische Notwendigkeit aus irgendeinem realen gesetzlichen Zusammenhang ableiten. Wir können unter Naturgesetz nur eine Notwendigkeit verstehen, die uns in analoger Weise wie die logisch-evidenten Zusammenhänge aus der Sache selbst einleuchten  würde,  wenn uns eine apriorisch-deduktive Naturerkenntnis möglich wäre (15). Tatsächlich erschließen wir diese physischen Notwendigkeiten auf einem Umweg: als Hypothesen, ohne welche die beobachteten Regelmäßigkeiten der Erscheinungen mehr oder weniger unwahrscheinlich wären. Niemand macht sich einer logischen Absurdität schuldig, der irgendein Naturgesetz,selbst das bestbewährte, in Abrede stellt und die sämtlichen darauf hindeutenden Übereinstimmungen der Beobachtungen dem Zufall in die Schuhe schiebt. Er riskiert nur unter Umständen gewaltige Unwahrscheinlichkeiten. Trotzdem ist von einem strengen Begriff der Notwendigkeit auch für das physische Gebiet nicht ein Jota abzugehen. Notwendigkeit und Sicherheit ist eben zweierlei. An den logischen Notwendigkeiten haben wir zugleich sichere, an den physischen aber wahrscheinliche Notwendigkeiten. (16)

Bloße Tatsache  nennen wir nun alles, was weder logisches noch physisches Gesetz ist, wie z. B., daß der Mond einen Durchmesser von 468 geographischen Meilen hat, oder daß hier ein Felsblock am Weg liegt. Es wäre kurzsichtig, mit dem Hinweis auf die allgemeine Notwendigkeit des Naturlaufs, durch die schließlich alles Tatsächliche bedingt ist, den Unterschied beseitigen zu wollen. Denn niemals ist eine Tatsache die bloße Folge von Naturgesetzen, jedesmal gehört noch eine vorausgehende Tatsache dazu. In jedem Moment ist die Stellung der Erde im Weltraum die Folge des Gravitationsgesetzes, aber nicht des Gesetzes allein, sondern in Verbindung mit der vorhergehenden Konstellation des Planetensystems. Wieweit man auch zurückgehen will, niemals wird man natürlich auf bloße Gesetze stoßen, niemals wird es möglich sein, aus einer Verknüpfung bloßer Allgemeinheiten auch nur die geringfügigste konkrete Tatsache abzuleiten. (17) Gesetze haben immer die Form:  Wenn - dann;  Tatsachen sind aber Inhalte assertorischer [behauptender - wp] Urteile. Folglich gibt es in diesem Sinne des Wortes "Kontingentes", und alles individuelle Dasein empirischer Gegenstände zu irgendeiner Zeit ist von dieser Art. Darin sind LEIBNIZ und DESCARTES vollkommen im Recht. Man kann dabei immerhin die Idee im Auge behalten, daß dieses Kontingente auf irgendeiner, vielleicht nur auf weiten Umwegen definierbaren, Notwendigkeit beruhen mag (die also noch umständlicher als das Psychisch-Notwendige aus dem einzigen Urbegriff des Logisch-Notwendigen hergeleitet werden müßte). Für den gegenwärtigen Zweck ist nur die Feststellung erforderlich, daß dieses bloß Tatsächliche jedenfalls vom Notwendigen in der bisher erläuterten Bedeutung, vom Logisch- wie vom Physisch-Notwendigen, unterschieden werden muß, und daß es eben um dieses Unterschiedes willen, in diesem negativen Sinn, hier als bloß Tatsächliches bezeichnet wird.

Ebenso unmöglich wie die Reduktion der Tatsachen auf Gesetze im erwähnten Sinn ist aber auch die der Gesetze auf Tatsachen. Die positivistische Auflösung der Gesetze in bloße Tatsachen involviert viel gröbere Jllusionen als alle, die man der alten Metaphysik vorwirft. Trotz der tiefen Einsichten in die Entwicklungsgeschichte des naturwissenschaftlichen Denkens, die ERNST MACHs Ausführungen über die ökonomische Natur der physikalischen Forschung enthalten, ist seine Behauptung, daß ein Naturgesetz nicht mehr ist als ein umfassender und verdichteter Bericht über Tatsachen (18), logisch ganz undurchführbar. So wenig wie ein Begriff eine Zusammenfassung von Individuen, so wenig ist ein Gesetz eine Zusammenfassung von Tatsachen. Nicht eine einzige Tatsache ist im Gesetz enthalten, geschweige eine Vielheit, da es eben stets nur ein hypothetisches, niemals ein thetisches Urteil ist. Andererseits können noch so viele Tatsachen auch das speziellste Gesetz nicht erschöpfen. Wenn MACH die Formeln der Physik als bloße Abkürzungen anstelle von ausführlicheren Tabellen bezeichnet, (19) so scheint er zu übersehen, daß solche Tabellen, die z. B. zu jedem Fallraum die zugehörige Fallzeit notieren würden, selbst schon Tabellen von Gesetzen, nicht von individuellen Ereignissen wären. Denn jede solche Zusammengehörigkeit wäre schon eine Regel, die sich in beliebig vielen Einzelfällen bewähren würde, so oft ein gleich Fallraum vorliegt. Überdies würde eine solche Tabelle, da sie nur diskret fortschreitende Werte enthält, nicht einmal die unendliche Zahl der im Fallgesetz enthaltenen allgemeinen Möglichkeiten erschöpfen. Folglich ist das Gesetz nicht eine abgekürzte Tabelle. Daß "die imposantesten Sätze der Physik, in ihre Elemente aufgelöst, sich in nichts von den beschreibenden Sätzen des Naturhistorikers unterscheiden", ist nur insofern richtig, als auch die sogenannten beschreibenden Sätze des Naturhistorikers Gesetze aussagen und nicht bloß Tatsächliches. (20) Man wird den Wert ökonomischer Prinzipien für die Wissenschaft, wie sie schon den alten nominalistischen Regel: "Entia non sunt multiplicanda praeter neccesitatem" [Entitäten dürfen nicht über das Notwendige hinaus vermehrt werden. - wp], "Frustra fit per plura, quod fieri potest per pauciora" [Es ist nutzlos, etwas mit mehr zu tun, was mit weniger getan werden kann. - wp] und besonders dem Positivismus COMTEs zugrunde liegen, nicht bestreiten. Aber schließlich gibt es auch eine Sparsamkeit, die zum Bankrott führt, und eine solche ist es, die den Begriff des Gesetzes in seinem strengen Sinn aus der Wissenschaft eliminieren will. Der Unterschied von Gesetzen und bloßen Tatsachen ist für unsere Erkenntnis schlechterdings unaufhebbar. (21)

2. Nun könnte man weiter fragen, ob in jeder wissenschaftlichen Untersuchung und Darstellung sowohl Tatsachen als auch Gesetze untersucht und behauptet werden, oder ob hier eine zumindest relative Trennung möglich ist. Nehmen wir einmal an, eine solche Trennung ist möglich (und sie ist es mindestens in einem gewissen Umfang), so ist das Entscheidende für die Konstituierung besonderer Wissenschaftsgruppen unter diesem Gesichtspunkt doch immer nur die Frage, ob das  Interesse  der Forschung vernünftigerweise einmal bloßen Tatsachen und ein anderes Mal bloßen Gesetzen zugewandt sein kann, und ob demgemäß mit Rücksicht auf diese leitenden Ziele große Wissenschaftsgruppen unterschieden werden können. Hätte das menschliche Gemüt, als Wurzel auch allen intellektuellen Strebens, nie und nirgends ein Interesse daran, Gesetze und Tatsachen auf weite Strecken hin gesondert zuverfolgen, so würde die bloß abstrakte Möglichkeit einer solchen Sonderung für die Klassifikation der Wissenschaft bedeutungslos sein.

Hiermit erhält aber eine Einteilung nach diesem Gesichtspunkt zunächst etwas Subjektives. Nicht bloß wegen der angeborenen Geistesanlage der Einzelnen, sondern auch wegen der bekannten Verschiebung, die Wertschätzungen durch die berufs- und gewohnheitsmäßige Beschäftigung mit einer Sache erleiden. Das ansich Sinn- und Bedeutungsloseste kann so Gegenstand einer absoluten, bedingungslosen Wertschätzung werden. Daß diese Wertschätzung nicht "vernünftig" ist, pflegt der davon Affizierte nicht zuzugeben. Immerhin, durch Selbstbesinnung, durch eine sorgfältige Analyse des eigenen Bewußtseins, durch die sorgfältige Analyse des eigenen Bewußtseins, durch Nachprüfung der erworbenen Wertschätzungen und ihrer allmählichen Entstehung läßt sich mancher bloß gewohnheitsmäßigen individuellen Über- und Unterschätzung entgegenwirken. Und objektiv betrachtet wird man Forschungsziele, die durch Jahrtausende fortbestehen oder immer wiederkehren, die von den unbefangensten, weitblickendsten Geistern um ihrer selbst willen angestrebt werden, nicht als zufällige, durch die bloße Handwerksgewöhnung festgewordene Verkehrtheiten ansehen wollen.

Um die Feststellung des Individuellen als solchen sehen wir nun weitaus am intensivsten die  Geschichtsforschung  bemüht; Geschichtsforschung natürlich nicht bloß im Sinne der politischen Geschichte verstanden, sondern auch der Philologie und aller auf die Kenntnis menschlicher Vergangenheit gerichteten Bestrebungen. Mit wenigen Ausnahmen zielt die Arbeit der Historiker heute noch auf das Individuelle. Ich kann dies nicht für einen unvollkommenen Zustand, sondern mit EDUARD MEYER (22) in der Tat nur für eine wissenschaftlich vollwertige, auf sich selbst gestellte Forschungsrichtung halten, daher ihm auch nur beipflichten, wenn er gegenüber den Tendenzen, auch in der Geschichtsforschung allgemeine Gesetze trotz des geringen bisherigen Ertrags als Hauptsache hinzustellen, zur alten Auffassung zurückgekehrt. In das Tatsächliche, Individuelle muß man dabei nach dem oben Bemerkten auch die Schicksale der Individuengruppen, Stämme, Völker, man muß ferner den tatsächlichen Kausalzusammenhang einschließen.

Bezüglich des letzteren entsteht allerdings die Frage, ob nicht die Erkenntnis eines individuellen Kausalzusammenhangs hier wie bei den Naturvorgängen stets schon mit der Erkenntnis eines Gesetzes zusammenfällt. Bei den Naturvorgängen wird niemals die Abhängigkeit  dieses b  von  diesem a  erkannt, ohne daß zugleich die Abhängigkeit eines  solchen b  von einem  solchen a  erkannt würde, das Gesetz also, daß immer, wenn ein gleicher Bedingungskomplex  a  gegeben ist, eine gleiche Folge  b  eintritt. Ob sich dies nun auf historischem Gebiet ebenso verhält, brauchen wir hier nicht zu untersuchen; denn auch im bejahenden Fall wird doch die  Verteilung des Interesses  verschieden sein. Das Interesse des Geschichtsforschers wird in erster Linie auf den individuellen Zusammenhang als solchen gerichtet bleiben, das des Naturforschers unweigerlich auf den allgemeinen übergehen. Daß ein SOKRATES unter gleichen Umständen notwendig wieder dieselben Reden über Unsterblichkeit halten und in derselben Verfassung den Giftbecher trinken würde, könnte vollkommen wahr sein, aber es könnten doch nur allgemeinere Sätze Interesse gewinnen, die von den individuellen Verschiedenheiten des Falles genügend absehen, um auch auf andere Fälle in historisch absehbarer Zeit anwendbar zu werden, und die dabei gleichwohl präzise genug blieben, um uns nicht bloß dämmernde Ahnungen, sondern wirkliche Erkenntnisse zu gewähren (23). Daß mehr oder weniger vage Gesetzlichkeiten sich auch dem Geschichtsforscher aufdrängen und zu seinen intellektuellen Hochgefühlen beitragen, wird keiner bestreiten. Aber was an "historischen Gesetzen" mit dem Anspruch auf Exaktheit bisher aufgestellt wurde, hat auf Besonnene eher abschreckend gewirkt. Dieses Fehlen beweisbarer und genauer Gesetze braucht nicht an der menschlichen Willensfreiheit zu liegen; es genügt vollkommen die ungeheuere Verwicklung der Kräfte und Bedingungen, um die Sachlage zu verstehen. Für einzelne Gebiete menschlichen Tuns, wie für die Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens oder der Sprachformen, wo die Bedingungen nicht ganz so zahlreich und mannigfaltig sind wie in der politischen Geschichte, lassen sich daher eher Gesetzmäßigkeiten erkennen, die den obigen Anforderungen näherungsweise genügen.

Setzen wir aber einmal den Fall, daß in der Geschichtsforschung mit der Zeit eine breite Liste bewiesener Gesetze entdeckt würde, die sowohl durch Allgemeinheit wie durch Genauigkeit mit den Naturgesetzen wetteiferten und vielfache Anwendungen auf neue Einzelfälle gestatten. Selbst dann würde das selbständige Interesse der Geschiche im alten Sinn nicht verschwinden, nicht einmal geringer werden. Sie würde neben jener Gesetzeswissenschaft als eine unabhängige Forschungseinrichtung von höchstem Eigenwert weiterbestehen. Die Ursache dieser Sonderstellung der Menschengeschichte liegt augenscheinlich darin, daß in ihr und nur in ihr alles, was  unmittelbar wertvoll  erscheint, alle Kämpfe um diese Güter, alles Glücken und Mißglücken in diesen Kämpfen in einer zeitlichen Ausbreitung verwirklicht ist. Denn nirgends als im geistigen Gebiet gibt es für uns unmittelbare, wahrhaft um ihrer selbst willen zu erstrebende Werte; und sie komen nur zur Verwirklichung in der Wirksamkeit des Individuums innerhalb der gleichfalls individuellen historischen Gemeinschaften, in der Geschichte staatlicher Gebilde wie in der geschichtlichen Seite allen geistigen, wissenschaftlichen, religiösen, künstlerischen und wirtschaftlichen Lebens. Überall ist es das Einzelne als solches, an seinem Ort, in seiner Zeit und in seiner individuellen Verknüpfung mit dem unmittelbar Vorangehenden und Folgenden, das, abgesehen von allen Gesetzlichkeiten, zur Erforschung reizt und zwingt. Nur muß das "Einzelne" in dem Sinne verstanden werden, daß auch die Kollektiva darunter fallen. Die Unzähligen, die die Pyramiden aufschichteten, interessieren uns nur als Masse.

Insofern könnte ich auch WINDELBANDs Ausführungen über "nomothetische und idiographische Wissenschaften" (24) nur zustimmen. Wenn er aber diesen Gegensatz auch als den von "naturwissenschaftlichen und historischen Disziplinen" bezeichnet, so würde ich ihm nur mit der Einschränkung folgen, daß Naturwissenschaft die glänzendsten Beispiele empirischer Gesetze, Geschichte das interessanteste Tatsachenmaterial darbietet. Vollends widersprechen schließlich muß ich seinem Vorschlag, diesen Gegensatz dem zwischen Natur- und Geisteswissenschaften als einem mindestens fraglich gewordenen zu  substituieren.  Vielmehr müssen beide Unterscheidungen nebeneinander fortbestehen, wie sie seit DESCARTES nebeneinander bestanden haben. Die treibenden Motive der Substitution, die WINDELBAND angibt, kann ich als zwingende nicht anerkennen. Sie liegen ihm einerseits in den "Stimmungen der neuesten Philosophie" gegenüber der alten sachlichen Scheidung von Natur und Geist, andererseits in der naturwissenschaftlichen Wendung der gegenwärtigen Psychologie. Von der letzten war bereits die Rede. Gegenüber der ersten Erwägung aber halte ich dafür, daß man eine Scheidung, die "in der neueren Metaphysik von DESCARTES und SPINOZA bis zu SCHELLING und HEGEL mit voller Schroffheit aufrechterhalten worden ist", nicht um gewisser, keineswegs allgemein geteilter und früher oft ebenso stark vorhandener, Stimmungen willen preiszugeben braucht. Mag der ersehnte Schlußeffekt unserer philosophischen Bestrebungen auch Monismus sein oder heißen, vorläufig ist für den nüchternen Betrachter noch nichts von einer Identität zwischen den Gesetzen elektrischer Ströme und den Gesetzen der Gedanken- und Willensbildung zu entdecken. Die Einteilung der Wissenschaften soll aber unsere Einsicht in die gegenwärtige Struktur des Wissens zum Ausdruck bringen, nicht Hoffnungen auf eine künftige.

Nicht einmal dies kann man behaupten, daß das Interesse der Geschichtsforschung oder gar der Geisteswissenschaften überhaupt  ausschließlich  auf das Individuell-Tatsächliche, das der Naturforschung ausschließlich auf Gesetze gerichtet ist. Offenbar erstreben viele Geisteswissenschaften, auch abgesehen von der Psychologie, gesetzliche Formulierungen, und manchen von ihnen, wie der Nationalökonomie, ist die Auffindung solcher bereits geglückt, zumindest in der Exaktheit wie etwa der Meteorologie unter den Naturwissenschaften, teilweise sogar mit mathematischer Formulierung. (25) Das Mißtrauen, das man der Geschichte im gewöhnlichen Sinn entgegenbringt, wenn sie nach Gesetzen fahndet, gilt nicht in gleichem Maß für die Geisteswissenschaften schlechthin. Auch jene allgemeine Wertwissenschaft, die WINDELBAND und RICKERT anerkennen (26), was ist sie anderes als eine Wissenschaft von Gesetzen? Gesetzen allerdings von anderer Form wie die Naturgesetze, aber doch insofern ihnen vergleichbar und dem Gesetzesbegriff überhaupt subsumierbar, als allgemeine und notwendige Beziehungen darin ausgesprochen werden, nämlich Beziehungen bestimmter Willensinhalte oder Willensformen zu darauf gerichteten Werturteilen (27).

Umgekehrt läßt es sich doch auch nicht vertreten, daß das Ziel des Naturforschers überall nur im Allgemeinen und in den gesetzlichen Beziehungen liegt. Dies gäbe ein ebenso schiefes Bild der Tendenzen, wie sie im Geist der meisten Naturforscher tatsächlich leben, als die früher erwähnte Behauptung, das Allgemeine habe ihnen ausschließlich Bedeutung als Bindeglied zwischen Individuellem. Man kann ja auch zwei Ziele zugleich verfolgen, beide im Zusammenhang miteinander, ohne daß das eine ausschließlich Mittel zum anderen zu sein braucht. Bezweifeln dürfen wir wohl, ob die Erzählung der Erdgeschichte oder der Vesuvgeschichte, die Beschreibung der räumlichen Verteilung von Gesteinsarten, von Pflanzenspezies, von Fixsternen noch Gegenstand einer vernünftigen Teilnahme sein könnte, wenn gar keine Gesetzmäßigkeiten irgendwelcher Art darin ersichtlich wären, keine genetischen Erklärungen aus allgemeinen Naturkräften darauf gegründet, auch kein Nutzen für das Leben psychischer Individuen dadurch erzielt würde, wenn selbst jede Möglichkeit einer künftigen Verwertung in einer dieser Richtungen ausgeschlossen wäre. Versteht man also das pragmatische Interesse in einer solchen Isolierung, so würde ich allerdings sein Vorhandensein oder mindestens seine Berechtigung in der Naturforschung leugnen. Aber eine derartig absolute Isolierung verträgt  kein  Teil des menschlichen Wissens. Jeder weist zuletzt auf alle anderen hin. Wir können nur von einem relativ selbständigen Interesse an Naturtatsachen sprechen, d. h. von einer sehr konzentrierten, vertieften Beschäftigung mit individuellen Naturobjekten, die zwar bei einer reflektierenden Zergliederung der Motive auf mehr oder minder fernliegende Möglichkeiten von Gesetzen oder von praktischen Anwendungen führen würde, augenblicklich aber nicht vom Bewußtsein solcher Möglichkeiten begleitet ist. So gefaßt, wird sich ein vernünftiges Interesse am Einzelnen als solchem auch auf dem Gebiet der Natur nicht in Abrede stellen lassen (28).

Demgemäß wäre es untunlich, den Unterschied von Natur- und Geisteswissenschaften geradezu durch das Merkmal des auf Gesetze und des auf Tatsachen gerichteten Forschungsinteresses zu definieren. Es finden sich sowohl Tatsachen- als auch Gesetzeswissenschaften auf beiden Gebieten. Sie brauchen nicht verschiedene Name zu tragen; es kann in einer unter einheitlicher Bezeichnung zusammengefaßten Disziplin gleichzeitig oder abwechseln die eine und andere Strömung herrschen. Man wird dann durch entsprechende Epitheta [Zusätze - wp] den jeweiligen Charakter ausdrücken. Bei der Astronomie ist dies längst üblich. In ähnlicher Weise kann es anderwärts geschehen, doch wird man es nicht überall nützlich finden, da eben das Interesse nicht überall so gleichmäßig auf Tatsachen und Gesetze verteilt ist. (29)

3. Gewisse  Unterteilungen  der Tatsachen- und der Gesetzeswissenschaften verdienen noch besondere Beachtung. Will man die Tatsachenwissenschaften nach Merkmalen, die nicht von anderen Einteilungen hergenommen sind, in Gruppen zerlegen, so kann man dazu die Gesichtspunkte des  Raumes  und der  Zeit  benutzen, der Individuationsprinzipien", wenn dieser alte Ausdruck nicht mißverstanden wird:  chronologische  und  chorologische  Einteilung, wie sie A. HETTNER vorschlägt (30). Bezüglich der Gesetzeswissenschaften ergibt sich die Scheidung der Wissenschaften von Gesetzen der Koexistenz und von Gesetzen der Sukzession, wie JOHN STUART MILL sich ausdrückte, oder von  Struktur- und von  Kausalgesetzen,  wie sie richtiger nennen wird.

Hierbei bedarf der Begriff des Strukturgesetzes und seine Selbständigkeit neben dem Kausalgesetz einer kurzen Erläuterung. Wir verstehen darunter gesetzliche Beziehungen zwischen den Teilen eines Ganzen. Diese Beziehungen können sehr verschiedenartig sein, es können auch Abhängigkeitsbeziehungen dazu gehören, die gleichwohl nicht eigentliche Kausalbeziehungen sind: wofür wir namentlich auf psychischem Gebiet Beispiele haben. Bei den Gegenständen, die aus real trennbaren Teilen zusammengesetzt sind, wie den empirischen Körpern, schließt die Struktur sogar auch eigentliche Kausalbeziehungen, Wechselwirkungen zwischen den Teilen in sich ein. Die Struktur eines Organismus läßt sich nicht rein morphologische unter Vermeidung jeglicher Kausalbegriffe beschreiben. Aber die Strukturgesetze im engeren Sinn enthalten solche Begriffe nicht. Sie bilden eine besondere, nicht restlos in Kausalgesetze auflösbare Gruppe von Gesetzen.

Die sogenannten  beschreibenden Naturwissenschaften  sind wesentlich Wissenschaften von Strukturgesetzen. Zunächst von solchen der empirischen Körper, d. h. der aus den Sinneserscheinungen direkt gebildeten Gegenstände. Mineralogie, systematische Botanik und Zoologie handeln wesentlich nicht etwa von individuellen Gegenständen, sondern von der gesetzlichen Koexistenz bestimmter sinnlicher Eigenschaften solcher Gegenstände. Räumliche Eigenschaften, besonders Form und Größe des Ganzen und der Teile, aber auch Farben, Töne und andere Qualitäten, sodann Eigentümlichkeiten der Bewegung, des Wachstums, der Absonderungen, der Formveränderung, kurz des ganzen sinnlich wahrnehmbaren Verhaltens, koexistieren mit genügender Regelmäßigkeit, um zur Charakteristik der Gattungen, Arten, Varietäten der Naturgegenstände verwandt zu werden. Jeder Artbegriff, aber auch jeder Varietätbegriff bedeutet ein solches empirisches Strukturgesetzt. Wenn nun auch diese regelmäßige Koexistenz sinnlicher Eigenschaften, mit anderen Worten: bestimmter Wirkungen auf unsere Sinne, mehr und mehr aus Kausalgesetzen abgeleitet wird (gerade die Ausnahmen haben am meisten dazu getrieben, kausale Erklärungen zu suchen, alle Eigenschaften einer Spezies auf ihre Lebens- und Entwicklungsbedingungen zurückzuführen), so muß man doch nicht glauben, daß Strukturgesetze auf physischem Gebiet überall nur ein Provisorium sind. Vielmehr müssen, wenn wir alle Kausalerklärung vollendet denken, neben den obersten Kausalgesetzen auch oberste Strukturgesetze übrigbleiben, und zwar dann nicht Regelmäßigkeiten mit Ausnahmen, sondern strenge Gesetze. Die letzten Eigenschaften oder Kräfte der Elementarteilchen werden stets eine Mehrheit bilden, und ihre Koexisenz muß in jedem Kausalgesetz schon vorausgesetzt werden. Doch kann diese Betrachtung hier auf sich beruhen.

Daß die beschreibenden Naturwissenschaften ausschließlich gesetzliche Beziehungen zum Gegenstand hätten, läßt sich indessen wieder nicht behaupten. Strukturgesetze bilden nur den Kern. Der Mineraloge, der Botaniker kümmert sich doch auch um die Existenz bestimmter Individuengruppen an bestimmten Orten in bestimmten Zeiten. Auch die relative Anzahl der jeweilig existierenden Individuen ist ihm nicht unwichtig. Ja sogar die Beschreibung besonders merkwürdiger Individuen, typischer oder abnormer oder Übergangsbildungen. Der alte Ausdruck "Naturgeschichte" hebt die Analogie dieser Forschungsrichtung mit der Menschengeschichte hervor. Dies wird man zugeben, gleichwohl das wesentliche Merkmal der beschreibenden Naturforschung nicht darin erblicken dürfen, sondern nur in den Strukturgesetzlichkeiten. Hier gilt eben wieder, daß nur die Aufgaben selbst sich prinzipiell und reinlich sondern lassen, dagegen in der Ausführung die verschiedenen Forschungsrichtungen nach Bedarf verknüpft werden.

Für das geistige Gebiet gilt durchaus Analoges. Den empirischen Gesetzlichkeiten der beschreibenden Naturforschung vergleichen sich hier die sozialen und politischen Strukturgesetze. Darunter verstehen wir notwendige Beziehungen zwischen den Gliedern eines zeitweilig bestehenden Verbandes sowie zwischen den einzelnen, den Verband konstituierenden Einrichtungen, z. B. den Rechtseinrichtungen innerhalb des nämlichen Staatsverbandes. Diese systematische, beschreibende Politik, wie man sie analog zu den systematischen Naturwissenschaften nennen kann, spielt nur darum gegenüber der auf Kausalgesetze abzielenden eine geringere Rolle, weil die Koexistenz der Merkmale, wodurch Art- und Gattungsbegriffe sozialer und politischer Gebilde gegeben werden, infolge der raschen Wandelbarkeit des geistig-gesellschaftlichen Lebens von vornherein eine viel geringere Regelmäßigkeit besitzt. So geht die Erforschung der Strukturgesetze hier rascher in dei der Kausalgesetze über. Natürlich gewinnt auch der Unterschied von Strukturgesetzen im weiteren und engeren Sinn hier noch verstärkte Bedeutung: was man die Struktur einer Staatsverfassung nennt, das umschließt außer den rein morphologischen Verhältnssen der Teile zueinander eine Fülle mannigfacher Abhängigkeitsbeziehungen und Wechselwirkungen der Individuen. Aber wiederum bleiben zuletzt reine Strukturgesetze innerhalb jedes Individuums übrig, so daß auch auf geistigem Gebiet die restlose Auflösung der Struktur- in Kausagesetze undenkbar ist.

Diese elementaren psychischen Strukturgesetze bilden von alters her einen bevorzugten Gegenstand der nur auf Selbstbeobachtung gegründeten Psychologie, da die genaue Beschreibung dieser statischen Verflechtung geistiger Elementarfunktionen zuletzt Grundgesetze liefern muß. Es ist die Aufgabe der beschreibenden Psychologie. (31) Übrigens versteht es sich auch hier, daß die begriffliche Trennung von Beschreibung und Erklärung in der Praxis nicht so rein durchgeführt werden kann. Keine Strukturwissenschaft kann ohne alle kausalen Untersuchungen bestehen und umgekehrt. Besonders wenn man die Aufgabe der Strukturpsychologie auf die Beschreibung der aufeinanderfolgenden Entwicklungsstadien des Seelenlebens erstreckt (analog etwa der Embryologie), so rückt die Frage nach den treibenden Kräften in unmittelbare Nähe, und solche Kräfte können dann natürlich auch nicht bloß innerhalb der seelischen Funktionen selbst gesucht werden, sondern verlangen die Mitberücksichtigung der organischen Prozesse.

Auch ist zu bemerken, daß die psychischen Strukturwissenschaften wie die physischen niemals reine Gesetzeswissenschaften sind, sondern die Darstellung von Tatsachen, hier also von individuellen, existierenden oder dagewesenen, Persönlichkeiten und Verbänden in ihren Bereich ziehen. Beispielsweise wollte des ARISTOTELES große Beschreibung von Staatsverfassungen sicher nicht bloß Erläuterungsfälle für allgemeine Sätze vorführen, sondern zunächst über Einzelnes als solches, wie es nun einmal war, berichten. Aber das Gesetzliche lagt dem Stagiriten gleichwohl im Sinn, und in den Büchern über Politik ist es herausgehoben.

Die von uns als Phänomenologie bezeichnete Wissenschaft führt streng innerhalb ihrer Grenzen nur zu Strukturgesetzen. Die Summe der allgemeinen Beziehungen der Töne zueinander, der Farben zueinander, der gleichzeitig gegebenen Erscheinungen aller Sinne untereinander usw. ist die Struktur des Erscheinungsgebietes. Geht die Phänomenologie zur Erforschung von Kausalgesetzten über, so mündet sie in Physik, Physiologie oder Psychologie (in letztere, sofern Kausalbeziehungen zwischen Erscheinungen und psychischen Funktonen angenommen werden).
LITERATUR: Carl Stumpf, Zur Einteilung der Wissenschaften, Berlin 1907
    Anmerkungen
    1) Vgl. MEINONG, Zeitschrift für Psychologie, Bd. 33, Seite 3: "Von Natur sind die Farben so wenig psychisch wie die Orte oder selbst die Zahlen; und so wenig Geometrie oder Arithmetik deshalb Psychologie ist, weil die Größen, mit denen sie operiert und deren Relationen sie feststellt, zu diesem Ende natürlich vorgestellt werden müssen, so wenig ist es an und für sich bereits Psychologie, wenn man feststellt, daß die Farben eine mindestens dreidimensional ausgedehnte Mannigfaltigkeit ausmachen" usw. Die Subsumtion dieser "Farbengeometrie" und der Mathematik selbst unter den Begriff einer "Gegenstandstheorie" kann ich allerdings nicht glücklich finden. Siehe darüber unter Nr. 3. - - - Was ich "Tonpsychologie" nannte, sollte keineswegs eine Phänomenologie der Töne sein, sondern eine "Beschreibung der psychischen Funktionen, welche durch Töne angeregt werden". Damals übrigens erschien mir die Bildung dieses Ausdrucks bereits als eine gewagte Abbreviatur, nur dadurch zu rechtfertigen, daß die deutsche Sprache derartige Zusammensetzungen gestattet, die erst durch eine Definition ihren bestimmten Sinn erhalten. "Psychologie des sons" könnte man nicht sagen. Eine Psychologie der Töne kann es eben nicht geben, nur eine solche der Tonwahrnehmungen, Tonurteile, Tongefühle. - - - Neuerdings polemisiert ALEXANDER PFÄNDER in seiner "Einführung in die Psychologie", 1904, Seite 42 in drastischer Form gegen die Verwechslung der Psychologie mit dem Studium der bloßen Erscheinungen, die er als "Abfälle der physischen Welt" und in sich selbst als etwas Physisches bezeichnet.
    2) W. NAGELs Handbuch der Physiologie III, 1, Seite 143 und öfter.
    3) STUMPF, Erscheinungen und psychische Funktionen, Seite 28f
    4) Die soeben charakterisierte Untersuchung, das Studium der inneren Struktur der Denkinhalte als solcher, abgesehen von den zufälligen Denkakten, ist es, was HUSSERL als "Reine Logik" bezeichnet.
    5) Da in meiner Abhandlung "Psychologie und Erkenntnistheorie" dieser Unterschied ausdrücklich hervorgehoben und die Begründung der Logik auf Psychologie abgelehnt ist (siehe besonders Seite 494f), so befremdet es mich, in HEINZEs "Grundriß der Geschichte der Philosophie genau die umgekehrte Angabe über die Tendenz dieser Abhandlung zu finden.
    6) FRANZ BRENTANO, Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis, 1889
    7) Vgl. auch HUSSERL selbst, Logische Untersuchungen II, Seite 618 und 634.
    8) HUSSERL nennt die bloße Beschreibung der Akterlebnisse lieber "Phänomenologie der inneren Erfahrung" (I, Seite 212; II, Seite 4 und öfter), auch wohl  Phänomenologie  schlechthin, um desto sicherer der Verwechslung mit der genetischen Psychologie, deren Einfluß er an sich selbst im Hinblick auf logische Probleme als verderblich empfunden, vorzubeugen. Den Ausdruck  Phänomenologie  gebrauche ich hier in einem anderen Sinn und möchte "deskriptive Psychologie" für die bloße Beschreibung der Akterlebnisse auch darum für zweckmäßiger halten, weil doch in der Tat der Gegenstand für die deskriptive und die genetische Psychologie gemeinschaftlich ist, nämlich die elementaren psychischen Funktionen, und weil diese Gemeinsamkeit durch die Wahl eines gänzlich verschiedenen Ausdrucks verdunkelt wird.
    9) Die ich als besondere Fälle von Inbegriffen fasse, siehe "Erscheinungen und psychische Funktionen", Seite 28f
    10) Über das Positive wie das Negative in dieser Sache denke ich nicht anders als RICKERT. Vgl. besonders dessen Vortrag "Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft".
    11) ALEXIUS MEINONG, Untersuchungen zur Gegenstandstheorie und Psychologie, 1904. Darin von MEINONG selbst: "Über Gegenstandstheorie". Die im Folgenden zitierten Paragraphenzahlen beziehen sich auf diese Abhandlung. Weitere Ausführungen MEINONGs zur Gegenstandstheorie: Über die Erfahrungsgrundlagen unseres Wissens, 1906, Seite 13f. Über die Stellung der Gegenstandstheorie im System der Wissenschaften, Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 129, Seite 48f.
    12) So namentlich VERWORN in seiner "Allgemeinen Physiologie" sowie in dem Vortrag "Naturwissenschaft und Weltanschauung", 1904. - - - Nach MACH besteht übrigens das Psychische gleicherweise wie das Physische aus an sich indifferenten "Elementen"; man kann daher nicht sagen, daß ihm alles psychisch ist. Hierin hat ihn auch KLEINPETER, "Die Erkenntnistheorie der Naturforschung der Gegenwart", 1905, Seite 18f, mißverstanden, obgleich er nicht wie VERWORN die Folgerung zieht, daß alle Wissenschaft Psychologie ist. Da MACH den Ausführungen der beiden ihm folgenden Autoren uneingeschränkten Beifall spendet, scheint er diese ihre wesentliche Abweichung nicht bemerkt zu haben. Aus MACHs Grundanschauungen ergibt sich allerdings auch, daß zwischen Mineralogie und Psychologie ein materieller Unterschied der Gegenstände nicht besteht, da sowohl Naturgegenstände wie Seelentätigkeiten für ihn nur Komplexe von Erscheinungen sind, und zwar von den nämlichen Erscheinungen, Farben, Gestalten, Gerüchen usw. Aber für ihn ergibt sich nicht, daß alles psychisch ist, und noch weniger, daß alle Wissenschaft auf Psychologie hinausläuft.
    13) Ich verweise hier auf den vorzüglichen Abschnitt "Über die ideale Einheit der Spezies und die neueren Abstraktionstheorien" in HUSSERLs "Logischen Untersuchungen II", Seite 106f.
    14) Den Begriff der Folgerungsaxiome habe ich in dieser Weise seit 1883 in Vorlesungen über Logik entwickelt. Den Gedanken, daß die Schlußregel nicht selbst als Prämisse gelten darf, findet man aber bereits bei BOLZANO in derselben Weise begründet (Wissenschaftslehre II Seite 344, § 199). - - - Wenn man überhaupt von synthetischen Grundsätzen a priori sprechen will, so würde ich die Bezeichnung für diese Folgerungsaxiome in Anspruch nehmen, während die von KANT angeführten Sätze teils nicht synthetisch teils nicht apriorisch teils nicht einmal wahr sind.
    15) vgl. CARL STUMPF, Psychologie und Erkenntnistheorie, Seite 494f. Ich muß hier und im folgenden einiges aus dieser Abhandlung rekapitulieren.
    16) Über das leitende Prinzip, welches also zugleich das Prinzip der Induktion ist, siehe die Untersuchung "Über den Begriff der mathematischen Wahrscheinlichkeit", Sitzungsberichte der Münchener Akademie, Philosophisch-philologische Klasse 1892, Seite 95f.
    17) "Psychologie und Erkenntnistheorie", Seite 496. Denselben Gedanken führt WINDELBAND "Geschichte und Naturwissenschaft" (1904), Seite 24f, aus.
    18) ERNST MACH, Populärwissenschaftliche Vorlesungen 1896, Seite 215f. (Der Akademievortrag "Über die ökonomische Natur der physikalischen Forschung" datiert von 1882). Ähnlich in allen seinen späteren Schriften.
    19) Als Erleichterungen für das Gedächtnis hat übrigens bereits HELMHOLTZ (in seiner Rede über das Verhältnis der Naturwissenschaften zur Gesamtheit der Wissenschaft 1862) die Allgemeinbegriff und Gesetze hingestellt und sich sogar desselben Beispiels (Brechungsgesetz bedient. Aber das Wesen des Gesetzes geht ihm doch nicht in dieser Funktion auf.
    20) Siehe unter Nr. 3 dieses Abschnitts (Strukturgesetze). - - - BOLTZMANN hat bereits auf das wunderliche Zusammentreffen hingewiesen, daß gerade, während die Beschreibenden Naturwissenschaften sich als Gesetzeswissenschaften proklamierten, die Mechanik, der Typus einer Gesetzeswissenschaft, als bloß beschreibende Disziplin erklärt wurde. KIRCHHOFFs berühmtes Diktum in dieser Hinsicht wird sicherlich als Stimulans seinen Nutzen und seine relative Berechtigung gehabt haben; aber als richtig kann es nicht anerkannt werden, solange man am Begriff der Beschreibung als der Angabe individueller Tatsachen festhält. Anders liegt die Sache, wenn Beschreibung als Darlegung von Strukturgesetzen verstanden wird; in welchem Fall ja auch die Mathematik eine beschreibende Wissenschaft ist: Dann fragt es sich nur noch, ob Mechanik ganz in Mathematik verwandelt werden kann; was uns an dieser Stelle nichts angeht.
    21) Aus allgemeineren methodischen Gesichtspunkten hat HUSSERL, Logische Untersuchungen I, Seite 192f, das Richtige und das Verkehrte der MACH'schen Ökonomielehre besprochen.
    22) EDUARD MEYER, Zur Theorie und Methodik der Geschichte, 1902
    23) Der Schrift POINCARÉs "Wissenschaft und Hypothese" entnehme ich ein Diktum CARLYLEs, das sehr drastisch den Gegensatz bezeichnet. "Der Historiker spricht: nur die Tatsache hat Bedeutung.  Johann ohne Land  ist hier vorbeigegangen - das ist bemerkenswert, das ist eine tatsächliche Wahrheit, für die ich alle Theorien der Welt hergeben würde. Der Physiker dagegen:  Johann ohne Land  ist hier vorbeigegangen - das ist mir gleichgültig, da er nicht wieder vorbeikommt."
    24) WINDELBAND; "Geschichte und Naturwissenschaft", Straßburger Rektoratsrede 1894.
    25) Vgl. hierüber namentlich die akademische Antrittsrede FRANZ EULENBURGs, "Geselschaft und Natur", 1905, Seite 16f (mit besonderer Beziehung auf RICKERTs Theorien). - - - Über die bisherigen Anwendungen der Mathematik auf die Nationalökonomie siehe die ausführliche Zusammenstellung von PARETO in der "Enzyklopädie der mathematischen Wissenschaften I", Seite 1094f
    26) Sie ist ihnen identisch mit der Philosophie der Zukunft (nach Ausschluß der Psychologie). Selbst die Prinzipien der Erkenntnistheorie sollen, da Wahrheit in erster Linie zu den Werten gehört, in der allgemeinen Werttheorie befaßt sein. Da nun eine solche Wissenschaft offenbar keine idiographische ist, muß sie nomothetisch sein, oder es muß noch ein Drittes statuiert werden. Der letzte Weg scheint mir aber nicht gangbar.
    27) FICHTE, dessen Ideen in der Philosophie der beiden genannten Forscher nachwirken, stellte die Sittengesetze sogar in eine vollkommene Parallele mit den Naturgesetzen. "Unsere Sittenlehre befiehlt nicht: ebenso wie alle Philosophie hält auch sie sich innerhalb der Gesetzmäßigkeit und Notwendigkeit und beschreibt bloß, was da folgt und was nicht folgt." (Über das Wesen des Gelehrten, 5. Vorlesung)
    28) Ein von WILLIAM JAMES neuerdings lebhaft befürwortete und als  Pragmatismus  bezeichnete philosophische Richtung will nur solches, das irgendeinen Wert für das Handeln ersehen läßt, als würdigen Gegenstand der Forschung gelten lassen; womit also, da alle Praxis auf das Einzelne geht, das Interesse am Individuellen in aller Wissenschaft alleinbeherrschend werden müßte. Eine noch weitergehende Richtung, die sich eigentümlicherweise  Humanismus  nennt und von dem Engländer F. C. S. SCHILLER geführt, von JAMEs aber gleichfalls hochgestellt wird, erblickt in der Nützlichkeit für das Handeln sogar das Kriterium und die Definition der Wahrheit. Wir haben auch in Deutschland verwandte Strömungen. Die pragmatische Fassung ließe sich wohl akzeptieren, wenn man nur den Begriff des Handelns weit genug nimmt  (prattein,  nicht bloß  noiein),  und wenn man nicht sehr indirekte, entfernte Beziehungen des Wissens zum Handeln noch gelten läßt; wodurch dann freilich der Satz viel von seiner Prägnanz einbüßt. AUGUSTE COMTE hielt es noch für unnütz, die Bestandteile der Sonne zu erforschen, weil damit nichts für das Wohl der Gesellschaft gewonnen wird. Wir denken darüber doch jetzt anders. Was aber die "humanistische", richtiger utilitaristische Wahrheitsdefinition betrifft, so scheint sie mir als solche schlechterdings unanehmbar. Für die Entwicklungsgeschichte des Wahrheitsbewußtseins mag der zugrunde liegende Gedanke allenfalls eine gewisse Bedeutung haben, aber nicht für seine Definition. Man würde sich damit nur immerfort im Kreis drehen.
    29) Im Obigen ist auf die eingehenden Untersuchungen RICKERTs ("Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung", 1906; "Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft", 1899; "Gegenstand der Erkenntnis", 1904) nur insofern Bezug genommen, als sie sich mit WINDELBANDs Grundgedanken berühren. Ich weiß wohl, daß RICKERT den Geisteswissenschaften eine ganz andere Art von Begriffsbildung zuschreibt als den Naturwissenschaften und darin das unterscheidende Merkmal findet. Aber selbst wenn ich zugeben wollte, daß Wertbegriffe für die Untersuchung und Darstellung des geistigen Lebens im Mittelpunkt stehen, ja zu seiner Definition dienen können, so würde ich darin doch nicht einen Unterschied in der Begriffsbildung sehen, sondern nur einen Unterschied im Inhalt der Begriffe, also einen gegenständlichen Unterschied. Außerdem scheint es mir auf einen Wortstreit hinauszulaufen, wenn RICKERT den Naturwissenschaften nur gesetzliche Beziehungen zuweist, das Interesse am Tatsächlichen aber, das sich auch dort findet, ein historisches nennt. Es ist ein historisches, wenn man alle auf zeitlich bestimmte Individuen gerichtete Forschung historisch nennt, es ist aber nicht ein historisches, wenn der Gegenstand der Geschichte unmittelbar wertvoll sein soll. Doch möchte ich auf eine nähere Diskussion wegen der Gefahr von Mißverständnissen meinerseits hier verzichten und verweise auf die sorgfältige Analyse von MAX FRISCHEISEN-KÖHLER im "Archiv für systematische Philosophie", Bd. 12, Seite 225f, 450f und Bd. 13, Seite 1f.
    30) A. HETTNER, "Wesen und Methode der Geographie", Geographische Zeitschrift, Bd. 11, 1905. Siehe auch "Preußische Jahrbücher", Bd. 122, Seite 269f.
    31) Eine solche verlangt DILTHEY als Grundlage der Geisteswissenschaften (Einleitung in die Geisteswissenschaften I, 1883, Seite 41). FRANZ BRENTANO, der in seinen Wiener Vorlesungen mehrfach die Psychologie mit dieser Beschränktung durchführte, nannte sie auch "Psychognosie". In unseren Sitzungsberichten hat DILTHEY 1894 (Seite 1309f) ihre Aufgaben erläutert. Unter einem psychischen "Strukturzusammenhang" versteht auch er Struktur gesetze  zwischen den Teilen oder Seiten des psychischen Ganzen (Seite 1346). Nur den Begriff eines "teleologischen Lebenszusammenhangs" oder "Zweckzusammenhangs" möchte ich von dem des Strukturgesetzes im allgemeinen getrennt halten. Diesen wende ich in gleicher Bedeutung auch auf die materielle Welt an, selbst auf die unorganische, ja auf die einem einzelnen Atom innewohnenden, es konstituierenden Kräfte, Affinitäten usw., bei denen ein Zweck- oder Wertzusammenhang nicht ersichtlich ist und jedenfalls nur auf sehr indirektem Weg konstruiert werden könnte. Mit Rücksicht darauf wäre der Ausdruck "Substanzgesetze" passender als "Strukturgesetze"; doch würde er ohne sprachliche Gewaltsamkeit nur eine weniger allgemeine Verwendung gestatten.