ra-1cr-2Schleiermachervon HartmannR. HaymTrendelenburgK. Popper     
 
BENEDETTO CROCE
Lebendiges und Totes
in Hegels Philosophie

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"Hegel gibt sehr gut den Entwicklungsgang an, welchen die Phantasiegespenster der Abstraktion nehmen. Es sind Dualitäten von Bestimmungen, die aus den empirischen Wissenschaften entstehen, aus dem wahrnehmenden und gesetzgebenden Bewußtsein, aus den Wissenschaften des Phänomens; diese sind, wenn sie die Anstrengung machen, sich zum Universalen emporzuschwingen, gezwungen die Wirklichkeit in Schein und Wesen zu spalten."

"Kraft seiner logischen Lehre, die aus dem Denken der Gegensätze das eigentliche Verständnis der Wirklichkeit als Entwicklung herleitet, kann  Hegel  den negativen Ausdruck nicht als etwas betrachten, das dem anderen gegenüber und abgesondert dasteht. Wenn der negative Ausdruck nicht wäre, dann gäbe es keine Entwicklung; die Realität und mit ihr der positive Ausdruck würde hinfällig werden. Das Negative ist die Triebfeder der Entwicklung. Die Gegensätzlichkeit ist die Seele des Realen. Das Fehlen jeglicher Berührung mit dem Irrtum ist kein Gedanke und keine Wahrheit, sondern ist die Abwesenheit jeglichen Gedankens und somit jeglicher Wahrheit."

"Dem Sprichwort nach, gibt es für den Kammerdiener keinen großen Menschen; und zwar wie  Hegel  bemerkt, geschieht es nicht, weil der  große Mensch  kein großer Mensch wäre, sondern weil der Kammerdiener eben Kammerdiener ist. Deshalb genießen auch die großen Männer gewöhnlich keine Ehre und Dankbarkeit von ihren Zeitgenossen, auch wird ihnen diese Genugtuung nicht in der öffentlichen Meinung der Nachwelt zuteil. Ihnen kommen nicht die Ehren, sondern der  unsterbliche Ruhm  zu, indem sie im Geist derjenigen weiterleben, von denen sie gerade bekämpft werden."


II. Erläuterungen zur Geschichte
der Dialektik

Es hat einigen Geschichtsschreibern der Philosophie scheinen wollen, daß das Problem der Gegensätze das ganze philosophische Problem ist; daher hat man mitunter die Geschichte der verschiedenen versuchten Lösungen für die gesamte Geschichte der Philosophie genommen, und man hat diese vorgeführt, um jene vorzuführen. Aber die Dialektik, geschweige denn die ganze Philosophie zu sein, ist nicht einmal die ganze Logik, wenngleich sie einen äußerst wichtigen Teil und gewissermaßen deren Krone bildet. Der Grund der Verwechslung wird einem vielleicht schon aus dem oben Gesagten klar werden: er ist in der innigen Verknüpfung zu finden, die zwischen dem logischen Problem der Gegensätze und den großen Auseinandersetzungen der Monisten und der Dualisten, der Materialisten und der Spiritualisten besteht. Sie bilden den Hauptbestandteil der Abhandlungen über Philosophie und Geschichte der Philosophie, wenngleich sie nicht die erste und fundamentale Aufgabe der Philosophie darstellen, die besser durch das "erkenne dich selbst" ausgedrückt wird. Aber dieser trügerische Schein wird verschwinden, wenn man sich klar wird, daß es etwas anderes ist, logisch zu denken, und logisch die Theorie der Logik aufzustellen; etwas andere, dialektisch zu denken und das logische Bewußtsein des dialektischen Denkens zu haben. Wenn dem nicht so wäre, wäre die HEGELsche Lösung schon längst bei den vielen Philosophen vorgefunden worden, welche die Wirklichkeit tatsächlich dialektisch gedacht haben, oder doch zumindest jedesmal, wenn sie solche in dieser Art gedacht haben. Ohne Zweifel ruft jedes philosophische Problem alle anderen wach, in jedem einzigen kann man alle anderen eingeschlossen sehen, und in allen wahren oder falschen Lösungen der einen auf die wahren und falschen Lösungen aller anderen stoßen. Wenn es aber unmöglich ist, die Geschichte der einzelnen philosophischen Probleme vollständig voneinander zu isolieren, so ist es doch wahr, daß diese Probleme voneinander zu trennen sind; und man darf es deshalb nicht die verschiedenen Glieder des Organismus wirr durcheinander würfeln, wenn man nicht jeden Schimmer vom Organismus selbst verlustig gehen lassen will. -

Das muß man sich gegenwärtig halten, um die Nachforschung über die geschichtliche Entwicklung der dialektischen Lehre von den Gegensätzen genau abzugrenzen, und infolgedessen die Originalität des HEGELschen Gedankens und das ihm eigene Verdienst. Diese Forschung ist innerhalb der hier festgesetzten Grenzen vielleicht noch nicht in der Art ausgeführt worden, wie dies geschehen sollte, auch aus dem Grund, weil das nötige Interesse und leitende Kriterium gefehlt hat, um ihre Geschichte zu verfassen; denn die Überzeugung von der Wichtigkeit und Wahrheit dieser Doktrin ist noch nicht in das allgemeine Bewußtsein derer eingedrungen, die philosophische Studien pflegen. Das Beste, was in diesem Punkt gesammelt worden ist, findet sich eben in HEGELs eigenen Büchern, speziell in seiner  Geschichte der Philosophie (7), und es ist angebracht, hier rasch die verstreuten Stücke zusammenzufassen und, wo es nötig ist, einige Zufügungen und Erklärungen zu geben.

Ist HEGEL der Erste gewesen, welcher das logische Prinzip der Dialektik und der Entwicklung formuliert hat? Oder hatte er Vorgänger, und welche? In welchen Formen und annähernden Einkleidungen befand sich dieses Prinzip, ehe es in HEGEL seine vollkommene Ausbildung fand?

Die dialektische Lehre ist das Werk reifen Denkens, das Resultat eines langen philosophischen Brütens. Im griechischen Altertum findet man eine erste Aufdeckung der Schwierigkeiten, die durch die Anerkennung der Gegensätze entstehen, nämlich in der Widerlegung der Realität der Bewegung durch ZENO von Elea. Die Bewegung ist die Haupttatsache der Entwicklung, in derjenigen Form, in welcher sie sich der Überlegung am leichtesten darbietet. Und nachdem ZENO die Schwierigkeiten scharf hervorgehoben hat, löst er den Widerspruch, indem er die Realität der Bewegung verneint (Beweise für den Widerspruch zwischen Raum und Zeit: der ruhende Pfeil, Achilles und die Schildkröte, usw.): die Bewegung ist eine Täuschung der Sinne; das Sein, das Reale, ist Eines und unbeweglich. Im Gegensatz zu ZENO macht HERAKLIT aus der Bewegung, aus dem Werden, die wahre Realität. Seine Aussprüche: "Das Sein und das Nichtsein sind das gleiche", "Alles ist, und ist auch nicht", "alles fließt"; ferner seine Vergleichung der Dinge mit einem Fluß, - der Gegensatz, der in seinem Gegensatz ist, wie das Süße und das Bittere im Honig sind, - wie auch der Vergleich des Bogens und der Leier. Seine kosmologischen Anschauungen über Krieg und Frieden, über Zwietracht und Harmonie, zeigen deutlich, wie tief HERAKLIT die Wirklichkeit als Widerspruch und Entwicklung empfand. HEGEL sagte, daß es keine heraklitische Behauptung gibt, die er nicht in seiner eigenen Logik verkörpert hat. Man muß jedoch darauf aufmerksam machen, daß er - beim Einverleiben in seine Lehre - diesen Behauptungen eine viel bestimmtere logische Bedeutung gab, als sie ursprünglich hatten. In der Fassung, in der sie uns überliefert sind, muß man sie zweifelsohne als offenes und klares Ahnen der Wahrheit bewundern, jedoch nicht zu sehr darauf bestehen, um nicht die Gefahr einer geschichtlichen Fälschung zu laufen, indem man einen Vorsokratiker zu einem Nachkantianer stempelt. Dasselbe ist zu beachten hinsichtlich der platonischen Dialektik im  Parmenides, Sophistes  und  Philebus,  Dialoge, deren Auffassung und geschichtliche Einreihung sehr strittig sind, und die HEGEL als diejenigen betrachtete, welche das Wesentliche der platonischen Philosophie enthielten: es ist der Versuch, von dem noch abstrakten Allgemeinen zum konkreten Allgemeinen überzugehen, die spekulative Form des Begriffs als Einheit in der Verschiedenheit zu fassen. Die daselbst aufgeworfenen Fragen über die Einheit und Vielheit, die Identität und die Nichtidentität, die Ruhe und die Bewegung, das Entstehen und das Sterben, das Sein und das Nichtsein, das Endliche und das Unendliche, das Begrenzte und Unbegrenzte, - ferner das Resultat des PARMENIDES, daß das Eine ist und zugleich nicht ist, sein Selbst und ein Anderes ist, und daß alle Dinge gegenüber sich und den anderen sind und nicht sind, erscheinen und nicht erscheinen, - all dies zeigt ein sich Abquälen in Schwierigkeiten, liefert aber ein Resultat von nur negativer Beschaffenheit, und auf jeden Fall findet sich, wie HEGEL erwähnt, bei PLATO die Dialektik vor, aber noch nicht das völlige Bewußtsein vom Wesen der Dialektik. Es ist eine spekulative Behandlung, die den Beweisen der Sophisten und den späteren bildlichen Ausdrücken der Skeptiker beträchtlich an Wert überlegen ist; jedoch erreicht sie nicht die Höhe einer logischen Behandlung. - Was ARISTOTELES anbelangt, so steht sein logisches Bewußtsein im Widerstreit mit seinem spekulativen Bewußtsein: seine Logik ist rein intellektualistisch; seine Metaphysik hingegen forscht nach den Kategorien.

Nicht mehr als eine bloße Forderung, oder besser gesagt, das Bewußtsein der Unfähigkeit und den Hinweis auf die große Lücke findet man in den Lehren des Juden PHILO und der Gnostiker. Für sie gilt die wahre Realität, das absolute Sein, als dem Gedanken unerreichbar, wie der unaussprechbare Gott, der unerforschliche, der Abgrund, wo alles verneint wird; und dasselbe gilt für PLOTIN, bei welchem alle Prädikate durchaus inadäquat sind, da jedes von ihnen eine Begrenzung ausdrückt. PROKLOS entwickelt die Idee der Dreifaltigkeit oder Triade, die schon von PLATO angedeutet worden war; und eben diese Idee, und die Auffassung des Absoluten als Geist, dies ist der große philosophische Fortschritt, der im Christentum eingeschlossen ist.

CUSANUS trat zu Anfang der modernen Zeit das Erbe der neoplatonischen und mystischen Überlieferungen an und wurde derjenige Denker, der am energischsten das Bedürfnis des Geistes ausdrückte, aus den Dualismen und den Widersprüchen herauszukommen und sich zu jener Einfachheit aufzuschwingen, wo die Gegensätze ineinanderfallen. Und CUSANUS wurde sich als Erster bewußt, daß dieses Ineinanderfallen der Gegensätze sich im Widerstreit mit der rein abstrakten Logik des Aristoteles befindet, welcher die Gegensätzlichkeit als völligen Unterschied (8) auffaßte und nicht zugab, daß in dem Einen Gegensätze sein könnten, und welcher jedem Ding den Mangel seines Gegenteils zugestand. Hiergegen machte CUSANUS geltend, daß die Einheit noch vor der Dualität ist, die EInheit der Gegensätze vor der Trennung. Jedoch ist für ihne die Verbindung der Gegensätze (als bloße Einheit gedacht) für den Menschen unerreichbar, sei es durch Sinn, Vernunft oder Intellekt, welches die drei Formen des menschlichen Geistes sind: es bleibt einfach eine Schranke; und von Gott, der eine Vereinigung aller Gegensätze ist, wird es nicht möglich, eine andere Kenntnis zu bekommen, als höchstens ein unverständliches Verständnis, eine gelehrte Unwissenheit (9) (docta ignorantia).

Es scheint, daß dieser Gedanke durch GIORDANO BRUNO, der sich für einen Schüler des "göttlichen Cusanus" ausgibt, eine mehr positive Bedeutung annimmt. Auch er feiert die Einheit der Gegensätze als das oberste Prinzip einer vergessenen und wiederzubelebenden Philosophie, und er gibt eine lebendige Beschreibung vom Sichvereinigen der Gegensätze: des größten Kreises und der geraden Linie, des spitzen Winkels und des stumpfen Winkels, der Wärme und der Kälte, dem Verbrechen und der Erzeugung, der Liebe und des Hasses, des Giftes und des Gegengiftes, des Kreisförmigen und des Geraden, des Gewölbten (konvexen) und des Gehöhlten (konkaven), des Jähzorns und der Geduld, der Demut und des Hochmutes, des Geizes und der Freigiebigkeit. Und es klingt wie ein Nachhall der Worte des CUSANUS, wenn er schreibt:
    "Wer die bedeutendsten Geheimnisse der Natur wissen will, betrachte und beschaue die kleinsten und größten der Gegenteile und Gegensätze. Eine tiefe Zauberkunst ist es, das Gegeneil herausziehen zu können, nachdem man den Punkt der Einheit gefunden hat. Darauf zielte mit seinen Gedanken der arme ARISTOTELES, indem er die Ausschließung (privatio), mit der eine gewisse Bedingung (conditio) verbunden ist, als Stammmutter, als Erzeugerin und Mutter der Form aufstellte: aber er konnte es nicht erreichen. Er hat nicht dahin kommen können, weil er bei der Art (genus) der Oppositio stehen blieb und sich derart verwickelte, daß er nicht zur Gattung (species) der Gegensätzlichkeit herunterstieg und auch nicht das Ziel erreichte, ja es nicht einmal ins Auge faßte; von diesem irrte er soweit ab, daß er sagen konnte, die Gegensätze treffen nicht tatsächlich am selben Subjekt zusammen."
In seiner naturalistischen Anschauung wird das Prinzip der Einheit der Gegensätze zu einer Art ästhetischen Prinzips der Betrachtung:
    "Wir erfreuen uns an der Farbe, aber nicht an einer einfachen, was es auch immer für eine ist, sondern an einer, die alle Farben in sich faßt; wir erfreuen uns an einer Stimme, nicht an einer einzelnen, sondern an einer umfassenden, die aus der Harmonie von vielen gebildet wird; wir erfreuen uns an einem Sinnlichen, aber hauptsächlich an dem, was alle Empfindungen in sich schließt; an einem Erkennbaren, das alles andere Erkennbare umfaßt; an einem Verständnis, das alles umschlingt, was man begreifen kann; an einem Wesen, welches alles vervollständigt, und hauptsächlich an dem Einen, welcher das Ganze selbst ist." (10)
Es ist nicht mehr eine Schranke, sondern schon mehr ein Vermögen des menschlichen Geistes; dennoch ist es noch kein ausgesprochen logisches Vermögen. Es fehlt seine Rechtfertigung durch eine Lehre vom Begriff.

Auch beim  philosophus teutonicus,  bei JAKOB BÖHME, wird die Einheit der Gegensätze mit Nachdruck behauptet; nach HEGEL stellt er die Antithesen auf, aber an dieser Schroffheit läßt er sich nicht aufhalten, sondern stellt dann die Einheit her. Für ihn ist das Ja undenkbar ohne das Nein; das Eine, Gott, is ansich unerkennbar: damit er zu erkennen sei, ist es nötig, daß er sich unterscheide, daß sich der Vater im Sohn verdoppelt. BÖHME sieht die Dreiheit in allen Dingen und vertieft noch die Bedeutung der christlichen Dreifaltigkeit. Aber es gelingt ihm nicht, seine Gedanken in die eigentliche Form des Gedankens zu kleiden.

Auch die Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts, die sich unter dem Einfluß der mathematischen Naturwissenschaft entwickelte, war nicht einmal imstande, sich das Problem in dieser begrifflichen Form vorzunehmen. Für CARTESIUS vereinigen sich Gedanke und Ausdehnung in Gott, auf eine unbegreifbare Art; für SPINOZA in der Substanz: der Modus, welcher der dritte Terminus nach der Substanz und dem Attribut ist, stellt keine dialektische Synthese dar; LEIBNIZ leidet am Problem des Übels Schiffbruch und gelangt ein wenig zu philosophischem Optimismus. Die populäre Philosophie des 18. Jahrhunderts löst alle Antithesen in Gott auf, der so ein Sammelbegriff von Widersprüchen und das Problem der Probleme wird. - Nur bei einigen Einsamen findet man Andeutungen und Keime der dialektischen Lösung. So beim  philosophus italicus,  bei GIAMBATTISTA VICO, der nicht nur das Leben und die Geschichte wirklich dialektisch denkt, sondern der auch von einer Abneigung gegen die aristotelische Logik erfüllt ist, sowie gegen die kartesianische Mathematik und Physik. Und einerseits begründet er eine Philosophie der Phantasie (logica poetica) sowie der Geschichte (logica dell' autoritá), andererseits verleiht er der induktiven Logik der Beobachtung und des Experiments größere Wichtigkeit, gleichsam ein Vorzeichen einer mehr konkreten Logik. Ein anderer Einsamer, der in vieler Hinsicht als mit VICO verwandt bezeichnet werden kann - JOHANN GEORG HAMANN - (ein Mensch, sagte JACOBI, der in sich in hohem Grad alle Extreme vereinigte), zeigte sich schon seit seiner Jugend von den Prinzipien der Identität und der Vernunft unbefriedigt und hingegen angezogen von der  Coincidentia oppositurum.  Es war ein Prinzip, das HAMANN in  De triplici, minimo et mensura  von BRUNO angetroffen hatte und, es ging ihm "jahrelang im Kopf herum, ohne es weder vergessen noch verstehen zu können". Dennoch schien es ihm "der einzige zureichende Grund aller Widersprüche und der wahre Prozeß ihrer Auflösung und Schlichtung, um aller Fehde der gesunden Vernunft und reinen Unvernunft ein Ende zu machen". (11) Von HAMANN ging die Kenntnis dieses Prinzips auf JACOBI über, der die daraufbezüglichen Stellen aus BRUNOs Werken weiterverbreitete; aber JACOBI machte es sich mit seiner Theorie des unmittelbaren Wissens (während auch er die große Lücke andeutete) unmöglich, sie mit logischen Gedanken anzufüllen.

Um zu der wirklich logischen Stellung des Problems der Gegensätze zu gelangen, und um der mystischen und agnostischen Lösung zu entgehen (die eigentlich gar keine Lösung war), bedurfte es des Eintretens der kantischen Revolution; und dieser KANT (dessen  Kritik der reinen Vernunft  in ihrem ganzen Umfang dem HAMANN bedeutend weniger wert schient als der bloße Ausspruch BRUNOs über das  principium coincidentiae oppositorum  [Prinzip des Zusammenfalls der Gegensätze - wp]) wurde hingegen, und ebenwegen dieser  "Kritik",  der wirkliche Stammvater der neuen Vereinigung der Gegensätze, der neuen Dialektik bzw. der logischen Lehre von der Dialektik. Zwar steht auch KANT sowie seine Vorgänger (von CARTESIUS an bis zu LEIBNIZ und HUME) unter dem Einfluß des Intellektualismus und des Ideals der mathematischen Naturwissenschaften: daher sein Agnostizismus, das Phantom des Dings-ansich, die Abstraktheit des kategorischen Imperativs, die Ergebenheit gegen die überlieferte Logik. Aber zur selben Zeit behält er und gestaltet viel wirksamer den Unterschied zwischen Intellekt und Vernunft; verkündet in seiner  "Kritik der Urteilskraft eine Art, die Wirklichkeit zu denken, welche nicht mehr jene rein mechanische noch auch die äußere Zweckmäßigkeit des 18. Jahrhunderts ist, sondern die  innere  Zweckmäßigkeit; er ahnt jenseits des abstrakten Begriffs die Idee. Und was noch mehr ist, KANT gibt in seinen Antinomien dem Problem der Gegensätze einen neuen Stützpunkt zum Einsetzen; seine Antinomien scheinen wohl unlösbar; jedoch der Art, daß sich der menschliche Geist notgedrungen in dieselben hineinarbeiten und -versetzen muß. Und was noch wichtiger ist, ja sogar sein Ruhm und Erfolg ist, er entdeckt die Synthesis  a priori,  und was ist diese anderes, wie HEGEL bemerkt, als "eine ursprüngliche Synthese der Gegensätze?" Dieser Synthese gibt er nicht ihren ganzen Wert, sie entwickelt sich nicht in der dialektischen Dreiheit; aber, einmal in die Welt gesetzt, konnte sie nicht verfehlen, den ganzen Reichtum zu entfalten, den sie in sich schloß. Die Synthesis a priori erzeugt neben der alten Logik die transzendentale Logik: anfangs der andern nur parallel, mußte sie dieselbe schließlich zersetzen. Auch ist bei KANT die Form der Dreiheit stark hervorgehoben, wenngleich überall in äußerlicher Form verwendet, aber doch durchweg in äußerlicher Form verwendet, aber doch durchweg und fast mit der Vorahnung ihrer nächsten und besseren Bestimmung. Uns erscheint es nunmehr klar, welches nach KANT die Aufgabe der Philosophie sein mußte: die Synthesis a priori zu entwickeln, die neue philosophische Logik zu schaffen, das Problem der Gegensätze zu lösen und dabei die Dualismen auszumerzen, die KANT unberührt gelassen, ja sogar verstärkt hatte. Bei FICHTE findet sich dann wenig mehr als bei KANT, aber alles wird bereits einfacher, durchsichtiger. Das Ding-ansich ist verneint, wenngleich andererseits das FICHTEsche Ich noch einen subjektiven Sinn bewahrt und keine wahre Einheit von Subjekt und Objekt ist. So gelingt FICHTE auch nicht, die Natur dem Geist gegenüber zu rechtfertigen, und er endet wie KANT in moralischer Abstraktheit und im Glauben. Die Idee einer neuen Logik wird immer klarer, indem die Philosophie als  "Wissenschaftslehre begriffen wird. Die Form der Dreiheit wird nun grundlegend und stellt sich als These, Antithese und Synthese dar. Noch einen Schritt vorwärts hat SCHELLING getan, der zu der Überzeugung kommt, daß man nur mit dem Prinzip der Identität der Gegensätze philosophieren kann; und das Absolute tritt bei ihm als Identität der Gegensätze auf. Nur ist für ihn das Absolute die Indifferenz von Subjekt und Objekt, mit rein quantitativen Unterschieden; es ist noch nicht Subjekt und Geist. Und seine Erkenntnistheorie enthält keine Logik, weil für ihn die ästhetische Betrachtung das Organ der Philosophie ist. Dies ist der Mangel, den zu beseitigen SCHELLING nie gelang, und die Folgen wurden derart schwerwiegend, daß daraus das entstand, was man seine zweite Art, die Metaphysik des Irrationalen, genannt hat.

Wie bekannt ist, trat HEGEL in der philosophischen Welt später als sein jüngerer Zeitgenosse SCHELLING auf, dessen Schüler man ihn nennen kann. Aber das, was für SCHELLING der Endpunkt war, war für HEGEL nur eine Übergangsstation; was für SCHELLING die Endphase war, aus der seine Entartung entsprang, war für HEGEL eine Anfangsphase. Auch er kannte eine Zeitlang kein anderes Organ der Philosophie als die ästhetische Betrachtung, die Intuition als intellektuelle Intuition, auch er kannte kein anderes philosophisches Systems als das Kunstwerk; auch er setzte im ersten Abriß, den man von seinem System besitzt, nicht die Philosophie, sondern die Religion als Brennpunkt der geistigen Entwicklung. Jedoch der tiefe Geist HEGELs führte diesen weiter vorwärts, bis er allmählich erkannte, daß die Philosophie keine andere Form haben kann als die des Begriffs, mit dem besonderen Unterschied, den er gegenüber der Phantasie und der Intuition hat. Sicher, nicht mehr der antike logisch-naturalistische Begriff: Nach einem KANT, FICHTE, SCHELLING war dies nicht mehr möglich: Der Intellektualismus des 17. und 18. Jahrhunderts war tödlich getroffen. Es mußte eine logische Form sein, welche die neuen Errungenschaften der Philosophie lebendig erhalten und vermehren konnte: eine logische Form, die die Form des Realen in seiner Unversehrtheit wäre. Alles trieb HEGEL auf diesem Weg und dieser Forschung vorwärts: seine Bewunderung für die Harmonie der griechischen Welt; seine Teilnahme an der romantischen Bewegung, so reich an Antithesen; seine theologischen Studien, in welchen die christliche Idee der Dreiheit (entkräftet, entblößt und verarmt beim protestantischen Rationalismus ihre Zufluchtsstätte und ihre wahre Bedeutung in der neuen Philosophie gefunden hatte; seine spekulativen Studien über die Synthese und die kantischen Antinomien. Und mit der  Phänomenologie des Geistes (1807) vollzog er seine Loslösung von den philosophischen Richtungen, an die er sich bis dahin immer gehalten hatte; und er brachte sein Prinzip der Lösung des Problems der Gegensätze ans Tageslicht: - kein einfaches Zusammenfallen in ein Drittes, Unbekanntes oder Undenkbares mehr; keine unbewegliche Einheit, keine SCHELLINGsche Intution mehr, sondern Einheit und Verschiedenheit zugleich, Bewegung und Dialektik. Das Vorwort zur "Phänomenologie" ist folgenderweise bezeichnet worden: "Der Abschied  Hegels  an die Romantik", aber die Wahrheit ist, daß die Romantik nur durch diese Loslösung der Philosophie erhalten blieb. Nur ein Romantiker, der die Romantik in gewissem Sinne überwunden hatte, konnte die philosophische Frucht von dieser Romantik pflücken (12).

Die Logik der Dialektik ist mithin eine originale Entdeckung von HEGEL, nicht nur im Hinblick auf seine entfernteren Vorgänger, sondern auch auf die nächsten. Wenn man dafür einen Beweis will, so betrachte man, wie sich HEGEL gegen diese letzteren verhält. KANT, der den FICHTE wieder verneinte, hätte auch viel ausdrücklicher HEGEL verneint. KANTs Philosophie enthielt nicht die notwendigen Bedingungen, um HEGEL zu verstehen, und mithin, um ihn zu kritisieren. Aber HEGEL, der in bestimmter Weise die Tendenzen und die falschen Ansichten der kantischen Philosophie bekämpfte, sowie das ganze Altzeug, welches diese hinter sich herschleifte, - war auch derjenige, der all das ins Licht stellte, was sie wahrhaft Neues und Lebenskräftiges darbot: so konnte man sogar sagen, daß kein anderer KANT verstanden hat, als nur HEGEL (13). SCHELLING blieb immer taub und hartnäckig gegen die Auffassung seines Exfreundes; und durch ein halbes Jahrhundert, das er noch lebte, setzte er ihm hartnäckig die seinige, veraltete und verschlechterte entgegen; und mitunter (wie in dem berühmten Vorwort zu den  "Fragments"  des COUSIN) stieß er die Philosophie HEGELs heftig zurück und beklagte sich dabei, daß er bestohlen wurde: ohne es jedoch klar beweisen zu können, welches der vom anderen begangene Diebstahl ist, noch auch, welches der Fehler war. HEGEL hingegen fuhr fort, SCHELLING als den "Vater der neuen Philosophie" zu verehren; er erkannte den Funken Dialektik, der schon in SCHELLING glimmte; er zeigte immer klar seine Vor- und Nachteile. Wenn ein höherer Gesichtspunkt sich erst als solcher ausweist, indem er alle unter ihm stehenden in sich einschließt; und wenn der Beweis der Wahrheit einer Lehre in der Rechtfertigung enthalten ist, die sie imstande ist zu liefern und die von anderen entdeckten Wahrheiten zu beweisen, sowie deren Fehler zu erklären, - so fehlte ein derartiger Nachweis der Lehre HEGELs nicht. KANT verstand sich selbst nicht vollkommen und ist in die Hände der Neokritiker gefallen, die von seiner transzendentalen Logik wieder zur rein naturwissenschaftlichen Logik übergegangen sind; SCHELLING verstand sich selbst nicht vollkommen und endete wenig rühmlich im "zweiten" SCHELLING. Aber für HEGEL endeten beide in seinem eigenen großen Geist, der ihr geistiger Abkömmling war; ein würdigeres Ende, als den Schülern nur zum Exerzitium zu dienen oder sich selbst zu überleben, in der eigenen Verkennung.


III. Die Dialektik als das Verständnis
der Wirklichkeit

Dialektisch denken und die logische Theorie von der Dialektik denken, sind also zwei verschiedene geistige Akte. Aber es ist andererseits augenscheinlich, daß die zweite Art zu denken die erstere verstärkt, indem sie ihr das Bewußtsein ihrer selbst gibt und ihr die Hindernisse aus dem Weg schafft, die aus den falschen Ideen über das Wesen der philosophischen Wahrheit entstehen. Dies eben gerade geschah bei HEGEL, der nicht nur der große Theoretiker dieser Form des Denkens war, sondern der größte dialektische Denker überhaupt, der je in der Geschichte dagewesen ist. Der gewöhnliche Begriff der Realität, den er nun dialektisch bearbeitete, ändert sich in vielen Punkten ab und bekommt ein ganz neues Gesicht. Alle Dualismen, alle Spaltungen, alle  hiatus [Spalt - wp] uns sozusagen alle Schrammen und Verwundungen (da die Wirklichkeit durch das Werk des abstrakten Intellekts zerfetzt dasteht) füllen sich, schließen sich, vernarben: die ganze Wirklichkeit wird Einheit, eine  gediegene Einheit;  der Zusammenhang des Organismus wird wiederhergestellt und in ihm kreisen wieder Blut und Leben.

Und man muß bemerken, daß vor allem eine Art Dualismen verschwindet, die wirklich weder Gegensätze noch Unterschiede sind: es sind falsche Gegensätze und falsche Unterschiede, Termini, die nicht gedacht werden können, weder als konstitutive Elemente des Begriffs im allgemeinen, noch als seine besonderen Formen, aus dem einfachen Grund, weil sie so, wie sie geformt sind, nicht existieren. Und wenn HEGEL sie hie und da kritisiert und ihren Abstand von den andern erwähnt, gibt er sehr gut den Entwicklungsgang an, welchen die Phantasiegespenster der Abstraktion nehmen. Es sind Dualitäten von Bestimmungen, die aus den empirischen Wissenschaften entstehen, aus dem wahrnehmenden und gesetzgebenden Bewußtsein, aus den Wissenschaften des Phänomens; diese sind (eben weil sie sich um die Phänomene drehen), wenn sie die Anstrengung machen, sich zum Universalen emporzuschwingen, gezwungen die Wirklichkeit in  Schein  und  Wesen  zu spalten, in  Äußeres  und  Inneres, Attribute  und  Substanz, Äußerung  und  Kraft, Endliches  und  Unendliches, Vielheit  und  Einheit, sinnlich Wahrnehmbares  und  Übersinnliches, Materie  und  Geist  und ähnliche Ausdrücke. Wenn diese Ausdrücke wirkliche Unterschiede wären (oder dann, wenn sie wirkliche Verschiedenheiten bedeuteten), würden sie dem Problem der Verknüpfung der Unterschiede im konkreten Begriff stattgeben. Wenn sie wahre Gegensätze, wirklich einander entgegengesetzt wären (oder wenn sie wahre und wirkliche Gegensätze bezeichnen) (14), würden sie das Problem der Synthese der Gegensätze aufrollen. Da sie dies aber nicht sind, sondern den Anschein von Unterschieden und Gegensätzen nur annehmen aus der willkürlichen Abstraktion der Empiristen, Naturwissenschaftler und Mathematiker, so wird ihre Kritik, ausgeführt von einer negativen Dialektik, nach einem ganz anderen Prinzip gehandhabt, als das ist, welches die positive Dialektik beherrscht.

Sie sind in der Tat undenkbar; und jeder Versuch, die Dualität zu lösen - indem man sich an den einen oder anderen der beiden Ausdrücke hält, so wie sie in der Unterscheidung sind, - wandelt sich in sein eigenes Gegenteil um. Der Materialismus bewahrt das Phänomen, die Materie, das Endliche, das sinnliche Wahrnehmbare, das Äußere usw.; da dieser Ausdruck aber seinem Wesen nach so beschaffen ist, daß er den andern hervorruft, so ersteht eben deshalb das Unendliche aus diesem Endlichen und nimmt die Form eines quantitativen Endlosen an, eines Endlichen, aus dem noch ein Endliches entspringt und noch eins und noch ein weiteres, und so endlos fort; und dies benennt HEGEL dann: "die falsche oder  schlechte Unendlichkeit".  Der Supranaturalismus [Lehre vom Übernatürlichen - wp] bewahrt als alleinige Realität das zweite; aber das Wesen ohne den Schein, das Innerliche ohne das Äußerliche, das Unendliche ohne das Endliche werden zu etwas Unergründlichem, Unerkenntlichem. Und da taucht nun das  Ding ansich auf, was man besser ausdrücken würde: die  Leerheit in sich",  das große Geheimnis, und es ist nichts leichter, als dies zu wissen, sagt HEGEL. Denn das Ding ansich, statt außerhalb des Gedankens zu liegen, ist ein Erzeugnis des Gedankens selbst, - jenes Gedankens, der sich bis zur reinen Abstraktion vorgeschoben hat und der die leere Identität mit sich Selbst zu seinem Ziel macht. Das Ding-ansich läßt infolge seiner Nichtigkeit als einzig Reales und Wißbares nur das Phänomen, das Endliche, das Äußere bestehen: und wirklich, soweit es Phänomen ist, bleibt es endlich und äußerlich.

Die positive Berichtigung wird durch den konkreten Begriff gegeben, durch jenes Kennzeichen, das wirklich dem hegelschen Begriff eigentümlich ist und ihn von den naturwissenschaftlichen und mathematischen Abstraktionen unterscheidet. Das Reale ist weder der eine noch der andere dieser Momente noch auch ihre Summe; es ist der konkrete Begriff, der das Leere des Dings ansich wieder ausfüllt und den Abstand beseitigt, der das Ding vom Phänomen trennte. Es ist das Absolute, welches kein Parallelismus der Attribute oder deren Indifferenz mehr ist; sondern es ist damit dem einen der Ausdrücke Relief und neue Bedeutung gegeben, welcher nun durch diese neue Bedeutung den andern in sich aufnimmt und verschmilzt. So wird die Substanz zum Subjekt, das Absolute wird näher bestimmt als Geist und Idee; und der Materialismus ist überwunden. So ist auch die Wirklichkeit kein Innerliches mehr gegenüber dem Äußerlichen. Die Natur (laut dem Wort GOETHEs, das HEGEL annimmt und sich zu eigen macht) hat nicht mehr Kern und Schale, sondern ist aus einem Guß; das Eine liegt nicht mehr jenseits des Vielen, sondern ist das Viele selbst; der Geist liegt nicht mehr jenseits des Körpers, sondern ist der Körper selbst. Und auch der Supranaturalismus ist überwunden (15).

An diese Auflösung der falschen Unterschiede und Gegensätze (die alle in der Dualität von  Wesen  und  Erscheinung  zusammengefaßt und dargestellt werden können) schließt sich die rein dialektische Behandlungsweise der wahren Gegensätze an (es handelt sich um die positive Dialektik), die man alle darstellen und zusammenfassen kann in der Dualität und Antithese des  Seins  und  Nichtseins.  Dies ist der auf die wirkliche Opposition aufgebaute Dualismus, da es Niemandem in den Sinn kommen kann, die Wirklichkeit des Schlechten, des Falschen, des Häßlichen, des Unvernünftigen, des Todes und die Antithese aller diser Ausdrücke als:  gut, wahr, schön, vernünftig, lebendig  zu verneinen.

HEGEL verneint sie auch nicht. Aber kraft seiner logischen Lehre, die aus dem Denken der Gegensätze das eigentliche Verständnis der Wirklichkeit als Entwicklung herleitet, kann er den negativen Ausdruck (die Seite des Nichtseins) nicht als etwas betrachten, das dem anderen gegenüber und abgesondert dasteht. Wenn der negative Ausdruck nicht wäre, dann gäbe es keine Entwicklung; die Realität und mit ihr der positive Ausdruck würde hinfällig werden. Das Negative ist die Triebfeder der Entwicklung. Die Gegensätzlichkeit ist die Seele des Realen. Das Fehlen jeglicher Berührung mit dem Irrtum ist kein Gedanke und keine Wahrheit sondern ist die Abwesenheit jeglichen Gedankens und somit jeglicher Wahrheit. Die Unschuld ist kein Tun, sondern ein Nichttun. Wer es tut, der fehlt eben; wer es tut, der wird mit dem Schlechten handgemein. Das wahre Glück, das menschliche oder besser das männliche Glück ist nicht das glückliche Nichtkennen jeglichen Schmerzes, jene Beglückung, in der man sich nur der Albernheit und dem Blödsinn nähert. Für ein derart beschaffenes Beglücktsein finden sich in der Geschichte der Welt keine Vorbedingungen, die (wie HEGEL sagt) da, wo der Kampf fehlt, "uns nur weiße Seiten zeigt".

Wenn dies wahr ist (was mit der gewöhnlichen und tiefen menschlichen Überzeugung übereinstimmt, die sich in einer Menge Aphorismen ausdrückt, welche manchmal hegelsche Worte zu sein scheinen), kann man die Beziehung vom Idealen zum Realen, vom Rationalen zum Realen nicht verstehen, so wie diese Worte in der Philosophie der Schulen gebraucht werden; d. h. den Kontrast zwischen einem Rationalen, das nicht wirklich ist, und einem Wirklichen, das nicht rational ist.  "Was wirklich ist, das ist vernünftig, und was vernünftig ist, das ist wirklich." (16) Die Idee und die Tatsache sind dasselbe. Was nennen wir z. B. vernünftig im Bereich des wissenschaftlichen Denkens? Den Gedanken selbst: ein irrationaler Gedanke ist kein Gedanke, hat als Gedanke keine Realität. Was nennen wir vernünftig im Bereich der künstlerischen Schöpfungen? Das Kunstwerk selbst: ein künstlerisches Werk, das häßlich ist, ist kein künstlerisches Werk; es ist nicht im geringsen eine künstlerische Wirklichkeit, die nebenbei das Merkmal des Häßlichen hätte, sondern sie ist eine künstlerische Unwirklichkeit. Was man irrational nennt, ist also unwirklich; und es kann nicht als Art oder Klasse realer Gegenstände bezeichnet werden. Ohne Zweifel hat auch das Irreale seine Realität, jedoch nur die Realität der Irrealtitä: die Realität des Nicht-Seins in der dialektischen Dreiheit, die Realität des Nichts, welches nicht das Wirkliche ist, sondern der Anreiz zum Wirklichen, die Triebfeder der Entwicklung.

Wer sich auf die dargestellte Lehre stützend, die das Rationale und das Reale einander gleichstellt, von Optimismus in der hegelschen Auffassung der Wirklichkeit und des Lebens spricht, hat ihn vollkommen falsch verstanden. HEGEL beseitigt weder das Schlechte, noch das Häßliche, noch das Falsche, noch das Eitle:  nichts würde seiner dramatischen und gewissermaßen tragischen Auffassung von der Wirklichkeit mehr entgegen sein.  Wohl aber will er die Funktion des Schlechten und des Irrtums begreifen; und das Verstehen dieser Funktion heißt also keineswegs, das Schlechte und den Irrtum als solche verneinen, sondern im Gegenteil, sie als solche bestätigen. Er schließt nicht die Augen vor dem traurigen Schauspiel oder verfälscht dasselbe mittels kindischer teleologischer Entschuldigungen (mit äußerlicher Zweckmäßigkeit), wie man dies im 18. Jahrhundert zu tun pflegte (wie des z. B. BERNARDIN de SAINT-PIERRE tat). Richtig ist ja im Grunde bei der Erwähnung des angeblichen Optimismus HEGELs, daß man ihn auch keinen Pessimisten nennen kann; denn der Pessimismus ist die Verneinung des positiven Moments in der Zweiheit der Gegensätze; wie der Optimismus die Verneinung jenes negativen ist. Und hat es denn schließlich je konsequente Optimisten oder Pessimisten gegeben, oder kann es je solche geben? Nicht mehr, als es Konsequente unter den Monisten und Dualisten gab. Jeder Optimist hat immer eine pessimistische Seite, so wie jeder Pessimist auch Maßregeln zur Befreiung vom Schlechten und vom Irrtum vorschlägt und mithin seine optimistische Seite hat. Gut und schlecht sind gegensätzliche und in einer Wechselbeziehung stehende Ausdrücke; und die Bestätigung des einen verneint nicht den andern. HEGEL, der sie beide verneint, indem er sie beide in der dialektischen Synthese erhält, steht wirklich über dem Pessimismus und dem Optimismus, hoch darüber, auf jenem philosophischen Olymp, in dem man weder weint noch lacht, weil das Lachen und das Weinen vor dem Geist zu Erscheinungen geworden sind, und weil ihre Bewegtheit von der Abgeklärtheit des Gedankens überwunden wurde.

Die Tat, die Wirklichkeit, ist immer rational und ideal, ist immer Wahrheit, ist immer Weisheit und moralische Güte. Aber wohlverstanden, nur die Tat, die wirklich Tat ist, die Realität, die wahrhaft Realität ist. Was unlogisch, albern, häßlich, gemein, launisch ist, das ist nicht Tat, sondern ist Abwesenheit jeglicher Tat, ist das Leere, ist das Nichtsein, ist höchstens das Verlangen nach dem wahren Sein, der Antrieb zur Realität, nicht aber die Realität selbst. HEGEL hat es sich nie träumen lassen, das als Tat anzunehmen und zu rechtfertigen, was Ungereimtheit und Schiefheit ist; soll dies vielleicht eine Rechtfertigung sein, wenn er sie so betrachtet, wie er es tut, nämlich als Irrealität und Leere? Laut einem alten Ausspruch schreckt die Natur vor der Leere zurück; wer aber sicherlich vor der Leere zurückschreckt, das ist der Mensch, weil Leere die Abgestorbenheit seiner Tatkraft, das heißt seines Menschseins ist.

Aber wenn sich auch die Rechtfertigung des Schlechten nicht in der Philosophie HEGELs findet, sondern nur die seiner  Funktion,  so ist es doch wahr, daß HEGEL ganz ausdrücklich vor der Leichtigkeit und Oberflächlichkeit warnt, mit welcher man als irrational das zu verwechseln pflegt, was tatsächlich gewesen ist und noch ist, und das eben wegen dieser Wirksamkeit nicht irrational sein kann. HEGEL ist ein großer Gegner der Lebensunzufriedenen, der empfindlichen Agitatoren im Namen der Vernunft und der Tugend und (an geschichtliche Individualität und Beispiel anknüpfend) des  Faustismus (faustismo), der die Theorie grau und den Baum des Lebens grün heißt, der sich gegen die Gesetze der Gebräuche und der Existenz auflehnt, die Wahrheit und Wissenschaft verachtet und, statt vom himmlischen Geist besessen zu sein, im Irdischen herumquirlt. - Ferner ist er ein Feind des  enzyklopädistischen Humanitarismus  und des  Jakobinismus,  welcher das eigene vorzügliche Herz der harten Wirklichkeit gegenüberstellt und überall Tyrannei und Veruntreuung der Herrscher und Geistlichen sieht. Ebenso tritt er gegen die  kantische Abstraktion  auf, gegen eine Pflicht, die außerhalb der menschlichen Gefühle liegt. Er haßt diese Tugend, die immer mit dem Lauf der Welt im Kampf liegt, die Steine erzeugt, damit man sich die Zehen daran stößt, die eigentlich nie recht weiß, was sie will, und die wohl einen großen Kopf hat, aber von leerer Aufgeblasenheit; und wenn sie sich mit etwas wirklich ernsthaft beschäftigt, so ist es, um sich selbst in ihrer wahrhaft unerreichbaren und ergreifenden Vollkommenheit zu bewundern. Er haßt das  "Sollen",  die Machtlosigkeit des Ideals, das immer sein soll und nicht ist, und das nie eine ihm angemessene Realität finden kann, während doch jede Realität dem Ideal adäquat ist. Das Schicksal dieses Sollens ist, langweilig zu werden, wie all die schönsten Worte langweilig werden -  Gerechtigkeit, Tugend, Pflicht, Moralität, Freiheit  usw. -, wenn sie bloße Worte bleiben, lärmschlagend und unfruchtbar, wo ein anderes schafft und nicht fürchtet, die Reinheit der Idee zu beflecken, indem er sie in die Tat überführt. Im Kampf zwischen diesem "Sollen", dieser eitlen Tugend, und dem Weltenlauf gewinnt der letztere stets. Denn entweder der Weltenlauf verändert sich nicht und die Forderungen der Tugend stellen sich als willkürlich und absurd heraus, was heißen will, nicht wirklich tugendhaft: höchstens verbleiben sie gute Absichten, ausgezeichnete Absichten, aber die Lorbeeren der guten Absichten sind dürres Laub, das nie gegrünt hat! Oder das Ende der Tugend wird zur Verwirklichung, nimmt teil am Weltlauf; und was in diesem Fall abstirbt, ist nicht der Weltlauf, sondern die Tugend, die von der Tat entfernte Tugend; vorausgesetzt, daß sie nicht zu leben fortfahren will, um mit ihrem Ideal zu schmollen, das sich schuldig gemacht hat, zum Realen geworden zu sein! Der Kampf gebiert die Jllusion, während der Kampf selbst völlig real ist; zwar nicht als Kampf des Individuums mit der Welt, wohl aber als Kampf der Welt mit sich selbst, der Welt, die sich selbst erzeugt.
    "Jeder will und meint besser zu sein, als diese seine Welt. Wer besser ist, drückt nur diese seine Welt besser aus als Andere." (17)
Was ist schließlich das besprochene Widerstreben, das die Träger des Ideals gegen die Tatsache, und die Bewunderer des Universalen gegen die Individualität empfinden? Die Individualität ist nichts anderes als das Fahrzeug (Vehikel) der Universalität, seine Tatsächlichkeit. Nichts kann man verwirklichen, wenn es nicht zu einer Leidenschaft des Menschen wird. Und die Leidenschaft ist die Tatkraft des Menschen, die sich nach besonderen Interessen und Endzwecken richtet. Das besondere Interesse ist so sehr das Mittel des Universalen, daß die Menschen beim Verfolgen ihrer Endziele das Universale verwirklichen: z. B. macht sich ein Mensch einen anderen zum Sklaven, und aus dem Kampf zwischen Sklave und Herr entsteht in dem einen wie in dem anden die wahre Idee von Freiheit und Humanität. Sie überschreiten mit ihrem Tun ihre bewußten Absichten und folgen den immanenten Absichten, jenen nämlich der Vernunft, die sich ihrer bedient; und das ist die  List  der  Vernunft.  Dies darf man jedoch nicht in einem transzendenten Sinn auffassen: die List der Vernunft ist der bildliche Ausdruck, welcher die Rationalität all dessen bezeichnet, was der Mensch wirklich tut (irgendwelche menschliche Werke), er habe nun das daraufbezügliche Bewußtsein oder nicht. So schafft der Künstler das Kunstwerk, und gibt sich keine Rechenschaft über die vollendete Arbeit; und deswegen ist seine Arbeit alsdann keineswegs irrational, sondern sie gehorcht der höchsten Rationalität des Genius. So glaubt die gute und aufrichtig heroische Seele, einfach dem Antrieb des eigenen individuellen Gefühls zu folgen; sie hat nicht das Bewußtsein ihrer Handlung, wie es der Beobachter und der Historiker hat, und ist deshalb keineswegs weniger gut und heroisch. Die großen Menschen folgen ihrer individuellen Leidenschaft, ihrem besonderen Interesse, welches der Wille ihrer Vernunft selbst ist, das was in den Bedürfnissen ihrer Zeit und ihres Volkes Substanzielles ist: es sind die "Geschäftsführer" des Weltgeistes. Und deshalb gelingt es dem oberflächlichen Beurteiler, nur schlimme Absichten in ihnen zu entdecken. Sie halten sich an die individuelle, wenngleich notwendige Seite ihres Werkes, nach dem Sprichwort, daß es für den Kammerdiener keinen großen Menschen gibt; und zwar wie HEGEL bemerkt (und GOETHE gefiel sich in der Wiederholung dieses scharfsinnigen Ausdrucks), geschieht es nicht, weil der "große Mensch" kein großer Mensch wäre, sondern weil der Kammerdiener eben Kammerdiener ist. Deshalb genießen auch die großen Männer gewöhnlich keine Ehre und Dankbarkeit von ihren Zeitgenossen, auch wird ihnen diese Genugtuung nicht in der öffentlichen Meinung der Nachwelt zuteil. Ihnen kommen nicht die Ehren, sondern der  unsterbliche Ruhm  zu, indem sie im Geist derjenigen weiterleben, von denen sie gerade bekämpft werden.

Die hegelsche Art, das Leben zu betrachten, ist, in die Ausdrucksweise der zeitgenössischen Politik übersetzt, konservativer Geist genannt worden; und man hat deshalb gesagt, daß, wie ROUSSEAU der Philosoph der französischen Revolution war, so HEGEL derjenige der spezifisch preußischen Restauration, der Philosoph des Geheimen Staatsrates und der herrschenden Bürokratie des Staates war. Aber ohne in die Untersuchung über die mehr oder weniger tatsächliche Wahrheit dieser Behauptungen einzutreten, ist es besser zu bemerken, daß man nicht verwechseln darf: den HEGEL als geschichtliches Individuum, der in gewissen gegebenen Bedingungen nach Maßgabe der sozialen und politischen Probleme seiner Zeit und seines Volkes handelt (der HEGEL, der dem Biographen und politischen Historiker zugehört); - mit dem Philosophen HEGEL, über den nur der Geschichtsschreiber der Philosophie zuständig ist. Das, was ein historisch begründetes politisches Verhalten erkennen läßt, zeigt gerade dadurch, daß es keine rein philosophische Wahrheit ist. HEGEL selbst bemerkt, daß man die Philosophie nicht mit Dingen vermischen darf, die sie nichts angehen; und deshalb konnte es sich PLATO sehr gut ersparen, den Ammen Ratschläge zu erteilen, wie sie die Säuglinge auf den Armen halten müssen; und FICHTE das Modell des Polizeipasses zu konstruieren, der laut seiner Ansicht auch mit dem Bild des Trägers versehen werden muß, nicht nur mit der Personalbeschreibung! Das Verständnis des Lebens war in HEGEL ein derart philosophisches, daß darin, je nach dem Fall, die Erhaltung, der Umsturz und die Wiederherstellung ihre Rechtfertigung finden. Über diesen Punkt sind sich der Sozialist ENGELS und der konservative Historiker TREITSCHKE (18) vollkommen einig, die beide anerkennen, daß die Formel der Identität des Rationalen mit dem Realen mitunter von allen Meinungen und politischen Parteien angerufen werden konnte, die sich dann unter sich zwar nicht durch die gemeinsame Formel unterscheiden, aber durch die nähere Bestimmung, welches das rationale Wirkliche und welches das irrationale und unreale sein soll. Jedesmal. wenn eine politische Partei sich für den Kampf gegen eine gegebene Einrichtung und soziale Klasse vorbereitete, nannte sie dieselbe irrational und damit nicht versehen mit einer festen und realen Existenz; und so handelte sie in Übereinstimmung mit der hegelschen Philosophie! An den Revolutionen des 19. Jahrhunderts und speziell der von 1848 nahmen in einem ausgedehnten Maß alle Abteilungen der hegelschen Schule teil; und es schrieben sogar in diesem Jahr zwei Hegelianer das feurige  "Manifest der Kommunisten".  Aber die allen gemeinsame Formel war keine leere Etikette; sie bedeutete, daß der Jakobinismus und Simplizismus des Jahrhunderts der Aufklärung nun zu Ende war, und daß alle aus allen Parteien von HEGEL gelernt hatten, worin der wahre politische Sinn besteht. Und HEGEL selbst hat von Jugend an die Bedingungen Deutschlands geprüft, es einen  Gedankenstaat  genannt und manchem seiner Kritiker den Florentiner Staatssekretär und dessen tiefe Analysis der wirklichen Lage Italiens aus der Zeit der Renaissance (19) ins Gedächtnis zurückgerufen. Und als gewissermaßen glänzende Beispiele der hegelschen Theorie sah man die CAVOUR und BISMARCK erscheinen: Männer, in denen das Rationale und das Reale immer verflochten und zusammengeschweißt war, nicht einander entfremdet in eigener schmerzlicher und fruchtloser Zwietracht wie in den Köpfen der Ideologen und der Träumer.

Die Folge dieser Vermittlung der Gegensätze (verbunden mit der Vernichtung der falschen Unterschiede und Gegensätze) war die höhere Bewertung der Geschichte. Die Geschichte, das Leben des Menschengeschlechts, die Taten, die im Laufe der Zeit geschehen, hören auf als etwas vom Wesen der Dinge, von der Idee Getrenntes und ihnen Fremdes betrachtet zu werden, oder was noch schlimmer ist, als eine Verminderung oder Trübung der Idee. Derart war die Geschichte in den vielfachen dualistischen Systemen hingestellt worden; gar nicht zu reden vom Materialismus, der mit der Ableugnung jeglichen Wertes nicht einmal den der Geschichte anerkennen kann. Und zwischen Historikern und Philosophen war eine tiefe Zwietracht entstanden, ein gegenseitiges Sich-Nichtkennen. Es ist nicht notwendig, die ältesten Formen dieser Zwietracht zu erwähnen, wie die hochgradig antihistorische Philosophie des CARTESIUS; dahin gehören auch der Spinozismus oder der orientalische Pantheismus, wie ihn HEGEL nannte und hinzufügte, daß er irrtümlich wohl auch als Atheismus angesehen würde, während man ihn besser  Akosmismus  nennen müßte - und der gesamte Sensualismus und der Intellektualismus des 18. Jahrhunderts. Ja unter den eigenen Zeitgenossen HEGELs hat die Geschichte kein Plätzchen in HERBARTs System (dem die Idee der Entwicklung überhaupt vollkommen fehlt), noch in dem SCHOPENHAUERs, für welchen das Leben des Menschengeschlechts keine Fortschrittsprobleme aufzuweisen hat, sowenig, wie dann in den positivistischen Systemen eines COMTE und SPENCER.

In HEGELs System hingegen, wo das Endliche und das Unendliche ineinanderverschmolzen sind und das Gute und Böse nur einen einzigen Vorgang bilden, ist die Geschichte die Realität der Idee selbst: der Geist ist nichts außerhalb seiner geschichtlichen Entwicklung. Deshalb ist in ihm jede Tat (eben weil sie Tat ist) eine Tat der Idee und gehört zum konkreten Organismus der Idee, bei HEGEL  wird die ganze Geschichte zur heiligen Geschichte.  Auch für diesen Teil kann man sagen, daß ein allgemeines Einverständnis herrscht, da die großen geschichtlichen Arbeiten, die wir dem Impuls HEGELs verdanken, immer hervorgehoben und zum Gegenstand der Bewunderung gemacht wurden; Geschichte der Religion, der Sprachen, der Literatur, des Rechts, der Volkswirtschaft, der Philosophie: jedoch ist infolge eines zu oberflächlichen Verständnisses diese Einwirkung HEGELs auf die geschichtlichen Studien dann als etwas gewissermaßen Zufälliges betrachtet worden, wie etwas nur der Persönlichkeit dieses Meisters Eigenes, der eben ein eifriger Pfleger und sicherer Beherrscher in geschichtlichen Angelegenheiten gewesen ist. Und man sah nicht, daß es hingegen einzig eine strenge Folge dieses so sehr bekämpften dialektischen Prinzips war, das die Gegensätze und falschen Gegensätze löste, d. h. eine strenge Folge der hegelschen Logik in dem, was ihr am charakteristischsten war. Während man also diese Förderung der geschichtlichen Studien als großen Gewinn annahm, wies man den wahren eigentlichen Grund zurück; während man die Folgerung annahm, stieß man die Voraussetzung von sich, auf die allein sich die hegelsche Logik stützen konnte und stützte.

Der heilige Charakter, den die Geschichte annimmt, ist eine Folge der Immanenz, welche wirklich dem hegelschen Gedanken, seiner Verneinung jeglicher Transzendenz eigen ist. Sicher war man im Unrecht, ihm einen Naturalismus und Materialismus nachzurühmen oder vorzuwerfen. Denn wie kann je eine Philosophie naturwissenschaftlich und materialistisch sein, welche die Entstehung derartiger Jllusionen enthüllt, eine Philosophie der Tätigkeit, eine Philosophie, welche die Idee und den Geist zu ihrem Prinzip macht? Wenn man aber mit diesen Worten den antireligiösen Charakter betonen wollte, ist etwas Wahres in dieser Beobachtung. Sie ist eine, ich möchte sagen "die einzige" radikal irreligiöse Philosophie, weil sie sich nicht damit zufrieden gibt, sich der Religion gegenüber-, oder dieselbe sich an die Seite zu stellen, sondern sie in sich auflöst und ersetzt. Deshalb kann man sie auch unter einem anderen Gesichtspunkte die einzige hochreligiöse nennen, da es ihre Aufgabe ist, auf rationale Art das religiöse Bedürfnis zu befriedigen, welches das höchste im Menschen ist. Und außer der Vernunft bleibt nichts übrig, keine Rest:
    "Die Fragen, welche die Philosophie nicht beantwortet, sind so beantwortet, daß  sie nicht so gemacht werden sollen." (20)
In ihrer logischen Lehre und ihrem damit übereinstimmenden Denken beruth also die unbezwingbare Kraft, die unerschöpfliche Fruchtbarkeit, die andauernde Jugend der hegelschen Philosophie: Kraft, Jugend, Fruchtbarkeit, die wir viel lebhafter in unserer Zeit empfinden, mitten im üppigen Wuchern eines nervenkranken Mystizismus und wenig aufrichtiger Religiosität, dem wir beiwohnen, in der neuen anti-historischen Barbarei, die uns den Positivismus geschenkt hat, und in einem neuen Jakobinismus, der häufig die Folge davon ist. Wer die Würde des Menschen, die Würde des Gedankens in sich fühlt, den kann keine andere Lösung der Gegensätze und Dualismen zufriedenstellen, als nur die Dialektik, die HEGELs Genius errungen hat.

Derjenige Philosoph, der in dieser Hinsicht besser als jeder andere HEGEL an die Seite gestellt werden kann, ist GIAMBATTISTA VICO, den ich schon als Vorläufer der konkreten logischen Lehre erwähnt habe, ästhetisierend wie HEGEL, Präromantiker in dem Maße, wie HEGEL Romantiker warn und der dem HEGEL durch sein entschieden dialektisches Denken am allermeisten ähnelt (21). Sicher ist die Stellungnahme VICOs zur Religion weniger radikal als die HEGELs. Wenn HEGEL, biographisch gesprochen, ein recht unsicherer Christ war und nicht genügend aus sich herausging, seine Stellung zur Kirche klarzulegen, so war VICO, biographisch betrachtet, ein völlig überzeugter Katholik und ohne Doppelsinn. Dennoch ist der ganze Gedanke VICOs nicht nur anti-katholisch, sondern auch anti-religiös. Denn er erklärt, wie sich auf natürlichem Weg die Sagen und die Religionen bilden; und dieses sein Verzichten auf ein derartiges Prinzip der Erklärung gegenüber der Geschichte und der hebräischen Religion, - wenn es subjektiv eine Schüchternheit des Gläubigen war, so nimmt es objektiv den Wert einer unbewußten Ironie an; ähnlich jener bewußten des MACCHIAVELLI, als er es aufgab, zu untersuchen, warum sich die so schlecht verwalteten Staaten des Papstes dennoch aufrechterhielten, - weil, sagte er, "sie von höheren Motiven geleitet sind, an die der menschliche Geist nicht heranreicht!" VICO behauptet, daß das Wahre sich mit der Tatsache verbindet und nur derjenige ein Ding wirklich kennen kann, der es geschaffen hat. Und deshalb spricht er dem Menschen die volle Kenntnis der menschlichen Welt zu, weil sie sein Werk ist; und verlegt zu Gott die Kenntnis der übrigen Welt (der Natur), weil nur er, der sie geschaffen hat, das Bewußtsein davon hat. Auch diese Einschränkung kann das erwähnte revolutionäre Prinzip nur wenig verhindern, nachdem es für die menschliche Welt festgesetzt ist, sich notwendigerweise auf alles Reale auszudehnen. Und derart innerlich irreligiöse war die gesamte Erkenntnistheorie dieses frommen Katholiken, daß sich sofort nach seinem Tod das Gerücht verbreitete, er habe in seinen Büchern einen Teil seines Gedankens verschweigen müssen, auf Verlangen von Männern der Kirche. Und die Rationalisten sahen in VICO ihren Meister, während die eifrigen Katholiken ihn tadelten als ersten Quell der ganzen anti-religiösen Bewegung der geschichtlichen Epoche, die der seinigen folgte (22).

Aber viel augenscheinlicher sind die Ähnlichkeiten zwischen VICO und HEGEL, wenn man diesen Punkt der Religion beiseite läßt. Wie HEGEL, wenn man diesen Punkt der Religion beiseite läßt. Wie HEGEL gegen die Geschichtsfeindlichkeit (antistoricismo) der Enzyklopädisten und der  Aufklärung  kämpfte, so VICO gegen die Ungeschichtlichkeit des CARTESIUS und seiner Schule. Und er zeigte, daß halb die Philosophen gefehlt hatten, als sie ihre Gründe nicht mit der Autorität der Philologen stützten, halb die Philologen, als sie außer acht ließen, ihre Autorität mit den Gründen der Philosophen zu bekräftigen. Wie HEGEL gegen die Utopisten und Prediger der Abstraktion und das ganze Gefolge des Gefühls und des Genusses war, so verstieß VICO gemeinsam die Stoiker und Epikuräer und erkannte nur diejenigen an, die er "politische Philosophen" nannte. Und er verhöhnte jene Weisen, die, indem sie die Kämpfe und die Schmerzen des wirklichen Lebens vergaßen, "Lebensregeln aufstellen, die bei den menschlichen Zuständen unmöglich sind; wie z. B. die Pflichten des Lebens mit der Sinnenlust zu lenken sind"; und welche Gesetze gaben und Republiken gründeten "in der Ruhe und im Schatten", Staaten, die "nirgendwo anders Platz hatten, als im Geist der Gelehrten" [klopstock]. Er wußte sehr wohl, daß "die Regierungen den zu regierenden Menschen entsprechen müssen", und daß "die ursprünglichen Gebräuche, und vor allem die natürliche Freiheit, sich nicht mit einem Schlag verändern lassen, sondern ganz allmählich und stufenweise". Nicht weniger als HEGEL hatte VICO den Begriff der  "List der Vernunft".  Nur nannte er sie die  "göttliche Vorsehung":  "welche in die Leidenschaften aller Menschen, die nur an ihren persönlichen Nutzen gebunden sind, um derentwillen sie wie wilde Tiere in den Einöden leben würden, eine bürgerliche Ordnung gebracht hat, wodurch sie dann in menschlicher Geselligkeit leben". Was macht es aus, daß die Menschen kein Bewußtsein davon haben? Die Tatsache ist deswegen nicht weniger rational.
    "Homo non intelligendo fit omnia [Der Mensch wird alles, was er ist, durch das Nicht-Begreifen. -wp] , ... Denn der Mensch erklärt durch das Verstehen seinen Geist und umfaßt die Dinge, aber wenn er sie nicht versteht, und sich nur hineinversetzt, so wird er zu den Dingen selber."

    "Und dürfen wir dies" - ruft er an anderer Stelle aus - "nicht eine übermenschliche Weisheit nennen? welche ohne Gesetzesgewalt (nur allein Gebrauch machend von diesen selben Sitten der Menschen, deren Sitten so frei sind von aller Gewalt, als es den Menschen frei ist, ihre Natur zu betätigen) sie göttlich lenkt und sie führt? Zwar haben die Menschen diese Welt von Völkern gemacht; aber sie ist ohne Zweifel aus einem von ihnen sehr verschiedenen Geist entsprossen, der ihnen mitunter entgegengesetzt, immer aber ihren einzelnen Endzwecken, die sich die Menschen vorgesteckt hatten, überlegen ist. Und diese engen Endzwecke hat er immer als Mittel benutzt, für weitgreifendere Endzwecke zu dienen, hat sie immer dazu angewendet, das menschliche Geschlecht auf Erden zu erhalten. So wollen die Menschen die tierische Lust gebrauchen und alle Gesellschaftsordnung zerstören, und sie schaffen die Keuschheit der Ehen, aus denen die Familien entstehen. So wollen die Patrizier maßlos die väterlichen Gewaltrechte über Abhängige ausüben, und daraus entstehen die Städte. So wollen die herrschenden Stände der Adligen ihre freiherrliche Freiheit gegen die Plebejer mißbrauchen und geraten unter die Knechtschaft der Gesetze, woraus die Freiheit des Volkes hervorgeht. So wollen die freien Völker sich des Hemmschuhs ihrer Gesetze entschlagen und unterwerfen sich selbst dem Monarchen. So wollen die Monarchen ihre Untergebenen in alle Laster der Zügellosigkeit herabdrücken, und bringen sie dahin, das Joch stärkerer Nationen zu tragen. So wollen die Nationen sich selbst vernichten und retten ihre Überreste in die Einsamkeit, aus der sie wie ein Phönix aus der Asche wieder auferstehen. Der, der all dies schuf, war jedenfalls  Geist,  denn die Menschen taten es mit Intelligenze; nicht Schicksal war's, weil es die Menschen mit freiem Willen taten; nicht Zufall war's, denn sie taten es fortwährend, und nur durch dieses Fortwährende ist es so gekommen." (23)
Es sind dieselben Begriffe, und oft die gleichen Vergleiche, Verbildlichungen und Redewendungen wie bei HEGEL. Das ist umso erstaunlicher, als der deutsche Philosoph (zumindest in der Zeit, wo er sich seine Philosophie ausdachte und die  "Phänomenologie des Geistes"  zusammenstellte) die andere Phänomenologie, die schon ein Jahrhundert früher in Neapel unter dem Titel "Scienza nuova" (neue Wissenschaft)" ausgedacht war, gar nicht gekannt zu haben scheint. Es scheint fast, als sei die Seele des italienischen und katholischen Philosophen in den deutschen gefahren, und nach dem Zeitraum von einem Jahrhundert reifer und bewußter wiederaufgetaucht.
LITERATUR: Benedetto Croce, Lebendiges und Totes in Hegels Philosophie, Heidelberg 1909
    Anmerkungen
    7) Siehe auch die geschichtliche Einführung in die  System der Logik und Metaphysik  von KUNO FISCHER (zweite Auflage 1865), sowie "Prolusione e introduzione alle lezioni di filosofia von BERTRANDO SPAVENTA (Neapel 1862); jetzt unter dem Titel "La filosophia nelle sue relazioni con la filosofia europea", hg. GENTILE (Bari bei Laterza 1909). Wegen der Vorgänger von HEGELs Dialektik und seiner verschiedenen Phasen der Entwicklung les man ganz besonders ALOYS SCHMID, Entwicklungsgeschichte der hegelschen Logik, Regensburg 1858.
    8) ARISTOTELES, Metaphysik, 1055b.
    9) Über CUSANUS lese man von FIORENTINO, "Il risorgimento filosofico nel Quattrocento", Neapel 1885, Kapitel II.
    10) GIORDANO BRUNO, De la causa principio e uno, Dialog V, am Ende (siehe  Dialoghi metafisici,  hg. von GENTILE, Bari bei Laterza, 1907, Seite 255-257, in  Opere italiane,  Bd. 1.
    11) Über HAMANN vgl. HEGEL, Vermischte Schriften II, Seite 36/37 und 87/88 und was ich in der  Critica  gesagt habe, Bd. IV, Seite 67 und 84.
    12) Man vergleiche meine Notiz "Le definizione del romanticismo" in der  Critica,  Bd. IV, Seite 241-245.
    13) JAMES HUTCHISON STIRLING, The secret of Hegel, London 1865, Bd. 1, Seite 14: "Für meinen Teil erkläre ich, soweit es mir gegeben war zu begreifen, daß es für mich keinen Beweis gibt, daß irgendjemand Kant gründlich verstanden hat, außer Hegel."
    14) Dieser und andere derartige Vorbehalte sind bei der Mehrfältigkeit der Bedeutung, welche diese Worte in der philosophischen Ausdrucksweise angenommen haben, sehr zweckdienlich.
    15) Wegen der Kritik dieser Begriffe sehe man besonders die Lehre vom  Wesen die den zweiten Teil der  Logik  bildet.
    16) Vorwort zur  Philosophie des Rechts;  vgl. auch  Enzyklopädie,  § 6.
    17) In den Aphorismen, die man im Anhang zu ROSENKRANZ, Hegels Leben, Seite 550 findet. Über die Satire des  "Sollen lese man im besonderen die  Phänomenologie,  Abschnitt  Vernunft,  B, und die Einleitung in die  Philosophie der Geschichte. 
    18) HEINRICH TREITSCHKE, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Bd. III (1885, Seite 720-721; FRIEDRICH ENGELS, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, Stuttgart.
    19) Vgl. KUNO FISCHER, Hegels Leben und Werke, Seite 59.
    20) In den genannten Aphorismen bei ROSENKRANZ, a. a. O., Seite 543.
    21) Über die historische Stellung VICOs und über seine Beziehungen zur deutschen Philosophie siehe SPAVENTA, a. a. O., Lezione VI, Seite 83-102; vgl. auch den geschichtlichen Teil meiner  Ästhetik,  Kapitel V.
    22) vgl. meine  Bibliografia Vichiana  (Neapel 1904), Seite 91-95.
    23) Die aus VICO angeführten Stellen finden sich in "Opere", Ausgabe FERRARI, Bd. V, Seite 96, 97, 98, 117, 136, 143, 146-147, 183, 571-572; Bd. VI, Seite 235.