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Die soziale Idee [4/4]
Die Entwicklung der Persönlichkeitsidee I. Der humane Individualismus G o e t h e So wenig GOETHE eine systematisch durchgebildete Weltanschauung zu irgendeiner Zeit seines Lebens besessen oder gar in irgendeiner Form literarisch niedergelegt hat, so wenig kann man sagen, daß er eine in sich geschlossene, durch sein ganzes Leben hindurch maßgebende Meinung über sozialethische Fragen gehabt habe. Auf den jungen GOETHE wirkten drei entscheidende Einflüsse, die in vieler Hinsicht einander stützten oder gar in ihren Wirkungen deckten: HERDER, ROUSSEAU und JUSTUS MÖSER. Die beiden ersten mehr indirekt, während der Staatslehrer MÖSER GOETHEs Anschauungen über Fragen der Gesellschaft und des Staates unmittelbar bildete. Der Einfluß HERDERs ist in jener frühen Zeit vor allem darin zu suchen, daß er GOETHE daran gewöhnte, das Volk als Träger eines gewissen organischen geistigen Lebens zu betrachten. Er bekam durch HERDER eine Fühlung dafür, wie hier geographische Bedingungen und ethnologische Anlagen, wie die Kulturtraditionen im religiösen, staatlichen und künstlerischen Leben mit den gegenwärtigen Äußerungen des Volkslebens auf allen Gebieten in lebendiger Wechselwirkung stehen. Hatte schon GOETHEs Erziehung ihm eine Fülle konkreter Anschauungen vom Arbeitsleben eines Volkes, der Berufsgliederung, dem Zusammenhang zwischen Berufstätigkeit, Lebenskreis und Gesinnungen gegeben, so stützte ihn HERDERs Einfluß gegen die Gefahr des schematischen Individualismus, der ihn seine rationalistische Universitätsbildung aussetzte. Seine künstlerische Anschauung hat GOETHE von vornherein sehr stark die Unterschiede in den einzelnen Gruppen eines Volkes empfinden lassen, Unterschiede, die nicht sowohl formaler, rechtlicher Natur sind, sondern die auf das engste zusammenhängen mit den Aufgaben und Leistungen der verschiedenen Schichten im nationalen Gesamtleben. Diese Anschauungen wurden nun staatswissenschaftlich in ihm befestigt und systematisiert durch die Lektüre der Werke JUSTUS MÖSERs, der als Staatslehrer und Politiker in seinen verschiedenen Schriften den rationalistischen Träumen von Menschenrechten, von Freiheit und Gleichheit, wie der Überschätzung der Aufklärung gegenüber daran festhielt, daß alles, was der Staat für irgendeine Volksschicht leiste, streng ihrer Bestimmung im Gesamtleben der Nation angepaßt sein müsse. War JUSTUS MÖSER in gewisser Weise von ROUSSEAU abhängig, insofern dessen Ruf der Rückkehr zur Natur auch seine Parole war, so bedeutet doch dieser Begriff "Natur" für ihn etwas wesentlich anderes als für ROUSSEAU. JUSTUS MÖSER denkt dabei an das geschichtlich Gegebene, keineswegs an jene natürlichen Recht oder jene natürliche Gleichheit aller Menschen, die ROUSSEAU gerade im Gegensatz zu der durch die Kultur geschaffenen ständischen Gliederung behauptete. So wird der Einfluß JUSTUS MÖSERs bei GOETHE in gewisser Weise doch von ROUSSEAU durchkreuzt. Das stärkste Zeugnis für die Wirkung ROUSSEAU auf GOETHEs Anschauung vom Leben und den Aufgaben der Gemeinschaft ist der WERTHER. Er ist ganz durchtränkt von jenem Kulturnihilismus, der in allen realen Pflichten des Einzelnen gegen die Gesamtheit, wie sie durch die Berufsgliederung gegeben sind, einen Abbruch an den Bedürfnissen des reinen, ursprünglichen Menschentums sah. Die Bauern sind ihm anziehend, so zu sagen ein ästhetisches Objekt, als Vertreter dieses primitiven Menschentums, und über diese sentimentale, neidvolle Bewunderung für die einfache Geschlossenheit ihres Lebenskreises hinaus geht sein Anteil an ihrem Schicksal nicht. Der Beruf ist ihm eine lästige Pflicht, der er sich entzieht, um in Wahrheit Mensch zu sein. In den Unterschieden der Stände sieht er eine Verzerrung der naturgewollten Gemeinschaft der Menschen, und er gefällt sich darin, sich über diese Unterschiede hinwegzusetzen. In einer neuen Phase zeigt sich GOETHEs Individualismus in Wilhelm Meisters Lehrjahren. Der Lyrismus, der den WERTHER beherrscht, ist abgestreift; der Standpunkt einer gefühlsmäßigen Opposition gegen Kultur und Gesellschaft aufgegeben. Die Subjektivität, die den Dichter des WERTHER ganz in seinem Helden aufgehen läßt, ist einer objektiveren Betrachtung gewichen, in der der Held als Träger und Exempel für ein vom Dichter gestelltes Problem erscheint. Die Lehrjahre sind ein "Bildungsraum". Der Bildungsroman baut sich seinem ganzen Wesen nach auf dem Interesse an der Individalität auf. In WILHELM MEISTERs Lehrjahren erscheint, bestimmter als in HERDERs Ideen, die Persönlichkeit als der höchste soziale Wert. "Gedenke zu leben" ist die Devise. Sie ist aber nicht eudämonistisch als ein "Rezept zum Glücklichsein" aufzufassen. Dieses Mißverständnis wird ausdrücklich zurückgewiesen. Die Selbstentfaltung untersteht vielmehr einem Pflichtbegriff. Bildung ist die Aufgabe des Menschen in der Gesellschaft. Sie knüpft an die ursprünglichen Anlagen an. Sofern in diesen das Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft schon angedeutet liegt, unterscheidet GOETHE die soziale Anlage der Frau von der indivudalistischen des Mannes. NATALIE betrachtet das Leben von vornherein mit dem Bedürfnis zu helfen, seine Mängel auszugleichen. "Das Kind, das noch nicht auf seinen Füßen stehen konnte", so sagt sie, "der Alte, der sich nicht mehr auf den seinigen erhielt, das Verlangen einer reichen Familie nach Kindern, die Unfähigkeit einer armen, die ihrigen zu erhalten, jedes stille Verlangen nach einem Gewerbe, den Trieb zu einem Talent, die Anlage zu hundert kleinen notwendigen Fähigkeiten, diese überall zu entdecken, schien mein Auge von der Natur bestimmt." Diese Art zu sehen ist bei ihr ganz natürlich und instinktiv, ohne die mindeste Reflexion. Als symbolischen Ausdruck des unmittelbaren, unreflektierten sozialen Interesses erwähnt GOETHE NATALIEs Eigenschaft, ihre Wohltaten nicht in Geld, sondern in Naturalien zu gewähren. Sie kann das Geld mit Mühe und spät als ein Mittel ansehen, Bedürfnisse zu befriedigen. Aus dieser ihrer sozialen Anlage, die ohne Umwege unmittelbar auf die Betätigung des Richtigen ausgeht, ergibt sich auch der Gegensatz ihrer erzieherischen Prinzipien zu denen der Männer. Sie ist nicht der Meinung, die in der Führung WILHELM MEISTERs vertreten wird, daß man erst suchen und irren und Mißgriffe tun müsse; ihr schein "in der menschlichen Natur immer eine Lücke zu bleiben, die nur durch ein entschieden ausgesprochenes Gesetz ausgefüllt werden kann." Dieser instinktmäßigen sozialen Anlage der Frau stellt GOETHE im Wilhelm Meister die instinktmäßige individualistische Anlage des Mannes gegenüber. WILHELM MEISTER weiß zunächst nur von einer Pflicht gegen sich selbst. Er vernachlässigt nicht nur die geschäftlichen Verpflichtungen, in die er als Erbe seines Vaters hineingestellt ist, sondern er empfindet zunächst nicht einmal irgendein Pflichtgefühl gegenüber den hilflosen Wesen, die auf ihn angewiesen sind, gegen FELIX und MIGNON. Erst mit dem Bewußtsein seiner Vaterschaft kommt ihm das Gefühl seiner Zugehörigkeit zur Gesellschaft, ein Zug, in dem in feiner Weise die soziallisierende Wirkung der Familie auf den Mann angedeutet ist. "Er sah die Welt nicht mehr wie ein Zugvogel an, ein Gebäude nicht mehr für eine geschwind zusammengestellte Laube, die vertrocknet, ehe man sie verläßt; alles was er anzulegen gedachte, sollte dem Knaben entgegenwachsen, und alles was er herstellte,, sollte eine Dauer auf einige Geschlechter haben." Damit sind WILHELM MEISTERs Lehrjahre geendigt, und "mit dem Gefühl des Vaters hatte er auch alle Tugenden eines Bürgers erworben." Und GOETHE bemerkt dazu, daß es verkehrt sei, solche Verantwortlichkeitsgefühle früher zu verlangen, als sie durch die Natur selbst im Menschen ausgebildet werden, daß man nicht "auf das Ende hinweisen solle, anstatt auf dem Weg selbst zu beglücken." Für "den Weg" gilt das individualistische Prinzip unbedingt. Je breiter die geistige Basis ist, auf die ein Mensch sich stellt, umso größer sind die Maße seiner Anschauung von Welt und Leben; je gründlicher er den Irrtum kennen lernt, umso stärker ist für ihn die Energie der Wahrheit. Wer sich wie WERNER von Anfang an praktischer Tätigkeit hingibt, der Mensch "ohne Geheimnisse und ohne Kraft", wird auch für die Gesellschaft nur kleinliche, engherzige Gedanken haben. Verweist GOETHE so den Menschen darauf, zunächst seiner eigenen Bildung mit aller Energie, ja Rücksichtslosigkeit zu dienen, so genügt dieses Tun doch zugleich der sozialen Pflicht, weil am Ende einer solchen persönlichen Bildung und als ihr höchstes Mittel die Tätigkeit für die Gesamtheit erscheint. Und zwar aus einem sozialen wie aus einem individualistischen Grund. Aus einem sozialen Grund, "weil nur alle Menschen die Menschheit ausmachen und nur alle Kräfte zusammengenommen die Welt." Die Fülle der menschlichen Anlagen kann nur ausgebildet werden durch die Gesellschaft; erst die Gesamtheit macht den Menschen aus, d. h. erst sie stellt in sich alles dar, was der Mensch aus sich zu entwickeln imstande ist. Aus einem individualistischen Grund: denn der Mensch ist nicht eher glücklich, als bis sein unbedingtes, sein schrankenloses Streben sich selbst eine Begrenzung bestimmt, das heißt, bis er Spezialist wird. Und wenn seine Bildung auf einem gewissen Grad steht, ist es vorteilhaft für ihn, wenn er sich in einer größeren Masse zu verlieren lernt. So erhält der Imperativ "Gedenke zu leben" am Ende eine soziale Wendung. Er weitet sich zu dem Schlußwort: "Lassen Sie uns zusammen auf eine würdige Weise tätig sein." Den Übergang aus jener zweiten zu einer dritten Phase, zu der Phase von "Wilhelm Meisters Wanderjahren", erkennen wir in HERMANN und DOROTHEA und den "Wahlverwandtschaften". Das Charakteristische ist, daß GOETHEs Interesse sich vom Einzelnen zu den Zuständen selbst wendet. Sie gelten nicht mehr nur als Bildungsmittel für den Einzelnen, sondern die Frage ist, wie das Individuum die sozialen Zustände in sich repräsentiert und wie es sich als Persönlichkeit in die Aufgaben der Gesamtheit einfügt. So ist in HERMANN und DOROTHEA das absolute Zusammenfallen von individuellen und sozialen Lebenszielen, individueller und sozialer Bestimmung dargestellt. In den "Wahlverwandtschaften" wird der Konflikt des Individuums mit der sozialen Institution zugunsten der Institution entschieden. Und in den Wanderjahren erscheint die Gesellschaft als das ausschließlich Interessante und Wertvolle, dem gegenüber der Einzelne sich nur als Mittel zum Zweck zu betrachten hat. HERMANN und DOROTHEA bilden geradezu den Gegenpol zum "Werther". In den Personen, die dort auftreten, zeigt sich nicht weiter als die bildenden Macht des sozialen Milieus; sie sind ausschließlich Typen eines ungebrochenen, unverkümmerten Wachstums der Gesellschaft als solcher. Die flüchtigen Scharen der Emigranten werden ihnen gegenübergestellt als die Entwurzelten, aus ihren natürlichen Zusammenhängen Gerissenen, deshalb Halt- und Traditionslosen. An hundert kleinen Zügen wird deutlich, daß die Lebenskräfte, die an den Persönlichkeiten bilden und schaffen, die Kräfte der Gesellschaft sind. Die Gestalt des Wirtes entsteht, baut sich auf bis auf den kleinsten Zug aus der Wechselwirkung seines Berufs, seiner Beziehungen zum Leben der Ackerbürgerstadt, seiner sozialen Lage. Individuum und Gesellschaft liegen in ihm, wie in allen Figuren des Gedichtes, sozusagen ununterschieden ineinander. Alle individuellen Erlebnisse sind kaum individuell, sondern entstehen aus dem Verhältnis des Einzelnen innerhalb der primitiven Institution der Familie, des Berufs, der Gemeinde. Der Wert des Lebens beruth hier in seiner vollkommenen Anpassung an die Aufgaben der Schicht und der Zeit, in die es hineingeboren ist. Alles Extraordinäre, jeder Versuch, die vielen kleinen Schritte, in denen naturgesetzlich die Entwicklung verläuft, durch einen Akt der Willkür, durch einen großen Schritt zu überspringen, führt zu innerer Schwäche, Unwahrhaftigkeit des Lebensstils, Haltlosigkeit der Gesinnungen. In diesem Sinne ist das Kleinbürgertum, das durch seine soziale Lage sowohl wie durch seine Bildung, seine Traditionen und seine Arbeit von solchen Extravaganzen ausgeschlossen ist, diejenige Schicht, auf der der Bestand der Gesellschaft in materiellem sowohl als moralischem Sinne beruth. Was man im ästhetischen Sinn das "Typische" oder das "Klassische" in HERMANN und DOROTHEA nennt, ist im sozialen das vollkommene Ineinanderaufgehen von Individuum und Gesellschaft. Hier tritt das Gesellschaftsbewußtsein des Klassizismus ganz rein und plastisch zutage. In den Wahlverwandtschaften dagegen kämpft der moderne Geist subjektiver Maßlosigkeit gegen die ewige Gesetzlichkeit des Lebens. Es stehen sich hier zwei Gegensätze gegenüber, nämlich nicht nur Indiviuum und Gesellschaft, sondern auch Natur und Kultur, wobei Natur und Individuum auf der einen, Kultur und Gesellschaft auf der anderen Seite als einander unterstützende, in mancher Hinsicht zusammenfallende Mächte gedacht sind. Unter dem Gesichtspunkt dieser beiden Gegensätze ist der ganze Aufbau des Romans zu verstehen. Es handelt sich nicht nur darum, die individuelle Leidenschaft in die Schranken der sozialen Notwendigkeit zu binden, sondern auch darum, die elementaren Kräfte der Natur durch die gesellschaftliche Form zu bändigen. Unter diesem Gesichtspunkt steht die Charakteristik der vier Hauptpersonen. EDUARD und OTTILIE sind die Träger der beiden Kräfte, die sich der gesellschaftlichen Form entgegensetzen, EDUARD der individuellen Willkür, die das Recht, die gesellschaftliche Form zu mißachten, einfach für sich in Anspruch nimmt, OTTILIE des elementaren, halb dämonischen Naturzwangs, gegen den das Gefühl der moralischen Verpflichtung nicht klar und mächtig genug ist. In einer ganzen Reihe von charakteristischen kleinen Zügen wird die unsoziale Natur EDUARDs gezeigt: seine Äußerung, er möge mit Bürgern und Bauern nur zu tun haben, wenn er ihnen befehlen könne, seine launenhafte Überhetzung der Arbeitsleute, der Leichtsinn, mit der er einen ruhigen Zustand gern um einer Sensation willen aufs Spiel setzt; dadurch verrät er, daß er die Kräfte unterschätzt, die für die Herstellung des Dauerhaften in den menschlichen Beziehungen notwendig sind. Ihm wir einerseits CHARLOTTE, andererseits der Hauptmann gegenübergestellt, beide als Typen der sozialen, mit der Gemeinschaft innig verbundenen Gesinnung. Bei CHARLOTTE ist diese Gesinnung mehr eine ursprünglich weibliche Naturanlage, etwas Unbewußtes, Gefühlsmäßiges, das freilich auch eben deshalb leicht beirrt und erschüttert werden kann. Es entspricht GOETHEs Auffassung vom Wesen der Frau, daß er diesen Zug als einen Instinkt in CHARLOTTEs Charakter hineingelegt. "Die Männer", so sagt sie in Bezug auf EDUARDs Vorschlag, den Hauptmann einzuladen, "denken mehr auf das Einzelne, auf das Gegenwärtige, und das mit Recht, weil sie zu tun, zu wirken berufen sind; die Weiber hingegen mehr auf das, was im Leben zusammenhängt, und das mit gleichem Recht, weil ihr Schicksal, das Schicksal ihrer Familien, an diesen Zusammenhang geknüpft ist und auch gerade dieses Zusammenhängende von ihnen gefordert wird." Der Hauptmann dagegen zeigt die gleichen sozialen Anlagen nicht sowohl als Instinkt, wie als Charakter. Er wird von Anfang an als ein Pflichtmensch in dem Sinne eingeführt, daß er die Notwendigkeit der Anpassung in die gesellschaftlich gegebene Ordnung, stark empfindet. So erscheint er, wenn er dem launenhaften dilettantischen EDUARD rät, Geschäft und Leben voneinander zu trennen; wenn er vor seinem Weggehen dafür sorgt, daß ein anderer in seine Arbeit eintreten kann: "Er verachtete diejenigen, die, um ihren Weggang fühlbar zu machen, erst noch Verwirrung in ihrem Kreis anrichten, indem sie als ungebildete Selbstler das zu zerstören wünschen, wobei sie nicht mehr fortwirken sollen." So ist auch der Hauptmann im Gegensatz zu EDUARD ein Menschenkenner, weil er von vornherein sein Augenmerk darauf einstellt, nicht die Menschen als Mittel für die Zwecke seiner Willkür zu benutzen, sondern sie, ihre eigene Selbstbestimmung achtend, für das zu gewinnen, was er für richtig hält. Der Verlauf des Romans zeigt nun mit einer feinen Symbolik, wie mit dem Erwachen des individuellen Begehrens sofort der Konflikt mit dem Zuständlichen, dem Formgewordenen einsetzt. Die beiden Freunde lassen ihre Geschäfte ins Stocken geraten; sie bemerken nicht, daß sie ihren Beamten Dinge aufbürden, die sie ehemals selbst zu tun pflegten. Der Hauptmann vergißt, seine Uhr aufzuziehen. So kündigt sich leise schon das Ferment individueller Leidenschaften an, die das ruhige Leben in Gärung versetzen werden. "Wenn auch," wie GOETHE sehr fein- und tiefsinnig bemerkt, "die gewöhnliche Lebensweise einer Familie, die aus den gegebenen Personen und notwendigen Umständen entspringt, auch wohl eine außerordentliche Neigung, eine werdende Leidenschaft in sich wie in ein Gefäß aufnimmt und eine ziemliche Zeit vergehen kann, ehe dieses neue Ingrediens eine merkliche Gärung verursacht und schäumend über den Rand schwillt." Gewohnheit und Form sind eben fest genug, um zunächst durch die Ansprüche des Individuums nicht erschüttert zu werden. Im Laufe des Romans wird dann aber sehr bald der Moment herbeigeführt, wo diese sich leise andeutende Störung stärker nach außen wirkt. Die planmäßigen Arbeiten werden beschleunigt; es werden Gewinne willkürlich aufs Spiel gesetzt, Verluste um individueller Laune willen gern ertragen. Und so spitzt sich die Entwicklung bis zum eigentlichen Konflikt zu. GOETHE wählt gerade diesen Konflikt, weil sich in ihm individuelle Leidenschaft und gesellschaftliche Ordnung am allerschroffsten gegenübertreten müssen. Der Konflikt der Leidenschaft mit der Ordnung der Ehe repräsentiert in der Tat den schärfsten Gegensatz, in dem sich das individuelle Begehren zu den Forderungen der Gesellschaft befinden kann, weil einerseits die Liebe die stärkste Äußerung persönlicher Ansprüche, andererseits die Ehe die unerschütterlichste Grundinstitution der Gemeinschaft ist. Die gewaltsamste persönliche und die unerläßlichste soziale Forderung stehen einander hier gegenüber. Wie behandelt nun GOETHE dieses Problem? Er behandelt es im Sinne der bedingungslosen Verantwortlichkeit des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft, einer Verantwortlichkeit, von der niemand auszunehmen ist. Sie wird umso stärker betont, als bei den vier Menschen, um die es sich handelt, die Lösung der Ehe keinerlei persönliche Rechte und Neigungen verletzen würde. Sowohl EDUARD wie CHARLOTTE könnten durch die Trennung ihrer Ehe persönlich nur gewinnen, während der Hauptmann und OTTILIE nicht gebunden sind. Das einzige, was also für alle vier verpflichtend ist, ist die gesellschaftliche Form. GOETHE stellt das Problem so, um klar zum Ausdruck zu brngen, was er meint; die Trennung der Ehe ist nicht nur dann als unsittlich anzusehen, wenn sie nur von einem Teil innerlich gewünscht und zum Unrecht gegen den anderen wird,, sie ist nicht als Verletzung von Personen zu mißbilligen, sondern als Verletzung der Form ansich. Durch zwei Argumente wird diese Forderung begründet. Einmal dadurch, daß das Zusammensein der Gatten einen Schatz von gegenseitigen Verpflichtungen geschaffen hat, der nicht durch eine Trennung ohne weiteres außer acht gelassen werden darf. GOETHE predigt die Weisheit, daß man nicht die Güter, dei man im Laufe seines Lebens aufgehäuft hat, im Stich lassen soll, um mit ganz neuem Material ein neues Leben zu bauen. Es sollte vielmehr eine Vergangenheit das Fundament einer Zukunft sein, damit das Leben ein Ganzes sei. Der unwägbare Aufwand innerer Leistungen, den ein gefestigtes Verhältnis zwischen zwei Menschen darstellt, ist GOETHE sehr lebendig bewußt. Diese inneren Schätze sind das Kapital, von dem der Mensch zehrt, und er soll sich nicht von seinen inneren Hilfsquellen lösen. Der zweite Grund für die Unlöslichkeit der Ehe ist selbstverständlich das Kind. Im Hinblick auf das Kind, das sie erwartet, ist für CHARLOTTE der Gedanke einer Trennung vollends undenkbar geworden. GOETHE deutet hier wieer an, wieviel dauerhafte Zuständlichkeit dazu gehört, um alle die feinen Elemente seelischen Verständnisses zu schaffen, von denen das Kind nachher zehren soll, wieviel innere Werte im Begriff der "Heimat" stecken. So wird hier an einem einzelnen Beispiel der tiefe Sinn der Ordnung gezeigt, die dem Dasein der Gesellschaft als ein unumstößliches Formprinzip zugrunde liegt. In den Wanderjahren wird der Rahmen so weit gespannt, daß diese Ordnung als ein Ganzes erscheinen kann. Die Bildung des Einzelnen ist das Problem der Lehrjahre, und nur als ihr Abschluß und Resultat erscheint die spezalisierte Leistung für die Gesamtheit. Das Problem der Wanderjahre ist die Organisation der Gesellschaft. Alle Lebensfragen werden von ihrer sozialen Seite beleuchtet. Erziehung, Arbeit, Wissenschaft, Kunst und Religion erscheinen in ihrem sozialen Wesen. Die Fragen der Staatsform, der Volkswirtschaft, der ständischen Gliederung, der Stellung aller einzelnen Kultursysteme im Ganzen beherrschen das Interesse. Der einzelne Mensch erscheint nicht mehr als Persönlichkeit, sondern als Organ. Für seine Bewertung geben nicht mehr ästhetische, sondern praktische und ethische Maßstäbe den Ausschlag. Nicht die Harmonie der Persönlichkeit ist das höchste Gut und das Ziel menschlicher Entwicklung, sondern ihre Nutzbarkeit für die Gesamtheit. Soweit die Lebensziele des einzelnen Menschen in dieser vollkommenen Entfaltung seiner selbst bestehen, treten sie in den Wanderjahren unter die Forderung des Titels: "Die Entsagenden." Das Studium gesellschaftlicher Fragen, das GOETHE durch entstehende französische Soziolgie nahe gelegt wurde, hat ihn die ganze Bedeutung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung empfinden lassen, und die Reife seines Lebens führt ihn zu immer höherer Schätzung der Form, des Dauernden und Traditionsfähigen, anstelle der beweglichen, in sich befangenen Individualität: "Es ist jetzt die Zeit der Einseitigkeiten" - "Mache ein Organ aus dir und erwarte, was für eine Stellung dir die Menschheit im allgemeinen Leben wohlmeinend zugestehen werde." Die Frage, wie in dieser Einseitigkeit doch der Drang des Menschen nach Ganzheit und Harmonie befriedigt werden kann, jene Frage, die SCHILLER verzweifeln ließ, ist für GOETHEs Empfinden durchaus lösbar. Seiner einzigartig synthetischen Kraft erscheint es möglich, auch dem, was seinem Wesen nach Stückwerk ist, Form zu geben. Auch die einseitige Tätigkeit gibt dem schöpferischen Menschen Spielraum zu Darstellung oder Genuß irgendeines Ganzen. GOETHE nennt das tiefsinnig, "die Unendlichkeit jeder spezifischen Tätigkeit." "In dem einen, was man recht tut, sieht man das Gleichnis von allem, was recht getan wird." Darum darf die Parole jetzt lauten "vom Nützlichen durchs Wahre zum Schönen", denn dieser Weg ist frei. Und nur den Frauen ist gestattet, den umgekehrten Weg zu gehen. Für das weite unbegrenzte Streben nach Lebenserfüllung, das in "Wilhelm Meisters Lehrjahren" gerechtfertigt wird, heißt es also: Entsagen. Entsagen zunächst dem Ideal einer universellen Bildung. GOETHE scheint einverstanden mit JARNO, der dieses Ideal schlechtweg als Narrenposse bezeichnet. Entsagen dem Drang nach vielseitiger Tätigkeit. In den Bund, der die gesellschaftliche Zukunft zu seiner Aufgabe macht, wird nur der aufgenommen, der sich für eine Arbeit spezifisch ausgebildet hat, und WILHELM MEISTER muß Wundarzt werden, um dieser Gemeinschaft würdig zu sein. Entsagen allem Schweifen des Geistes in Vergangenheit und Zukunft; nur die Gegenwart darf die Mitglieder des Bundes erfüllen. Symbolisch wird die Forderung, mit nichts Vergangenem belastet zu bleiben, einmal darin ausgedrückt, daß der Sonntag zur Beseitigung aller vorhandenen Mißstände dienen muß, von denen keiner in die folgende Woche herüber genommen werden darf. Entsagen schließlich dem Genuß seiner selbst im Irrsal des Geistes, Gemütes und Herzens, und Einschränkung der ganzen Seele auf entschlossene Tätigkeit. Nach außen sei der Blick der Menschen gerichtet. Aufmerksamkeit ist das Leben. "Und dein Streben, sei's in Liebe, Und dein Leben sei die Tat." Gesellschaft ist gemeinsame Tätigkeit. Sie besteht nicht eigentlich in den Menschen, die sie bilden, sondern im Gewebe ihres Handelns. Je mehr getan wird, umso mehr Gemeinschaft ist da. Aus dieser Einsicht werden die großen ideologischen Programme der Revolutionszeit umgeprägt. Wenn sie weit und prinzipiell und umfassend sind und mit ihrem Inhalt in ferne Zukunft verweisen, so versagen sie als Richtschnur für die Forderung des Tages. Darum heißt es nicht superlativisch, "den meisten das Beste", sondern "vielen das Erwünschte." Unter den gleichen großen Prinzipien, welche die neue Stellung des Einzelnen zur Gesellschaft bestimmen, wird die soziale Gliederung ansich betrachtet, das Verhältnis der Stände zueinander, Heimat und Fremde, Arbeit und Ordnung, Obrigkeit und Staatsform. Die glücklichste Form der Betätigung sieht GOETHE im Handwerk. Durch die Idylle vom heiligen JOSEPH am Anfang der "Wanderjahre" präludiert, wird im Verlauf der Darstellung immer wieder das hohe Lied des Handwerks gesungen. Es hat für die persönliche Kultur den Wert, daß es Kraft und Gefühl in Beziehung setzt, daß es dem Menschen ermöglich, sein Tun proportional seinen Anlagen auszubilden und zu erweitern. Vorzüglich dem Handarbeitenden kommt die Unendlichkeit jeder spezifischen Beschäftigung zugute. Denn in organisch erweitertem Kreis wachsen aus der handwerklichen Beschäftigung die künstlerischen Vorstellungen, die sittlichen Anschauungen, ja schließlich das religiöse Leben empor zu einem harmonischen sinnlich geistigen Dasein. So wirkt das Handwerk formend auf den Charakter der Persönlichkeit und ihres Gemeinschaftslebens. Es "gibt jeder Vereinigung eine besondere Eigentümlichkeit, jeder Familie einer kleinen, aus mehreren Familien bestehenden Völkerschaft den entschiedensten Charakter. Man lebt im reinsten Gefühl eines lebendigen Ganzen." Im Gedanken, daß der Mensch seinem Leben Gestalt gibt durch seine Arbeit, ist für GOETHE individuelles und soziales Dasein versöhnt. Aber GOETHE ahnt den neuen schwereren Konflikt. Er sieht voraus, daß die Handarbeit durch das Maschinenwesen zerstört werden wird, und über dem Weberdorft, das er schildert, schwebt schon die Gewitterwolke einer heraufziehenden neuen Zeit. Weitschauend erkennt er die Signatur des kommenden Jahrhunderts, und erfaßt auch den Kern seiner Wirkung auf die menschliche Persönlichkeit: nämlich eben die Zerstörung jener im Handwerk gegebenen Ganzheit und Einheitlichkeit des Lebens. Außerordentlich charakteristisch dafür, wie sehr jetzt alle Wertschätzungen vom Standpunkt der Gesellschaft ausgehen, ist die Beurteilung des Handwerks im Verhältnis zur Kunst. Das Bedeutsame ist für GOETHE das Handwerk. Die Kunst steht geradezu in seinem Dienst. Die Gesellschaft bedarf der Künstler nur, damit das Handwerk nicht abgeschmackt werde. Das Handwerk ist die "strenge Kunst", der die eigentliche Kunsttätigkeit als "freie Kunst" gegenübergestellt wird. Jene ist wesentlich, auf diese kommt es weniger an. Die strenge Kunst schließt alle Gedankenlosigkeit und Pfuscherei aus, sie ist das eigentlich Bildende. Aber auch innerhalb der Kunst leistet nicht die einzelne geniale Individualität, sondern die Gesellschaft als Schöpferin von Form und Tradition das Entscheidende und Wichtigste. In der zum Staat erweiterten pädagogischen Provinz vertraut man den überlieferten sicheren Grundsätzen mehr, als der Genialität des Einzelnen. Man läßt der Willkür nur wenig Spielraum. Die Unumgänglichkeit der strengen Form wird auch den Kunstjüngern von vornherein durch Zwang und Autorität auferlegt. Diesem Zwang fügt sich, wie GOETHE bemerkt, das Genie sogar am leichtesten: "Was uns aber zu strengen Forderungen, zu entschiedenen Gesetzen am meisten berechtigt, ist, daß gerade das Genie, das angeborene Talent sie am ersten begreift, ihnen den willigsten Gehorsam leistet. Nur das Halbvermögen wünscht gern seine beschränkte Besonderheit an die Stelle des unbedingten Ganzen zu setzen und seine falschen Griffe unter Vorwand einer unbezwingbaren Originalität und Selbständigkeit zu beschönigen. Das lassen wir aber nicht gelten, sondern hüten unsere Schüler vor allen Mißtritten, wodurch ein großer Teil des Lebens, ja manchmal das ganze Leben verwirrt und zerpflückt wird. Mit dem Genie haben wir am liebsten zu tun; denn dieses wird eben von dem guten Geist beseelt, bald zu erkennen, was ihm nutz ist. Es begreift, daß Kunst eben darum Kunst heiße, weil sie nicht Natur ist. Es bequemt sich zum Respekt sogar vor dem, was man konventionell nennen könnte. Denn was ist dieses etwas anderes, als daß die vorzüglichsten Menschen übereinkommen, das Notwendige, das Unerläßliche für das Beste zu halten. Und gereicht es nicht überall zum Glück?" Es gibt kein ausdrucksvolleres Zeugnis für die Stellung des alten GOETHE zum Individualismus überhaupt. Aus dem Ineinandergreifen der gemeinsamen Arbeit, den Formen gemeinsamen Handelns, die sich dabei mit strenger Notwendigkeit entwickeln müssen, ergeben sich nun die Probleme des eigentlichen Staatslebens. GOETHE hat diese Fragen theoretisch wenig geklärt; es scheint, als hielte er, ganz wie später CARLYLE, die rechtlichen Formen der staatlichen Organisation für minder wichtig, als die im Leben wurzelnden, mit der Tätigkeit der Gesellschaft verknüpften, durch die Arbeit geschaffenen Zusammenhänge. er steht wohl zu der ganzen Angelegenheit ebenso wie jener Beamte, von dem es im Tagebuch LEONARDOs heißt: "Er sah die bürgerliche Gesellschaft, welcher Staatsform sie auch untergeordnet wäre, als einen Naturzustand an, der sein Gutes und sein Böses habe, seine gewöhnlichen Lebensläufe, abwechselnd reiche und kümmerliche Jahre, nicht weniger zufällig und unregelmäßig, Hagelschlag, Wasserfluten und Brandschäden. Das Gute sei zu ergreifen und zu nutzen, das Böse abzuwenden oder zu ertragen. Nichts aber, meinte er, sei wünschenswerter, als die Verbreitung des allgemeinen guten Willens, unabhängig von jeder anderen Bedingung." Durch diesen guten Willen wird der Besitz Gemeingut - nicht im Sinne kommunistischer Eigentumsordnung, sondern durch das Verantwortlichkeitsgefühl des Besitzenden. Es ist wieder, als hörte man später CARLYLE, der wichtiger als alle politischen Rechtsformen die Verbreitung eines Gemeinsamkeitsgefühls in der Gesellschaft findet. Was in den Wanderjahren über Staatsformen als solche enthalten ist, knüpft sich im ganzen wieder mehr an die Schichtung der Gesellschaft in beruflicher Hinsicht, wie gerade an die staatsrechtliche Organisation. Die Bedeutung des Grundbesitzes für die Entstehung patriotischer Gefühle, für die Festigkeit der staatsbürgerlichen Gesinnungen wird hervorgehoben, aber durch den später noch zu berührenden kosmopolitischen Zug, der durch die Wanderjahre hindurchgeht, doch auch wieder stark eingeschränkt. Die Quintessenz der Regierungsweisheit, die unter den Führern des "Bandes" in längeren Gesprächen und Verhandlungen festgesetzt wird, sind ein paar einfache Motive: Als Religion wird die christliche angenommen. Die Vorteile, die sie der Zivilisation gebracht hat, werden der heranwachsenden Jugend gezeigt; ihr Ursprung, ihre Historie wird zuletzt mitgeteilt. Abgesondert von der Religion wird die Sittenlehre; sie ist eigentlich in ein einziges Wort gefaßt: Mäßigung im Willkärlichen, Emsigkeit im Notwendigen. "Diese lakonischen Worte mag ein jeder nach seiner Art im Lebensgang benutzen, und er hat einen ergiebigen Text zu grenzenloser Ausführung." Dem Programm der Wanderjahre, ganz tätig und in der Gegenwart zu leben, entspricht es, daß auf die Zeit und ihren Wert die Aufmerksamkeit durch allerhand sinnreiche Einrichtungen beständig gelenkt wird. Für die soziale Bildung ist der Familienkreis der wesentliche, "den Hausvätern und Hausmüttern denken wir große Verpflichtungen zuzuteilen." Daneben allerdings hat eine öffentliche Erziehung gewisse Grundelemente des Wissens und der Fertigkeiten mitzuteilen, die allen gemeinsam sein und eine gewisse Gleichförmigkeit zeigen müssen. Das größte Bedürfnis des Staates ist eine mutige Obrigkeit. Hier wird bei der Einrichtung des neuen Gemeinwesens ganz empirisch verfahren. Es wird nicht zunächst ein System von Rechten und Pflichten geschaffen, sondern nur einmal eine Polizei eingerichtet, die das Recht hat, zu ermahnen, zu tadeln, zu schelten und zu beseitigen. "Wegen der Majorität", heißt es dann, "haben wir ganz eigene Gedanken. Wir lassen sie freilich gelten im notwendigen Weltlauf, im höheren Sinne haben wir aber nicht viel Zutrauen auf sei." Die Gesetze sollen milde sein, damit sie nach und nach strenger werden können. Die Strafen bestehen im Anfang in der Absonderung von der bürgerlichen Gesellschaft; später, wenn die Kolonisten erst angesiedelt sind, in Strafen am Besitz. Über die höchste Obrigkeit wird wenig gesagt; wie sie zustande kommt, welche Befugnisse ihr gegeben werden sollen, wird nicht erwähnt. Man sieht zunächst vor, daß sie, wie die mittelalterlichen Kaiser, nicht an einem Ort residieren, sondern wandern solle. "Die Hauptsache bleibt nur imer, daß wir die Vorteile der Kultur mit hinübernehmen und die Nachteile zurücklassen." Zu den Nachteilen rechnet GOETHE übrigens Branntweinschänken und Lesebibliotheken. Das Gemeinwesen, das hier skizziert ist, soll von Kolonisten in einem neuen Land verwirklicht werden, wo sie, ungebunden an Traditionen, aber doch ausgerüstet mit den Vorzügen einer älteren Kultur, das Gesunde schaffen und das Unzweckmäßige vermeiden können. In dieser Wendung des Ganzen, daß nämlich das "Band" hinauszieht in eine neue Welt, liegt der kosmopolitische Zug der Wanderjahre. Schon in der pädagogischen Provinz wird er angedeutet durch die Pflege, die dort die fremden Sprachen erfahren. Im Wanderlied wird das Motto gegeben für einen der Grundgedanken des "Bandes", daß nämlich der Mensch nicht an seine natürliche Heimat gebunden sei, sondern sich überall durch sein Wirken eine Heimat schaffen könne, da seine Heimat zusammenfalle mit seiner Tätigkeitssphäre: "Daß wir uns in ihr zerstreuen, darum ist die Welt so groß." Von diesem Gesichtspunkt aus wird der Eingeschränktheit des Weberdorfes, die erst als Ideal gegolten hat, doch das Bedenken entgegengehalten, daß dabei auf die Wirkung in die Ferne verzichtet werde. In einem weiteren Kreis werde man "mit mehr Heiterkeit und Freiheit umherschauen." LEONARDOs Rede an die Gewerke führt diesen kosmopolitischen Gedanken aus. Kein Mensch kommt zur Vollkommenheit in seinem Beruf oder Geschäft, wenn er nicht wandert. Die Tatsache, daß heute die Zustände in der ganzen Welt erforscht und überall bekannt sind, sodaß das Auswandern keine bloße Abenteuerei ist, leitet darauf hin, daß der Mensch sich in der Welt zuhause fühlen soll.
Dieser schöne Begriff von Macht und Schranken, von Willkür Und Gesetz, von Freiheit und Maß, von beweglicher Ordnung, Vorzug und Mangel erfreue dich hoch; die heilige Muse Bringt harmonisch ihn Dir, mit sanftem Zwange belehrend. Keinen höheren Begriff erringt der sittliche Denker, Keinen der tätige Mann, der dichtende Künstler; der Herrscher, Der verdient es zu sein, erfreut nur durch ihn sich der Krone." Selbstverständnlich deutet die Lebensform der Gesellschaft, in dieser Totalität aufgefaßt, kein Begriff und das Aufeinanderwirken ihrer Teile kein faßbares Gesetz. Sie kann nur ahnend ergriffen, im Anschaulichen und Konkreten erkannt werden. Kein eindeutiges Prinzip kann dem Menschen den Weg seines gesellschaftlichen Handelns zeigen. Nur soweit er vermag, sich zu einem Totalgefühl der Gesellschaft, ihres Wesens und ihres Sinnes zu erheben, wird er für sich das Problem lösen, als Individualität sozial zu sein. Und diese Lösung wird zusammenfallen mit dem Finden seines eigenen individuellen Lebensgesetzes, seiner eigenen "Form". Das ist GOETHEs Anschauung vom individuellen und sozialen Sein. Sie ist die weiteste, lebendigste, schrankenlos wie die Wirklichkeit selbst. Sie bietet für die Gestaltung der sozialen Ordnung kein materiales, d. h. inhaltlich irgendwie erfülltes, sondern nur ein formales Regulativ. Sie schreibt nichts Einzelnes vor. Von ihr gilt es: Wenn Ihr's nicht fühlt, Ihr werdet's nicht erjagen. Sie hat ihre Existenz in der Anschauungskraft der künstlerischen Phantasie. Ihre Bedeutung liegt nicht darin, daß sie mächtige Anstöße zur Bekämpfung mächtiger Widerstände gibt, sondern darin, daß sie über allen Verzerrungen und Übersteigerungen, die kämpfende Ideen erfahren, ein reines Bild des Lebens in seiner Totalität und Gesetzmäßigkeit, in rätselvollen und doch so unerschütterlichen Ineinander seiner Kräfte aufrichtet. Für die Darstellung des humanen Individualismus bei SCHILLER und HUMBOLDT an dieser Stelle erhebt sich eine Schwierigkeit. Sie fußen beide zum Teil auf den Voraussetzungen der Kantischen Philosophie und sind historisch ohne sie nicht denkbar. Trotzdem ist ihre innere Zugehörigkeit zum Lebensgefühl HERDERs und GOETHEs so entscheidend, daß sie hier, und nicht an den ethischen Individualismus angeschlossen werden müssen. So muß hier so viel von KANT vorweggenommen werden, als zum Verständnis SCHILLERs und HUMBOLDTs unerläßlich ist. Soviel, daß wir uns deuten können, warum wir, von HERDER und GOETHE kommend, bei SCHILLER und HUMBOLDT uns gleichsam in ein anderes Klima versetzt fühlen. Diese neue geistige Atmosphäre, in der dieselben Dinge wie unter einem anderen Himmel stehen, schafft die Nähe KANTs. SCHILLER und HUMBOLDT sind "Kantianer" hinsichtlich ihrer philosophischen Bildung, aber nicht in den innersten Antrieben ihrer Lebensdeutung. Einige Grundsätze der Kantischen Philosophie bestimmen den Aufriß der systematischen Fassung ihrer Anschauungen, die wissenschaftliche Zone, in der sich die Aussprache ihrer Weltanschauung vollzieht, Grad und Art der philosophischen Stilisierung ihrer Gedanken. Die entscheidende dieser Grundannahmen ist der Erscheinungscharakter der Wirklichkeit, die uns nicht anders als in den Formen unserer Anschauung gegeben ist und in den Formen des Denkens verarbeitet wird, oder umgekehrt die Begrenzung der Erkenntniskraft des Denkens auf den Kreis der menschlichen Erfahrung. Darin liegt für das Subjekt zugleich eine Demütigung und eine Erhebung. Eine Demütigung, sofern dem Denken die Fähigkeit, die Realität zu erfassen, ein für allemal abgesprochen wird. Eine Erhebung, weil die Bedingungen der Wahrheit, d. h. der Objektivität, Notwendigkeit, Allgemeingültigkeit der Erkenntnis ins Subjekt selbst verlegt werden. Und wenn durch die unüberbrückbare Kluft zwischen Subjekt und Objekt, oder "Ding ansich", der Mensch als erkennendes Wesen von der absoluten Realität, der "intelligiblen Welt", ewig ausgeschlossen ist, so erwächst ihm doch ein Ausgleich in einem anderen: in seinem sittlichen Bewußtsein hat er an ihr Teil. Seine "praktische Vernunft" durchbricht die der theoretischen Vernunft gesetzten Schranken; im "Pflichtbegriff" zeigt sich der Mensch frei von aller Verstrickung in die Welt der naturgeschichtlichen Kausalität. Im Vermögen, ein "Sollen" zu empfinden, das nicht aus der Erfahrung abgeleitet ist, sondern dessen Wesen darin besteht, ihr übergeordnet zu sein, erhebt sich der Mensch selbst zur Würde einer letzten Ursache. Das Bewußtsein, daß wir selbst Ursache unserer Handlungen sind, d. h. daß wir als sittliche Menschen das Prinzip einer neuen Kausalreihe in jedem Augenblick setzen können, fällt zusammen mit dem Begriff der Freiheit, dem Zentralbegriff der Kantischen Moralphilosophie. Und so zerreißt die Kluft, die auf dem Gebiet der Erkenntnis zwischen Ding ansich und Subjekt besteht, in der Welt des Handelns den Menschen selbst in zwei einander unversöhnlich gegenüberstehende Mächte: Vernunft und Sinnlichkeit, Pflicht und Neigung. Bedingungslos fällt der Wertakzent auf Vernunft und Pflicht, ihr Sieg über Sinnlichkeit und Neigung ist das höchste menschliche Ziel. Das sind - in der Sphäre der Gedanken, mit denen wir es hier vorwiegend zu tun haben - die Voraussetzungen, unter denen SCHILLERs schöpferische Mitarbeit an der "sozialen Idee" allein begriffen werden kann. Es kann vielerlei zusammen, um den Befreiungskampf, in dem SCHILLER sich mit der alten Zeit auseinandersetzte, von vornherein viel entschiedener als bei einem anderen Vertreter der revolutionären Jugend auf das politisch-soziale Gebiet zu verlegen. In eigentümlicher Verbindung finden sich in ihm Gedanke und Gefühl, Phantasie und sittliches Pathos: die Erregbarkeit des Gefühls durch den Gedanken, durch den "großen Gegenstand", der Phantasie durch die sittliche Leidenschaft und den Enthusiasmus der praktischen Idee - dieselben Anlagen, die ihn auf die Gedankenlyrik und das von der sittlichen Idee bewegte Drama verweisen - richten seine Sehnsucht auf die praktische Verwirklichung der idealen Werte in einer neuen Menschheit. Die Energie dieser inneren Bestimmtheit wird erhöht und durch realistische Elemente verschärft aus SCHILLERs Lebensumständen heraus. Er entstammt einer Schicht des Kleinbürgertums, in der sich Enge und Mühseligkeit der Verhältnisse mit bürokratischer Abhängigkeit verbindet, einem Land, in dem die Willkür des despotischen Regiments noch mehr als anderswo den Untertanen in Atem hielt. Er verlebt die Zeit des geistigen Erwachens in einer Anstalt, wo gleiches Schicksal die gleichen Ausweitungsinstinkte vieler in die gleichen drückenden Schranken fesselt. Hier drängt ganz von selbst das individuelle Leiden zur sozialen Formulierung; der Gegensatz eines neuen Lebensgefühls mit der mächtigen Tradition verwirklicht sich im Kampf des Individuums gegen die Herrschaft der bestehenden Gesellschaft, gegen Gesetz, Ordnung, Konvention. Der Anstoß, den SCHILLERs Lebensanschauung aus dieser Situation seiner Jugendzeit bekam, zieht seine Kreise bis in seine letzten und reifsten Äußerungen über Individuum und Gesellschaft. Wie dem Mädchen in der schönen Ballade von CONRAD FERDINAND MEYER König ENZIOs Gefängnisgitter das Kreuzzeichen in die Stirn preßt - "Außen wich das Zeichen; aber innen Blieb's, da ich zur Maid erwuchs, geschrieben" - so ist SCHILLERs Weltanschauung durch seine Jugend gezeichnet. Dieses Zeichen ist die dualistische Grundstimmung seiner Weltanschauung, die aus dieser tiefgehenden, langnachzitternden Erfahrung vom "Widerstand der stumpfen Welt" lebenslang Nahrung zog, - und das politische und soziale Pathos seiner Ethik. "Ich habe nun einmal das Unglück, mir jede in die Augen fallende Anstalt in Bezug auf die Glückseligkeit des Ganzen zu denken" - dieses unwillkürliche Bekenntnis einer Leidensfähigkeit am Sozialen darf als Selbstzeugnis aufgefaßt werden. In einer letzten abgeschlossenen und vollendeten Form findet sich die soziale Idee SCHILLERs in den "Briefen über die Erziehung des Menschengeschlechts." Was er positiv für die Entwicklung der sozialen Idee bedeutet, der Schritt, den er über das von seiner Zeit gewonnene Terrain hinausgetan hat, ist mit dieser Schrift gegeben. Ein vollkommen anderer Weg hat SCHILLER dorthin geführt, als der den reifenden GOETHE zur Gesellschaftsauffassung der Wanderjahre leitete. Bei GOETHE wächst aus der blühenden Fülle, der zunächst schrankenlosen Vielheit der Erscheinungen die Form allmählich und unmerklich heraus - die Idee ist Lebensgewinn; in der Welt, die sein Geist sich zu eigen macht, bestimmen sich zwanglos und selbstverständlich die Linien der Ideen; durch eine Auslese, bei der das Einzelne verblaßt und zurücktritt, das Bleibende und Gemeinsame sich immer deutlicher betont. So gestaltet sich ihm aus der Fülle seines Lebens zuerst die Idee der Persönlichkeit, und die Reife der Zeit schränkt dann ohne Krisen und Konvulsionen diese Idee zu den Maßen ein, durch die sie mit der Idee der Gesellschaft versöhnbar ist. Immer aber bleibt die abstrakte Form ein beweglicher und elastischer Ausdruck für die Vielfalt der Wirklichkeit. Bei SCHILLER ist die Verbindung von Idee und Leben, Einheit und Mannigfaltigkeit, Form und Stoff eine ganz andere, geradezu umgekehrt. SCHILLER bedarf der Idee, um sich das Leben zu erschließen, sie ist das Tor, durch welche er das Leben zu sich hereinläßt. oder das Gefäß, in dem er es auffängt. Die philosophische oder moralistische Deutung greift bei ihm bestimmend und einschränkend dem Eindruck vor: "Ein erhab'ner Sinn legt das Große in das Leben, doch er sucht es nicht darin." Und während sich bei GOETHE die Mannigfaltigkeit des Lebens allmählich zur Idee zusammenfaßt, weitet und belebt sich bei SCHILLER die ursprünglich starre Idee durch das Leben, dessen Reichtum und Vielseitigkeit ihm aufgeht. GOETHE führt der Weg von der Mannigfaltigkeit zur Einheit, SCHILLER lernt differenzieren. Es ist genau so, wie er an GOETHE schreibt." Sie bestreben sich, Ihre große Ideenwelt zu simplifizieren, ich suche Varietät für meine kleinen Besitzungen." Für den jugendliche SCHILLER ist Persönlichkeit nichts weiter als ein strukturloses Stück Freiheit - Gesellschaft ein Gefängnis. Der "natürliche Mensch" ROUSSEAUs, der keine persönliche Physiognomie hat, steckt, je nachdem er seine sentimentale oder seine revolutionäre Rolle spielen soll, im Kostüm des KARL MOOR oder des FERDINAND. Dabei erscheint die Gesellschaft mächtiger und wichtiger als etwa im Werther. Der Einzelne kann ihr nicht entgehen, kein privates Glück vor ihr retten. Er dürfte das auch nicht. Er zieht nicht in das Bauernhaus von Garbenheim, um Mensch zu sein, sondern in die böhmischen Wälder, um Krieg gegen das tintenklecksende Säkulum [Weltliches - wp] zu führen. SCHILLERs Intellektualität konnte im ROUSSEAUschen Kulturnihilismus nicht stehen bleiben. In den "philosophischen Briefen" zwischen RAPHAEL und JULIUS findet er den Weg aus dem Pantheismus des Gefühls zur Würdigung der persönlich bewußten Lebensgestaltung: "Der Kopf muß das Herz bilden" - "laßt uns helle denken, so werden wir feurig lieben" - so zeichnet die Vernunft den ersten Umriß um das grenzenlose Reich des Herzens. Nicht schrankenloses, zerfließendes Schweifen des Gefühls in alle Weiten des Himmels und der Erde, gefühlsmäßiger Genuß des Ganzen, sondern "das Gepräge der Vollendung in der kleinsten Sphäre" heißt die Aufgabe. Vermöge seiner Freiheit ist der Mensch in seiner Sphäre Schöpfer, in dem Kreis, den seine Vernunft beherrschaft und gestaltet. Darum fordert Marquis POSA "Gedankenfreiheit" als erstes Pfand einer besseren Zukunft. Mit der individuellen Lebensaufgabe gewinnt auch die soziale Form und Festigkeit. Dem schwärmerischen JULIUS, der sich im vagen Gefühl der das All durchwaltenden Liebe den Brüdern verbunden fült, tritt RAPHAEL Marquis POSA gegenüber. Deutlich zeigt die Bedeutung dieser Gestalt in SCHILLERs Bildungsgeschichte der dritte Brief über den DON CARLOS:
Verlornen Adel wieder her. Der Bürger Sei wiederum, was er zuvor gewesen, Der Krone Zweck, ihn binde keine Pflicht Als seiner Brüder gleichwürd'ge Rechte Der Landmann rühme sich des Pflugs und gönne Dem König, der nicht Landmann ist, die Krone. In seiner Werkstatt träume sich der Künstler Zum Bildner einer schöner'n Welt. Den Flug Des Denkers hemme keine Schranke mehr Als die Beendigung endlicher Naturen." Und doch erwachen dem Denker, der dem Phantom des ROUSSEAUschen Naturmenschen entsagt hat, der nicht mehr glaubt, ihn in jeder Brust als die Stimme der Menschheit selbst allzeit wieder zum Sprechen bringen zu können, schon bald leise Zweifel an der Möglichkeit einer Volkskunst. Denn woran HERDER glaubte und was GOETHE verwirklichte - die künstlerische Aussprache des gleichen primitiven Elementarlebens der Seele - das war auf dem Boden des rationalen Kulturbegriffs, den SCHILLER vertrat, nicht mehr selbstverständlich: "Jetzt ist zwischen der Auswahl einer Nation und der Masse derselben ein sehr großer Abstand sichtbar, wovon die Ursache zum Teil schon darin liegt, daß Aufklärung der Begriffe und sittliche Veredelung ein zusammenhängendes Ganzes ausmachen, mit dessen Bruchstücken nichts gewonnen wird. Außer diesem Kulturunterschied ist es noch die Konvenienz, welche die Glieder der Nation in der Empfindungsart und im Ausdruck der Empfindung einander so äußerst unähnlich macht. Es würde daher umsonst sein, willkürlich in einen Begriff zusammenzuwerfen, was längst schon keine Einheit mehr ist." Und wenn SCHILLER trotz dieser Skepsis am Ideal des Volksdichters festhält, so sieht er doch (in der Rezension der BÜRGERschen Gedichte, in der diese Gedanken ausgeführt werden) in ihm rationalistisch den "aufgeklärten, verfeinerten Wortführer der Volksgefühle", der den hervorströmenden Affekten "einen reineren und geistreicheren Text unterlegt, und ihren rohen, gestaltlosen, oft tierischen Ausbruch noch auf den Lippen des Volkes veredelt." Die gebildet, in die Sphäre des Ideals erhobene Individualität bietet schon hier den Maßstab, nach dem der Dichter beurteilt, nach dem in diesem Fall BÜRGER abgelehnt wird. Deutlich sind schon jetzt die beiden entscheidenden Elemente in SCHILLERs Auffassung der Persönlichkeit und ihrer Wirkung entfaltet und erkennbar: ihr sittlich-rationaler Kern, der das Allgemeine, das Menschliche in ihr ist, und ihr Eigenbesitz, der sie zur Individualität macht. In der Zeit der endgültigen Gestaltung seiner Anschauungen werden nun diese beiden Ansätze gleichzeitig durch einen doppelten Einfluß zur reichsten Entfaltung gebracht: das sittlich-rationale Element durch KANT, das andere durch GOETHE. Die Beschäftigung mit KANT festigt und klärt in SCHILLER das rationale Element seines Selbstbewußtseins und seiner Persönlichkeitsauffassung zu einem unverlierbaren und unerschütterlichen Fundament seiner Weltanschauung. Die Kantische Philosophie duldet keine Willkür und "Akkomodation" [Anpassung - wp], sie "reserviert dem Privatgefühl nicht." Ihre Fundamente werden vom Gesetz der geschichtlichen Veränderung nichts zu fürchten haben, "denn so alt das Menschengeschlecht ist, und so lange es eine Vernunft gibt, hat man sie stillschweigend anerkannt und im ganzen danach gehandelt." In diesen Worten SCHILLERs ist das ausgesprochen, was seit seinen Kantstudien Antrieb allen philosophischen Nachdenkens in ihm war: alle Werte seines Lebens vor der Kantischen Philosophie zu rechtfertigen. Der höchste Wert aber, den er kannte, was die Kunst und der Künstler. Die eben angeführten Bemerkungen über die Kantische Philosophie aus einem Brief SCHILLERs an GOETHE beziehen sich auf die "Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen." Bei der Übersendung des ersten Teils der Briefe an GOETHE sagt SCHILLER: "Sie werden in diesen Briefen Ihr Porträt finden - ich weiß, daß ich es gut gefaßt und treffend genug gezeichnet habe." In den Briefen über die ästhetische Erziehung also vereinigt SCHILLER die beiden großen Tendenzen der Zeit: GOETHE und KANT. Die Form, in der es geschieht, diktiert ihm ein dritter gewaltiger Faktor: die französische Revolution. SCHILLER hat ursprünglich eine rein ästhetische Untersuchung schreiben wollen. Aber: "ich habe nun einmal das Unglück, mir jede in die Augen fallende Anstalt in Beziehung auf die Glückseligkeit des Ganzen zu denken" - das Bedürfnis seines politisch-sozialen Gewissens, ästhetische Interessen in geschichtlich bewegter Zeit zu rechtfertigen, drängt ihn zu einer Vorrede über die soziale Bedeutung der Kunst, und unversehens weiten sich diese als Vorrede gedachten Gedanken zum eigentlichen Inhalt des Buches. "Ich habe über den politischen Jammer", so schreibt er in dem schon erwähnten Brief an GOETHE, "noch nie eine Feder angesetzt, und was ich in diesen Briefen davon sagte, geschah bloß, um in alle Ewigkeit nichts mehr davon zu sagen; aber ich glaube, daß das Bekenntnis, das ich darin ablege, nicht ganz überflüssig ist. So verschieden die Werkzeuge auch sind, mit denen Sie und ich die Welt anfassen, so verschieden die offensiven und defensiven Waffen, die wir führen, so glaube ich doch, daß wir auf einen Hauptpunkt zielen." In den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen also haben wir nach diesen Worten - und Schiller ist ihnen treu geblieben - die endgültige Äußerung SCHILLERs über Persönlichkeit, Kultur und Gesellschaft zu sehen. Ein politisches Problem, so betont SCHILLER gleich zu Anfang, ist es, das er behandeln will. Nur in ihrer politischen Bedeutung sieht er die Rechtfertigung, ästhetische Fragen zur Sprache zu bringen, da doch die Zeitumstände nachdrücklich dazu auffordern, sich mit dem Bau einer wahren politischen Freiheit, dem vollkommensten aller Kunstwerke, zu beschäftigen. Man ist Zeitbürger so gut wie man Staatsbürger ist, und man hat darum die Pflicht, an den Aufgaben mitzuarbeiten, an denen die Gegenwart sich müht. Darf man ästhetischen Untersuchungen nachgehen, während in Frankreich der große Rechtshandelt zwischen Volk und Regierung ausgetragen wird - jener tief bedeutsame Versuch, das blinde Recht des Stärkeren im Staatsleben durch das Gesetz der Vernunft zu ersetzen? Und doch wagt der Künstler angesichts solcher Ereignisse seine Stimme zu erheben und von dem zu reden, was ihm wertvoll dünkt, - er wagt es, weil er überzeugt ist, daß man das politische Problem nur auf dem Weg über das ästhetische lösen kann, weil der Weg zur Freiheit durch die Schönheit geht. Warum ist die französische Revolution gescheitert? SCHILLER beantwortet diese Frage durch eine philosophische Deutung des Vorgangs, der ihr zugrunde liegt. Dieser Vorgang besteht darin, daß das unbedingte, überzeitliche und absolute sittliche Urteil des Menschen den politischen Zuständen gegenübertritt, die durch Willkür, Gewalt und Leidenschaften, Schrankenlosigkeit und Verwirrung mannigfach entstellt sind. Dem "Notstaat", dessen Form im Kampf der irrationalen Macht mit der sinnlosen Unbotmäßigkeit geprägt wurde, dessen Wesen Herrschaft ohne Weisheit, Zwang ohne Maß, Gesetz ohne Gerechtigkeit ist, stellt das sittliche Bewußtsein den "Vernunftstaat" entgegen, den gesellschaftlichen Zustand, in dem den unbedingten Forderungen des Sittengesetzes Genügte getan wird. In dieser Beurteilung des Gegebenen nach dem Maßstab des Seinsollenden, und in der Aufrichtung eines praktischen Ideals für den Staat darf und soll sich die Vernunft vor den gegebenen Zuständen, vor dem historisch Gewordenen nicht beugen. Sie darf verlangen, daß sich im Staat alles dem höchsten sittlichen Endzweck unterordne. Auf diese Art entsteht und rechtfertigt sich der Versuch eines mündig gewordenen Volkes, seinen "Notstaat" in einen sittlichen umzuformen. Dabei muß aber ein unlösliches Problem entstehen. Der Idealstaat rechnet nur mit dem durch die Vernunft beherrschten Menschen - der historische Staat aber erfüllt die Aufgabe, den sinnlichen Menschen, ungezügelte Leidenschaften, trübe Geistigkeit, dumpfen Egoismus bei Herrschenden und Beherrschten notdürftig und ganz opportunistischt den Anforderungen des Gemeinschaftslebens zu unterwerfen. Nun ist aber dieser physische Mensch, auf den der historische Staat eingerichtet ist, wirklich, der sittliche Mensch, dem der Vernunftstaat Genüge tun soll, doch nur problematisch (d. h. möglich - oder: als Aufgabe, als Ziel gestellt). Es heißt also bei einem solchen Versuch, die Existenz der Gesellschaft wagen an ein nur mögliches Ideal der Gesellschaft. "Ehe der Mensch Zeit gehabt hat, sich mit seinem Willen am Gesetz festzuhalten, reißt man die Leiter der Natur unter seinen Füßen weg." Die Aufgabe einer staatlichen Reform gleicht der Aufgabe, ein Uhrwerk zu reparieren, während es in Gang ist. Es muß also, indem man den Naturstaat beseitigt, um den Vernunftstaat zu schaffen, für die Fortdauer der Gesellschaft eine Stütze geschaffen werden. Diese Stütze kann weder im gegebenen Charakter des Menschen liegen, noch in seiner Vernunft, die ja doch erst gebildet werden soll. Unversöhnlich steht die "ideale Forderung", die ja keinen Kompromiß dulden darf, der unreinen Wirklichkeit gegenüber, in die jeder Mensch verflochten ist, und an die er sein besseres Teil hundertmal verliert und verrät "in steter Notwehr gegen List und Trug." Es käme also darauf an, "dem physischen Charakter die Willkür zu nehmen und dem moralischen die Freiheit." SCHILLER will damit sagen, es käme darauf an, die physische Natur des Menschen mit einem Instinkt für das gesellschaftlich Notwendige zu durchdringen und andererseits seine Vernunft mit einer gewissen Fühlung für das Wirkliche und in der Zeit Gegebene auszustatten. Es käme darauf an, einen dritten Charakter zu erzeugen, der den Übergang von der Herrschaft bloßer Kräfte zur Herrschaft der Gesetze bahnte und, wie SCHILLER es ausdrückt, "zu einem sinnlichen Pfand der unsichtbaren Sittlichkeit diente." Im Menschen selbst also muß zuvor jene Versöhnung zwischen Kräften und Gesetzen geschaffen werden, die den idealen Staat erst möglich macht. Die Aufgabe ist gestellt. Wie ist sie zu lösen? Augenscheinlich gibt es zwei Wege, den empirischen, sinnlichen Menschen mit dem reinen, normativen Menschen, oder, was dasselbe ist, das Individuum mit dem Staat in Übereinstimmung zu bringen. Entweder der empirische Mensch in der Mannigfaltigkeit seiner lebendigen Kräfte wird vom normativen mit Gewalt unterdrückt, unter dem Gesetz einer unterschiedslosen sittlichen Norm um seine individuelle Vielfalt gebracht - oder aber es gelingt, den empirischen Menschen zum Idealmenschen zu erhöhen. In der Sphäre des Staatslebens lauten die beiden Möglichkeiten: Aufhebung der Individuen durch den Staat, Untergehen und Verschwinden aller individuellen, ungebundenen Kraft im Staat - oder selbsttätige Erweiterung des Individuums zum Staat. Im einen Fall waltet das Reich der Sitte wie die Sense des Schnitters im Reich der natürlichen bunten Mannigfaltigkeit des Lebens. Das aber darf nicht sein, weil nicht der Staat als solcher, sondern jeder einzelne Bürger der Träger des höchsten Gutes ist, dessen Verwirklichung Zweck des Staates ist. Der lebendige Stoff, mit dem der Pädagoge und der Politiker zu tun haben, erträgt keine Vergewaltigung. Nur weil der Staat dem Individuum dient, darf verlangt werden, daß das Individuum dem Staat diene. Der Staat muß Eigentümlichkeit und Persönlichkeit schonen; darum darf er sich nicht auf einem Weg verwirklichen, der die Mannigfaltigkeit zerstört und aufhebt, daß er die Individuen unterdrückt und in seine Form preßt; er darf sich nur dadurch verwirklichen, daß die Einzelnen in sich die Idee des Ganzen entfalten. "Der Mensch muß auch bei der höchsten Universalisierung seines Betragens seine Eigentümlichkeit retten, und der Staat darf nur der Ausleger seiner schönen Instinkte, die deutlichere Formel seiner inneren Gesetzgebung sein. Wenn in einem Volk der subjektive Mensch dem im Staat repräsentierten objektiven Menschen so stark entgegengesetzt ist, daß sich der Staat nur durch Unterdrückung den Sieg verschaffen kann, so wird eben Gewalt das Wesen des Staates bilden müssen. Es bleibt also nur der zweite Weg, daß im Menschen selbst der Ausgleich zwischen Kraft und Gesetz gefunden wird, daß er für sich die "siegende Form" findet, die gleich weit ist von Einförmigkeit und Verwirrung, daß er in sich eine Totalität des Charakters herstellt. Daß diese Forderung nicht die Utopie eines Schwärmers ist, sondern im geschichtlichen Leben der Menschheit erfüllt werden kann, zeigt das Beispiel der Griechen. Hier haben wir die Entwicklung eines Volkes, in dem sich das Individuum eben durch den Erwerb jener Totalität des Charakters zum Staatsbürger veredelte. Bei den Griechen stellte jedes Individuum den Typus der nationalen Ganzheit in sich dar. Der moderne Mensch - hier ist der letzte Grund seiner Disproportion - hat den Lebenszusammenhang mit dem Ganzen verloren. Deutlicher als ROUSSEAU empfindet SCHILLER die Kulturbedeutung der sozialen Arbeitsteilung, erkennt er, daß die Differenzierung das Wesen der Kultur ist. Ihr Einfluß auf die Persönlichkeit muß zunächst zerstörend sein. "Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Menschen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus. Ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohr, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens, und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zu einem Abdruck seines Geschäftes, seiner Wissenschaft." Seine Pflicht gegen das Ganze kann er nicht aus sich selbst finden. Da er das Ganze nicht mehr übersehen kann, sondern sie muß ihm vorgeschrieben werden. So ist im modernen sozialen Leben nur noch dem außergewöhnlichen Menschen eine Art Totalität und Harmonie möglich. Das einzelne konkrete Leben wird vertilgt, damit das abstrakte Ganze sein dürftiges Dasein friste. Die Regierung verliert den lebendigen Menschen mit seinen Ansprüchen und Bedürfnissen aus dem Auge und setzt an seine Stelle notwendig den Typus des Berufs- und Lebenskreises, dem er angehört. Die öffentliche Macht wird auf diese Weise nur eine Partei mehr; sie ist nicht mehr, was sie sein sollte, die über allen waltende Zusammenfassung aller Interessen. So kommt es, daß einerseits der spekulative Geist sich ein Ideenreich bildet, das der Wirklichkeit fernsteht, daß andererseits der Wirklichkeitssinn das Ganze nach dem beschränkten Kreis seiner eigenen Erfahrungen beurteilt. SCHILLER gibt zu, daß diese Entwicklung notwendig ist, daß der Totalität, wie sie bei den Griechen bestand, eine neue Zersplitterung folgen mußte, damit die Gattung die Fortschritte machte, die sie machen mußte. Um die mannigfaltigen Anlangen im Menschen zu entwickeln, gibt es kein anderes Mittel als Differenzierung; aber diese Differenzierung darf eben nur als Mittel, als ein Instrument der Kultur betrachtet werden. Dieses Mittel wirkt in der Richtung, daß die einseitige Ausbildung der einen Kraft immer die der anderen herausfordert. Die Leistungen, wie sie in KANTs Kritik der reinen Vernunft vorliegen, können nur durch eine einseitige Betätigung der Vernunft erzielt werden. Aber ein Geist, der sich in dieser Einseitigkeit ausgebildet hat, wird niemals imstande sein können, "die Individualität der Dinge in treuem und keuschem Sinn zu ergreifen." Die Individuen also leiden unter diesem Fluch des Weltzweckes. Wir erzielen zwar außerordentliche, aber keine vollkommenen Menschen. "Man bewundert, was sie tun, man verachtet, was sie sind" - wie HUMBOLDT einmal in einem gleichen Gedankengang sagt. Kein Mensch aber, keine Generation kann dazu bestimmt sein, über irgendeinen Zweck sich selbst zu versäumen. Es muß also ein Mittel geben, die Totalität, die von der Kulturentwicklung zerstört ist, durch eine höhere Kultur wiederherzustellen. Dieses Mittel, damit kommt SCHILLER zum entscheidenden Resultat, ist die Kunst. Sie ist durch ihr Wesen selbst der Macht der Zeit entzogen. Unabhängig von den Unvollkommenheiten staatlicher Organisation und moralischer Kultur, nimmt der Künstler seine Form aus der absoluten, unwandelbaren Einheit seines Wesens. "Hier, aus dem reinen Äther seiner dämonischen Natur, rinnt die Quelle der Schönheit herab, unangesteckt von der Verderbnis der Zeiten". Hier quillt eine unerschöpfliche und niemals zu trübende regenerative Kraft, die alle Idealität immer wieder neu macht. Auf diesen zuversichtlichen Glauben an die zeitlose Ursprünglichkeit des Genies, das sozusagen ursachlos wie die sittliche Idee selbst aus dem Schoß der ewigen Realitäten in die Zeit hineingeboren wird, bezieht sich wohl hauptsächlich jene Stelle des Briefes an GOETHE, in der SCHILLER sein Werk als GOETHEs Porträt bezeichnet. In etwas umständlicher Terminologie versucht nun SCHILLER diesen Heilungsprozeß den seelischen Vorgang der ästhetischen Erziehung - zu exponieren. Er entwickelt damit zugleich seine Persönlichkeitsidee. Zweierlei Kräfte machen das menschliche Wesen aus, die Summe der einen, der sinnliche Trieb, geht aus auf Fülle des Erlebnisses, Mannigfaltigkeit der Eindrücke; er trachtet, um es mit dem in Sehnsucht jubelnden Bekenntnis des jungen GOETHE zu sagen:
Alles Meergestad' und alle Träume In sein Herz zu sammeln miteinander. Und nun ergibt sich die soziale Wendung von selbst. In der Erziehung der Menschheit ist die Kunst das eigentliche Mittel. Wie sie einst den Menschen von der Macht der Materie befreite, so stellt sie jederzeit in ihm die Totalität des Charakters, das Gleichgewicht der Kräfte wieder her; sie entrückt ihn dem Kampf seiner beiden Naturen in einen Zustand, der seiner Unschuld vor dem Sündenfall gleich ist: einer "erfüllten Bestimmbarkeit", aus der er immer wieder gleichsam als ein neugeschaffener Mensch in seinen Lebenskampf hinausgeht. Indem der Mensch das Bedürfnis des schönen Scheins in sich entwickelt, befreit er sich vom materiellen, egoistischen Interesse an den Dingen. Er wird dadurch, daß er aus seinem Handeln die reelle Zweckmäßigkeit entfernt, sozusagen Idealist: er setzt die Form über die Wirklichkeit. "Mitten im furchtbaren Reich der Kräfte", sagt SCHILLER, "und mitten im heiligen Reich der Gesetze baut der ästhetische Bildungstrieb unvermerkt an einem dritten fröhlichen Reich des Spiels und des Scheins, worin er dem Menschen die Fesseln aller Verhältnisse abnimmt und ihn von allem, was Zwang heißt, sowohl im Physischen als im Moralischen, entbindet. Wenn im dynamischen Staat der Rechte der Mensch dem Menschen als Kraft begegnet und sein Wirken beschränkt, wenn er sich ihm im ethischen Staat der Pflichten mit der Majestät des Gesetzes entgegenstellt und sein Wollen fesselt, so darf er ihm im Kreise des schönen Umgangs, im ästhetischen Staat, nur als Gestalt erscheinen, nur als Objekt des freien Spiels gegenüberstehen. Das praktische Bedürfnis zwingt den Menschen zur Gemeinschaft mit seinesgleichen. Die Vernunft pflanzt gesellige Grundsätze in ihn. Die Schönheit erteilt ihm einen geselligen Charakter." Und dadurch, daß diese Harmonie zuvor im Individuum hergestellt wird, kann sie weiterhin auch in der Gesellschaft entstehen. In der Kunst ist der Gegensatz von Individuum und Gattung aufgehoben. Sie ist das absolut Soziale und zugleich das absolut Individuelle. Was hat die soziale Idee im Rahmen des humanen Individualismus durch diese Schrift gewonnen? Vor allem, daß die Tatsachen des sittlichen Selbstbewußtseins ihrem vollen Gewicht nach in diesen Rahmen eingestellt werden. In HERDERs Auffassung persönlicher und sozialer Entwicklung bestand die Undeutlichkeit, daß zwar ein positives sittliches Gut als Ziel und Maßstab dieser Entwicklung eingesetzt wurde, die Humanität, daß aber im unklaren blieb, kraft welcher Organe der Mensch eigentlich imstande sei, dieses Ziel zu antizipieren, diesen höchsten Begriff der Vollkommenheit zu erschaffen, ehe sie verwirklicht war. HERDER hatte nicht beachtet, daß die "Humanität", von der er sprach, nicht ein objektives Ergebnis einer wirklichen Entwicklung, sondern vielmehr eine regulative Idee war, von ihm selbst geschaffen als Maßstab für die Beurteilung der Vergangenheit, als Richtschnur für die Gestaltung der Zukunft. Die Betrachtung des Menschen, in dem und durch den die Kultur wird, bedurfte der Ergänzung durch die Betrachtung des Menschen, der die Kultur schafft. Die Form, in der diese Entwicklung der Kultur durch das Selbstbewußtsein des Menschen hindurch geht, - die Voraussetzungen, von denen aus der Mensch nicht nur das Ergebnis der Vergangenheit, sondern zugleich das gestaltende Prinzip der Zukunft ist, - das Vermögen, kraft dessen er die Kultur über ihren Bestand hinaustreibt, das alles bleibt bei HERDER im Unklaren. Und darum erscheint auch die Gesellschaft nicht als ein Willens verhältnis, sondern naturalistische, als eine bewußter Beherrschung entzogene Symbiose. SCHILLER nun war durch die Kantische Philosophie auf den Boden zurückgeführt, den HERDER absichtsvoll verlassen hatte, auf den Boden einer normativen Betrachtung der Kultur. Ihm war durch KANT die Notwendigkeit, das Recht und die Erhabenheit dieser normativen Betrachtung unumstößlich geworden. Ebenso unumstößlich aber war ihm der Wert der durch Sinnenkraft und Lebensdrang reichen Persönlichkeit, das durch HERDER und GOETHE gewonnene Ideal des humanen Individualismus. Für ihn besteht also die Aufgabe darin, das normative Vermögen des Menschen, seine Freiheit, gegen jene unbewußte naive Schönheit des Seins zu behaupten, deren Zauber niemand so tief empfunden hat als SCHILLER, und umgekehrt seine Freude an dieser Schönheit zu rechtfertigen vor der Vernunft. Im Ergebnis dieses Versuchs zeigen sich nun freilich deutlich die Schranken von SCHILLERs Natur: jene Schranken, über die er sich GOETHE gegenüber so schöne und einfach ausspricht: "Sie haben ein Königreich zu regieren, ich nur eine etwas zahlreiche Familie von Begriffen, die ich herzlich gern zu einer kleinen Welt erweitern möchte." Er hat den unfaßbaren, ewig sich wandelnden Reichtum der Erscheinungen, den HERDER und GOETHE sich begnügten, in unbestimmten, aber dafür beweglichen und elastischen Konturen zu erfassen, in festumgrenzte Begriffe gezwungen. Es sind eigentlich nur diese: Sinnlichkeit - Vernunft, und die gesellschaftlichen Korrelate: Individuum - Staat. Staat, nicht Gesellschaft. Einfach deshalb, weil der Staat, der Idealstaat, nur aus Vernunft besteht, durch Vernunft gebildet wird, uns sein Bürger nicht der Mensch, sondern die Vernunfteinheit ist. Der Staat ist die vollkommene Darstellung der menschlichen Vernunft und nur dieser. Ein Gebilde der normativen Ethik. Der sinnliche Mensch gehört ihm überhaupt nicht an, denn er muß überwunden, vom Vernunftmenschen aufgesogen, jedenfalls als solcher in irgendeiner Weise ausgelöscht werden, damit der Rechtsstaat entstehen kann. Damit ist eine scharfe Scheidung der Begriffe Staat und Gesellschaft gewonnen, die bei HERDER und GOETHE ineinander fließen. Die Gesellschaft ist die ganze Summe der freiwilligen Beziehungen der Menschen zueinander, des ungeregelten, spontanen Lebensaustausches. Sie tritt zwischen Individuum und Staat als die Zone, in der das Individuum für den Staat erzogen wird. Der Idealstaat könnte erst dann als Norm ausgesprochen, als Gesetz proklamiert werden, wenn die Gesellschaft den Idealbürger aus sich heraus erzeugt hat. Hier aber, in der Gesellschaft, erscheint das Reich der Sitten nicht mit der starren Autorität des Gesetzes, sondern im Glanz der moralischen Schönheit. Darin liegt die soziale Bedeutung der Kunst. Sie macht großmütig, loyal, überpersönlich, aufopferungsfähig. Sie erhebt den Menschen aus der häßlichen Enge, in die aller materielle Egoismus ihn einschließt, sie befreit ihn von der Schwere persönlich-irdischer Interessiertheit, von dem, was SCHILLER so glücklich den "physischen Ernst" nennt. Sie erfüllt mit der Sehnsucht nach einem Dasein voll zwanglosen, selbstverständlichen und freudigen Gebens und Empfangens. Diese Sehnsucht ist die positive Kraft, die da mächtig ist, wo der starre Imperativ versagt. So erweitert die Kunst die egoistische Natur des Menschen zur sozialen. Aber sie wirkt auch unmittelbar sozialisierend, nicht nur durch das Medium eines veredelten Individuums hindurch. "Alle anderen Formen der Mitteilung trennen die Gesellschaft, weil sie sich auschließlich entweder auf die Privatempfänglichkeit oder auf die Privatfertigkeit der einzelnen Glieder, also auf das Unterscheidende zwischen Menschen und Menschen beziehen; nur die schöne Mitteilung vereinigt die Gesellschaft, weil sie sich auf das Gemeinsame aller bezieht." Man wird hier daran erinnert, wie sehr SCHILLER selbst die "schöne Mitteilung" auch für wissenschaftliche Inhalte gefordert hat, aus dem sozialen Motiv, daß die Wissenschaft nicht nur dem Fachmenschen gehört, sondern ihre Ergebnisse wieder für Gefühl und Willen fruchtbar machen und ihnen deshalb eine Form geben muß, in der sie lebendige Anschauung für den ungeschulten Geist werden. So hat die soziale Idee durch SCHILLER diese Fassung bekommen: das Individuum ist das lebendige Prinzip aller Entwicklung, es ist "frei durch Vernunft", d. h. in der Urkraft seines Wesens unabhängig von Tradition und Geschichte. Die Gesellschaft ist ein Werk seines Willens, eine Aufgabe, die es nach Vernunftgeboten erfüllt. Vom Individuum empfängt sie immer wieder ihre Gestalt. Aus der Allgemeingültigkeit des Sittengesetzes ergibt sich das Kulturideal eines durch Vernunft beherrschten Staates, einer Gemeinschaft freier und eben damit auch rechtlich gleichgestellter Menschen. In dieses Ideal setzt die menschliche Vernunft das Ziel der Entwicklung. In der Annäherung aber an dieses Ziel ist die Persönlichkeit, d. h. das durch seine sinnliche Fülle lebendige, durch seine sittliche Form gestaltete Individuum Maßstab und Bedingung. Ihm darf weder nach der einen noch nach der anderen Seite Abbruch geschehen. Darum muß in die gesellschaftliche Entwicklung eine Kraft eingestellt werden, die imstande ist, jene Totalität gegen einseitige Tugend und gestaltlosen Lebensdrang immer wieder zu behaupten. Das ist die Kunst. Ist SCHILLER die Synthese KANT-GOETHE gelungen? Der Riß in seinem System beginnt an der Stelle, wo er die Individualität nur als eine Folge der sinnlichen Mannigfaltigkeit betrachtet, wo er sie nur im Reich des Stoffes, nicht im Reich der Form unterscheidet. Der Unterschied zwischen dem ästhetischen und dem moralischen Ideal sei der, so schreibt er einmal an HUMBOLDT, daß das moralische Ideal nur in einem Exemplar verwirklicht gedacht werden könnte - also uniform sei. Hier hat KANT über GOETHE gesiegt und SCHILLERs Definition der Individualität auf dem Gebiet der moralischen Kategorien festgehalten, wo nur dem Stoff Mannigfaltigkeit gestattet ist. Von hier aus zieht sich dann der Riß zur Funktion der Kunst herüber. Ihr ist zu viel anvertraut, weil sie die ganze Lücke decken muß, die dadurch entsteht, daß SCHILLER kein anderes Formprinzip kennt, als die überindividuelle Vernunft, weil das "Ich" für ihn nur eine ethische Größe ist. und damit wieder bleibt die Anschauung des gesellschaftlichen Zusammenseins der Menschen zu eng. Der Staat als die Sphäre der normativen sittlichen Ordnung, das Individuum als Träger der sinnlichen Existenz und ihrer Zwecke - dazwischen die Gesellschaft als Sphäre der ästethischen Erziehung: in dieser Konstruktion ist für die Mannigfaltigkeit des sozialen Lebens und seiner Wirkungen kein Platz. Und trotzdem: es ist der erste Versuch, ethische und ästhetische Ideale zu vereinen, dem künstlerischen Lebensgefühl im Reich der höchsten Werte eine feste Stelle zu erobern, und andererseits im Rahmen der ethischen Weltanschauung ein Verständnis der Kunst anzubahnen. Und indem SCHILLER die ästhetische Erziehung gewissermaßen chemisch isolierte und sie zur einzigen Vermittlerin zwischen dem sinnlichen Menschen und dem absoluten Ideal machte, hat er doch die tatsächliche soziale Wirkung der Kunst, ihre Bedeutung für die Gesellschaft, klarer erkennen lassen. Darum fanden die Briefe, trotz aller abstrakten Härten, GOETHEs volle und freudige Zustimmung: "Das mir übersandte Manuskript habe sogleich mit großem Vergnügen gelesen; ich schlürfte es auf einen Zug hinunter. Wie uns ein köstlicher, unserer Natur analoger Trank willig hinunterschleicht und auf der Zunge schon durch die gute Stimmung des Nervensystems seine heilsame Wirkung zeigt, so waren mir diese Briefe angenehm und wohltätig, und wie sollte es anders sein, da ich das, was ich für recht seit langer Zeit erkannte, was ich teils lebte, teils zu leben wünschte, auf eine so zusammenhängende und edle Weise vorgetragen fand?" Wenn auch schon eine leise und feine Kritik an SCHILLERs Glauben, die Existenz durch die Vernunft dividieren zu können, in den Schlußworten durchklingt: "Da es immer schon tröstlich genug ist, mit einer Anzahl geprüfter Menschen eher zum Nutzen als zum Schaden seiner selbst und seiner Zeitgenossen, zu irren, so wollen wir getrost und unverrückt so fortleben und wirken und uns in unserem Sein und Wollen ein Ganzes denken, um unser Stückwerk nur einigermaßen vollständig zu machen." Eine Synthese zwischen ethischer und ästhetischer ist aber immer zugleich in irgendeiner Art eine solche zwischen individualistischer und sozialer Betrachtung. SCHILLER hat in den Boden einer sittlich-demokratischen Gesellschaftsauffassung das Recht der unvergleichbaren Persönlichkeit, der nach eigenem Maßstab zu wertenden Individualität gepflanzt. Ist ihm diese Verschmelzung nicht restlos und nur durch das Mittel einer schematischen Vereinfachung gelungen, so hat er doch damit das große Thema für die sozialphilosophische Betrachtung des 19. Jahrhunderts gestellt. Er hat dem Willen und der Sehnsucht des modernen Menschen, des Menschen nach KANT und GOETHE, nach einem zugleich ganz persönlichen und ganz sozialen Sein zum erstenmal Ausdruck gegeben, und sie damit durch ein Jahrhundert der Verwirrung und Zersplitterung hindurch bis heute lebendig erhalten. ![]() |