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MAX HORKHEIMER
Zum Problem der Wahrheit
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"Von den Eroberungen des menschlichen Geistes als einem Faktor bei der Befreiung aus der Übermacht der Natur und bei einer besseren Gestaltung der Verhältnisse kann gewiß nicht hoch genug gedacht werden. Soziale Gruppen und Machthaber, die ihn bekämpften, alle Propagandisten irgendeiner Art von Dunkelheit, hatten ihre lichtscheuen Gründe und haben die Menschen stets in Elend und Knechtschaft geführt."

"Indem die Dialektik aus der Verbindung mit dem überspannten Begriff des isolierten, seine Bestimmung aus sich selbst setzenden, in sich vollendeten Denkens gelöst wird, verliert die von ihr bestimmte Theorie notwendig den metaphysischen Charakter der Endgültigkeit, die Weihe einer Offenbarung und wird zu einem in das Schicksal der Menschen verflochtenen, selbst vergänglichen Element."

"Die Wahrheit gilt auch für den, der ihr widerspricht, sie ignoriert oder für belanglos erklärt. Nicht was der Einzelne glaubt und von sich denkt, nicht das Subjekt ansich, sondern das Verhältnis der Vorstellungen zur Realität entscheidet über die Wahrheit, und wenn einer sich einbildet, der Abgesandte Gottes oder der Retter eines Volkes zu sein, so entscheidet nicht er darüber, ja nicht einmal die Mehrzahl der Mitmenschen, sondern das Verhältnis seiner Behauptungen und Akte zum objektiven Tatbestand der Rettung."

Das von Widersprüchen durchzogene philosophische Bewußtsein der letzten Jahrzehnte ist auch im Hinblick auf das Problem der Wahrheit gespalten. Zwei entgegengesetzte Anschauungen haben im öffentlichen Leben und nicht selten im Verhalten desselben Individuums unversöhnt nebeneinander Platz. Nach der einen hat Erkenntnis immer nur beschränkte Gültigkeit. Dies ist sowohl im Gegenstand wie auch im erkennenden Subjekt begründet. Jedes Ding und jedes Verhältnis von Dingen ändert sich in der Zeit und somit muß auch jedes Urteil über Zustände in der Wirklichkeit mit der Zeit seine Wahrheit verlieren.
    "Da alles einzeln Seiende uns in der Zeit gegeben ist, eine bestimmte Stelle in der Zeit einnimmt, als eine Zeitlänge hindurch dauernd, und in dieser Zeit wechselnde Tätigkeiten entfaltend und seine Eigenschaft möglicherweise verändernd angeschaut wird: so haftet notwendig allen unseren Urteilen über Dasein, Eigenschaften, Tätigkeiten und Relationen einzelnder Dinge die Beziehung zur Zeit an, und jedes derartige Urteil kann nur für eine bestimmte Zeit gelten wollen." (1)
Auch vom Subjekt her wird die Wahrheit als notwendig beschränkt angesehen. Die Erkenntnis ist nicht bloß durch den Gegenstand geformt, sondern auch durch die individuellen und gattungsmäßigen Eigentümlichkeiten der Menschen. Besonders dieses subjektive Moment hat in der modernen Geisteswissenschaft Beachtung gefunden. Die Tiefenpsychologie schien die  Jllusion  schlechthin gültiger Wahrheit durch den Nachweis zu zerstören, daß die Funktion des Bewußtseins sich erst im Zusammenhang mit unbewußten seelischen Prozessen erschließt, und die Soziologie machte aus der Lehre, daß jeder Gedanke einem geistigen Typus zugehört, der an eine gesellschaftliche Gruppe, an einen "Standort" gebunden ist, eine philosophisch ausgerichtete Disziplin. Der Relativismus der Gegenwart trägt vornehmlich subjektivistische Züge, aber er kennzeichnet keineswegs allein das Verhältnis der Geistigkeit dieser Periode zur Wahrheit überhaupt. Ihm steht vielmehr der Zug zu blindem Glauben, zu absoluter Unterwerfung gegenüber, der als das Gegenteil des Relativismus stets notwendig mit ihm zusammenhing und in der jüngsten Gegenwart noch einmal die kulturelle Situation kennzeichnet. In der Philosophie hat sich seit der metaphysischen Umbiegung des zuerst streng gemeinten Begriffs der Wesenserschauung ein neuer Dogmatismus ausgebildet. In diesem ideengeschichtlichen Vorgang spiegelt sich der historische Sachverhalt, daß die gesellschaftliche Totalität, der die liberalen, demokratischen, progressiven Tendenzen der herrschenden Kulturform zugehörten, von Beginn an auch ihr Gegenteil, Unfreiheit, Zufall und die Herrschaft bloßer Natur enthielt, welches aufgrund der eigenen Dynamik des Systems schließlich alle positiven Züge notwendig zu vernichten droht. Der Anteil von Eigentätigkeit der Menschen bei Erhaltung und Erneuerung des sozialen Lebens tritt ganz hinter die Bemühung zurück, eine sich auflösende Ordnung mechanisch zusammenzuhalten. Der öffentliche Geist wird in zunehmendem Maße durch einige starre Urteile und wenige hypostasierte [einem Wort wird gegenständliche Realität untergeschoben - wp] Vorstellungen beherrscht.

Die Erscheinung dieses Widerspruchs in der Gegenwart wiederholt in verzerrter Form einen Zwiespalt, der die Philosophie des bürgerlichen Zeitalters seit je durchzieht. In der Verbindung des universalen methodischen Zweifels von DESCARTES mit seinem aufrichtigen Katholizismus gewinnt er philosophiegeschichtlich die erste exemplarische Gestalt. Er erstreckt sich bereits bis in die einzelnen Teile des Systems. Nicht bloß das unversöhnte Nebeneinander von Glauben und widersprechendem Wissen, sondern auch die Erkenntnistheorie selbst macht ihn offenbar. Die Lehre von einer festen  res cogitans [denkenden Substanz - wp], einem vom Körper unabhängigen, in sich selbst geschlossenen Ich, die als absolute Lösung des Zweifelsversuchs behauptet und in der Metaphysik des DESCARTES, sowie seiner idealistischen Nachfolger unabänderlich festgehalten wird, erweist sich als eine der Lage des bürgerlichen Individuums entsprechende Jllusion, die vor der Untersuchung vorhanden war und nicht durch sie begründet wird. Die selbständige Existenz der individuellen Einzelseele, DESCARTES' Prinzip einer philosophischen Sinngebung der Welt, ist mit den Kriterien und dem ganzen Geist der von ihm selbst entdeckten analytischen Geometrie nicht leichter zu vereinbaren als seine Verkündug des bloßen Raums als einziger physikalischer Wesenheit mit dem kirchlichen Dogma der Transsubstantiation [Verwandlung von Brot und Wein in Leib und Blut Christi - wp]. Der durchgehende Zweifel an der Wirklichkeit sachhaltiger Wahrheit, das fortwährende Betonen der Unsicherheit, Bedingtheit und Endlichkeit alles bestimmten Wissens, unvermittelt neben scheinbaren Einsichten in ewige Tatbestände, neben der Fetischisierung einzelner Kategorien und Wesenheiten - dieser Zwiespalt durchzieht bereits die kartesianische Philosophie.

Seinen klassischen Ausdruck findet er bei KANT. Die kritische Methode sollte die Aufgabe lösen, das bloß bedingte, empirische vom "reinen" Wissen zu unterscheiden, und gelangte zu dem Schluß, daß reines Wissen einzig und allein von den Bedingungen des Bedingten möglich ist. Das System der notwendigen subjektiven Bedingungen menschlicher Erkenntnis bildet das ausschließliche Ziel der Transzendentalphilosophie. Nichts anderes als das Wissen um die sinnlichen und begrifflichen Formen der Erkenntnis und was aus ihm deduzierbar ist, stellt KANT der HUMEschen Skepsis entgegen. Was jedoch aufgrund dieser Bedingungen zustandekommt, die Theorie unserer wirklichen, nicht einer bloß möglichen Welt, das Wissen von der vorhandenen Natur und der bestehenden menschlichen Gesellschaft, entbehrt für KANT des Prädikats der echten Wahrheit und ist bloß relativ. Alles, was wir von der Wirklichkeit, von den Gegenständen in Raum und Zeit erkennen, betrifft nach ihm Erscheinungen, und von diesen meint er bewiesen zu haben, "daß sie nicht Sachen (sondern bloße Vorstellungsarten), auch nicht den Sachen ansich angehörige Bestimmungen sind". (2) In Bezug auf die Welterkenntnis ist er nicht weniger ein skeptischer Relativist als die "mystischen" und "schwärmenden" Idealisten, die er bekämpft. In der neuesten Phase der Transzendentalphilosophie wird dieser subjektivistische Relativismus klar formuliert:
    "Alles Seiende  ist (entgegen dem falschen Ideal eines absolut Seienden und seiner absoluten Wahrheit) letztlich relativ und ist mit allem in irgendeinem gewöhnlichen Sinn Relativen  relativ auf die transzendentale Subjektivität.  Sie aber ist allein  in sich und für sich ... (3).
Neben der vorsichtigen und differenzierten theoretischen Philosophie, die freilich die Verwurzelung des Denkens in der geschichtslosen Sphäre der transzendentalen Subjektivität enthielt, stehen bei KANT die Postulate der praktischen Vernunft und - durch teilweise höchst anfechtbare Schlüsse mit ihnen verbunden - die Verabsolutierung der bestehenden Eigentumsverhältnisse des herrschenden öffentlichen und privaten Rechts. In der Kritik der praktischen Vernunft, die den Pflichtbegriff fetischisiert, hat er das Bedürfnis nach einem unverrückbaren geistigen Halt keineswegs überwunden, sondern bloß zeitgemäßer befriedigt als die rationalistische Ontologie dieser Periode. Die theoretische Philosophie selbst enthält bereits die Voraussetzung, daß es eine absolute, von jeder Sinneserfahrung freie Erkenntnis gibt, ja daß diese allein den Namen der Wahrheit verdient. Auch die Kritik der reinen Vernunft hängt von der Voraussetzung ab, daß reine Begriffe und Urteile "a priori" im Bewußtsein bereitliegen und Metaphysik nicht bloß zu allen Zeiten gewesen ist, sondern mit Recht in alle Ewigkeit bestehen wird. KANTs Werk schließt den Gegensatz der deutschen und englischen Philosophenschulen in sich ein. Die Auflösung der Widersprüche, die es aufweist, die Vermittlung zwischen Kritik und dogmatischem System, zwischen einem mechanistischen Begriff der Wissenschaft und der Lehre von der intelligiblen Freiheit, zwischen dem Glauben an ewige Gebote und einer von der Praxis isolierten Theorie haben in steigendem Maß sein eigenes Denken bis in die letzten Lebensjahre vergeblich beschäftigt und bilden zugleich das Zeugnis seiner Größe. Bis ans Ende vorgetriebene Analyse, skeptisches Mißtrauen gegen Theorie überhaupt auf der einen Seite und die Bereitschaft zu naivem Glauben an losgelöste, starre Prinzipien auf der anderen sind ein Kennzeichen des bürgerlichen Geistes, wie er in KANTs Philosophie in höchst vollendeter Gestalt erscheint.

Der mangelnde Einfluß fortschrittlicher Methoden des Fachgelehrten auf sein Verhalten zu den wichtigsten Problemen der Zeit, die Verbindung ausgezeichneter naturwissenschaftlicher Erkenntnis mit kindlicher Bibelgläubigkeit spiegeln dieses zwiespältige Verhältnis zur Wahrheit wieder. Auf den Zusammenhang des Positivismus, dieser besonders strengen Richtung der modernen Philosophie, mit dem krudesten Aberglauben wurde in dieser Zeitschrift bereits früher hingewiesen. (4) AUGUSTE COMTE hat nicht bloß den Grund zu einem schrullenhaften Kultus gelegt, sondern sich auch seines Verständnisses für die verschiedenen Lehren vom Jenseits gerühmt. WILLIAM JAMES hat sich dem Mystizismus zugewandt (5), ebenso dem Mediumismus. Das Gehirn erscheint ihm nicht so sehr als Förderung denn als Hemmung der erleuchteten Erkenntnisse, die "readymade in the transcendental world" [Kunstprodukte in der transzendentalen Welt - wp] existieren und als telepathische Erlebnisse durchdringen, sobald die Gehirnschwelle "abnormal" gemindert ist. "Das Wort  influx,  das man in  Swedenborgschen  Kreisen benützt", beschreibt das Phänomen sehr gut (6). Der Pragmatist F. C. S. SCHILLER, den JAMES zitiert, erklärt geradezu: "Materie ist nicht, was Erkenntnis hervorbringt, sondern das, was sie begrenzt" und begreift den Körper als "einen Mechanismus zur Hemmung des Bewußtsein" (7). Diese Neigung zum Spiritismus ist durch die spätere Geschichte des Positivismus hindurch zu verfolgen. In Deutschland scheint sie ihr Ende in der Philosophie von HANS DRIESCH erreicht zu haben, in der ein auf die Spitze getriebener Szientivismus mit unverhülltem Okkultismus in allen Fragen des Diesseits und Jenseits zusammen geht. Dabei findet sowohl in seiner Logik und Erkenntnistheorie die okkultistische Enge durch die gewollte Formelhaftigkeit und Starrheit und durch die monomanische Rückbeziehung der gesamten Probleme der Welt auf einige wenige biologische Experimente einen grotesken Ausdruck, wie auch andererseits das Mißverständnis einer von der Geschichte unabhängigen, sich selbst genügenden Wissenschaft durch die pseudo-wissenschaftliche Einkleidung seiner barbarischen Irrtümer in Religion und Praxis zum Vorschein kommt.

Daß jemand in einem bestimmten Wissenschaftszweig hohe kritische Fähigkeiten entwickelt und in den Fragen des sozialen Lebens auf dem Niveau zurückgebliebener Gruppen steht und die borniertesten Phrasen nachbetet, hat sich erst im Niedergang der gegenwärtigen Epoche zur typischen Haltung des Fachgelehrten entwickelt. Im Anfang der bürgerlichen Ordnung bildete die Zuwendung zu juristischen und naturwissenschaftlichen Einzelstudien ohne Rücksicht auf soziale und religiöse Bindungen unmittelbar ein Moment der Befreiung von der theologischen Bevormundung des Denkens. Die Veränderung der gesellschaftlichen Struktur hat es jedoch mit sich gebracht, daß dieses um die rationale Beziehung zum Ganzen unbekümmerte Produzieren auf allen Lebensgebieten - in der Wissenschaft ebenso wie in den industriellen und landwirtschaftlichen Arbeitszweigen - rückschrittlich und hemmend geworden ist. Diese Abstraktheit und scheinbare Unabhängigkeit des bürgerlichen Wissenschaftsbetriebes tritt in der Masse abgelöster empirischer Einzelstudien, die jeder durch eine klare Terminologie und Kategorienmaterial gestifteten Verbindung zu irgendeiner Theorie und Praxis ermangeln, hervor; ebenso in jenen wissenschaftlichen Bestrebungen, die ohne sinnvollen Grund ihre Begriffe von allem empirischen Material zu entleeren suchen, besonders in der unangemessenen Mathematisierung vieler Geisteswissenschaften. Die konventionelle Haltung des Gelehrten in den die Epoche beherrschenden Fragen, die Beschränkung seiner kritischen Aufmerksamkeit auf seine fachliche Spezialität gehörten früher zu den Elementen der Verbesserung des allgemeinen Zustandes. Die Denkenden hörten auf, sich ausschließlich um ihr ewiges Seelenheil zu kümmern oder zumindest die Sorge darum zur Richtschnur bei allen theoretischen Bemühungen zu machen. Inzwischen hat diese Haltung einen anderen Sinn bekommen; anstatt Kennzeichen notwendigen Mutes und Eigensinns zu sein, bildet die Abstinenz der geistigen Energien von den allgemeinen kulturellen und sozialen Fragen die Einklammerung der aktuellen geschichtlichen Interessen und Kämpfe mehr ein Zeichen der Angst und Unfähigkeit zu rationalem Handeln als der Zuwendung zu den wirklichen Aufgaben der Wissenschaft. Das Wesen seelischer Erscheinungen wandelt sich mit der gesellschaftlichen Totalität.

Es ist hier nicht die Absicht, den geschichtlichen Ursachen des zwiespältigen Verhältnisses zur Wahrheit im einzelnen nachzugehen. Der Konkurrenzkampf innerhalb der bürgerlichen Wirtschaft, mittels dessen sich die Kräfte dieser Gesellschaft entfalteten, hat einen kritischen Geist hervorgebracht, der sich nicht bloß von den Bürokratien der Kirche und des Absolutismus zu befreien vermochte, sondern, getrieben durch die Dynamik des ökonomischen Apparats, die Natur in einem phantastischen Ausmaß in seinen Dienst zu stellen weiß. Aber diese Macht ist nur scheinbar seine eigene. Wohl stehen die Methoden zur Produktion gesellschaftlichen Reichtums zur Verfügung, die Bedingungen der nützlichen Natureffekte sind in weitem Maß bekannt, und der menschliche Wille vermag sie herbeizuführen. Aber dieser Geist und Wille selbst existieren in einer falschen Zerrissenheit und Gestalt. Zum Begriff eines Subjekts, das Macht über eine Sache hat, gehört die Fähigkeit, sich zu entscheiden und sich ihrer nach eigenem Vorsatz zu bedienen. Aber die Herrschaft über die Natur wird gar nicht nach einem einheitlichen Plan und Vorsatz ausgeübt, sondern bildet bloß ein Mittel von Individuen, Gruppen und Nationen, die es in ihrem Kampf gegeneinander anwenden und, indem sie es entfalten, zugleich in steigendem Maß gegenseitig beschränken und auf destruktive Ziele lenken. Mit ihrer kritischen Fähigkeit und ihrem entfalteten Denken werden daher die Träger dieses Geistes doch nicht wirklich zum Herrn, sondern sind getrieben von den wechselnden Konstellationen des allgemeinen Kampfes, die, wenngleich von Menschen selbst hervorgerufen, ihnen als unberechenbare Schicksalsmächte gegenüberstehen. Diese scheinbar notwendige Abhängigkeit, die sich immer mehr als zerstörende Spannungen und Krisen, als allgemeines Elend und Niedergang geltend macht, wird für den größten Teil der Menschen zum unbegreiflichen Verhängnis. Sofern aber die Veränderung der grundlegenden Verhältnisse durch die Praxis als ausgeschlossen gilt, entsteht das Bedürfnis nach Sinngebung durch den bloßen Glauben. Die Überzeugung, daß eine beengende und schmerzvolle Konstellation in ihrem Wesen unabänderlich ist, fordert das Denken zu ihrer tiefsinnigen Interpretation heraus, damit es sich mit ihr abfinden kann, ohne zu verzweifeln. Der Tod als das unausweichbare Ende war seit je die Grundlage der religiösen und metaphysischen Jllusion. Daß der innere Mechanismus dieser Gesellschaft, der die Unsicherheit und den dauernden Druck hervorbringt, nicht in das helle Bewußtsein tritt, daß er nicht als Gegenstand einer verändernden Praxis, sondern als notwendig und ewig hingenommen wird, bildet die Voraussetzung für das metaphysische Bedürfnis, das die Geschichte dieses Zeitalters durchzieht. Der feste Glaube, der zum Mörtel des mittelalterlichen Gesellschaftsbaus gehörte, ist geschwunden. Die großen Systeme der europäischen Philosophie waren stets nur für eine gebildete Oberschicht bestimmt und versagen völlig vor den psychischen Bedürfnissen der verarmenden und sozial immer weiter absinkenden Teile der Bürger und Bauern, die andererseits durch ihre Erziehung, Arbeit und Hoffnung an diese Form der Gesellschaft notwendig gebunden sind und an ihre Vergänglichkeit nicht glauben können. Dieser Zustand bildet die Voraussetzung für das die geistige Situation seit Jahrzehnten beherrschende Verlangen, durch philosophische Praktiken wie Wesensschau und Intuition und schließlich durch die blinde Unterordnung unter eine Persönlichkeit, sie sie ein anthroposophischer Prophet, ein Dichter oder Politiker, einen ewigen Sinn in das ausweglose Leben zu bringen. In dem Maße, in dem das eigene Handeln beengt wird und schließlich die Fähigkeit zu ihm verkümmert, besteht auch die Bereitschaft, in der bergenden Hut eines Glaubens oder eines Menschen, die als Gefäße und Inkarnation der Wahrheit gelten, Sicherheit zu finden. In einzelnen aufsteigenden Perioden der gegenwärtigen Gesellschaft milderten die Aussichten auf einen beständigen Fortschritt in ihrem eigenen Rahmen die Notwendigkeit einer verklärenden Sinndeutung der Wirklichkeit, und die rationalen und kritischen Kräfte gewannen im privaten und öffentlichen Denken höheres Gewicht. Mit der Zunahme der Unsicherheit und Krisenhaftigkeit dieser Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens sind jedoch alle, die seine Grundzüge für ewig halten, den Veranstaltungen preisgegeben, welche die verlorene Religion ersetzen sollen.

Dies ist freilich nur ein Aspekt des gesellschaftlichen Zustands, aus dem sich das schwankende Verhältnis zur Wahrheit in der neueren Zeit ergibt. Eine gründliche Analyse des falschen bürgerlichen Selbstbewußtseins, das angesichts der Abhängigkeit und Unsicherheit seiner Träger die Ideologie der vollkommenen inneren Freiheit aufrechterhielt, könnte zeigen, daß jenes liberale Geltenlassen der fremden Meinung, das dem Relativismus eigen ist, und die Angst vor einer eigenen Entscheidung, die zum Glauben an die starre absolute Wahrheit führt, eine gemeinsame Wurzel haben: den abstrakten, verdinglichten Begriff des Individuums, der in dieser Wirtschaftsordnung unausweichlich das Denken beherrscht. Aber hier soll weniger die Bedingung des Phänomens als seine sachliche Bedeutung in Frage stehen. Bleibt wirklich nur die Wahl zwischen der Annahme einer abschließenden Wahrheit, wie sie in Religionen und idealistischen Philosophenschulen verkündet wird, und der Ansicht, jeder Satz, jede Theorie sei immer bloß "subjektiv", d. h. für einen Menschen, eine Gruppe, eine Zeit oder die Menschheit als Gattung wahr und gültig, entbehre aber sonst der objektiven Berechtigung? Den großartigsten Versuch, sich über diesen Zwiespalt zu erheben, hat das bürgerliche Denken selbst in der Ausbildung der dialektischen Methode unternommen. In ihr erscheint nicht mehr wie bei KANT bloß das System der subjektiven Erkenntnisfaktoren als Ziel der Philosophie; die anerkannte Wahrheit ist nicht mehr so leer, daß in der Praxis zum kompakten Glauben geflohen werden muß. Indem der konkrete Inhalt als bedingt und abhängig erkannt, indem jede "endliche" Wahrheit ebenso entschieden "negiert" wird wie bei KANT, soll sie nach HEGEL nicht einfach dem Aussondern des reinen Wissens durch das Sieb fallen. Durch die Erkenntnis der Bedingtheit jeder isolierten Ansicht, durch die Ablehnung ihres unbeschränkten Wahrheitsanspruchs wird dieses bedingte Wissen nicht überhaupt zerstört, sondern jeweils als bedingte, einseitige, isolierte Ansicht in das System der Wahrheit aufgenommen. Durch nichts anderes als dieses fortwährende kritische Beschränken und Korrigieren von Teilwahrheiten kommt dieses selbst als ihr richtiger Begriff, als Wissen von begrenzten Einsichten in ihren Grenzen und ihrem Zusammenhang zustande.

HEGEL hält dem Skeptizismus den Begriff der bestimmten Negation entgegen. Die fortschreitende Erkenntnis von Einseitigkeiten, das Weitergehen von einer isolierten Bestimmung zur andern, worunter er keineswegs ein bloßes Aufreihen von Merkmalen, sondern die in allen Einzelheiten dem Leben der Sache folgende Darstellung versteht, diese Kritik jedes Begriffs und Begriffskomplexes durch die fortschreitende Eingliederung in das vollständigere Bild des Ganzen eliminiert keineswegs die einzelnen Aspekte oder läßt sie auch nur im weiteren Denken unberührt, sondern jede negierte Einsicht wird im Fortgang der Erkenntnis als Moment der Wahrheit aufbewahrt, bildet einen bestimmenden Faktor in ihr und erfährt mit jedem neuen Schritt eine weitere Bestimmung und Veränderung. Eben deshalb ist die methodische Form von These, Antithese und Synthese keineswegs als "lebloses Schema" (8) anzuwenden. Wenn in der Antithese jeweils das kritische, relativierende Moment gegenüber dem aufnehmenden, feststellenden eines Gedankengangs zum Ausdruck kommt, so bilden beide, These und Antithese, deshalb sogleich eine neue Einsicht, eine Synthese, weil das Negieren die ursprüngliche Ansicht nicht einfach verworfen, sondern vertieft und bestimmt hat. Am Ende kommt bei HEGEL nicht die nackte Versicherung heraus, alles bestimmte Wissen sei vergänglich und nichtig, was wir erkennen, seien nur Erscheinungen im Gegensatz zu einem unerkennbaren Ding-ansich oder einem intuitiv zu erschauenden Wesen. Wenn das Wahre nach HEGEL das Ganze ist, so ist das Ganze nicht etwas von den Teilen in ihrer bestimmten Struktur Verschiedenes, sondern der gesamte Gedankengang, der alle beschränkten Vorstellungen jeweils im Bewußtsein ihrer Beschränktheit in sich schließt.

Indem bei der dialektischen Methode nicht bloß das Aufzeigen der Bedingtheit, sondern auch das Bedingte selbst noch ernst genommen wird, entgeht sie dem relativistischen Formalismus der kantischen Philosophie. HEGEL hat es daher nicht nötig, einen isolierten Inhalt wie den der Pflicht zum Fetisch zu machen. Er erkennt das vergebliche Bemühen aller idealistischen Philosophie vor ihm, den ganzen weltlichen Inhalt in irgendeiner begrifflichen Allgemeinheit verschwinden zu lassen und solchen Bestimmungen gegenüber wie Unendliches, Wille, Erlebnis absolute Differenz, Bewußtsein usw. alle bestimmten Unterschiede für nichtig zu erklären. Das subalterne [untergeordnete - wp] Denken, dem die Welt stets wie eine geheimnisvolle Veranstaltung erscheint, deren Hintergründe nur der Eingeweihte kennt, die praktische Hilflosigkeit, die der Philosophie die Lösung eines angeblichen Rätsels zuschreibt, um dann ein für alle Mal Bescheid zu wissen oder auch darüber zu verzweifeln, daß ein solcher Schlüssel nicht zu finden ist, diese Art des Dogmatismus existiert bei HEGEL nicht. Die dialektische Methode hat ihn vielmehr rasch dazu geführt, der Borniertheit eines solchen philosophischen Werks inne zu werden und, was sich als absolut und ewig gebärdet, in der Entwicklung, im Fluß zu sehen.

Insofern jedoch diese Methode bei HEGEL selbst noch einem idealistischen System angehört, hat er sein Denken nicht von dem alten Widerspruch befreit. Sowohl die schließliche Gleichgültigkeit gegenüber bestimmten Erkenntnissen, Ideen und Zielen, die dem Relativismus eigen ist, als auch die Hypostasierung begrifflicher Strukturen, die Unfähigkeit des Dogmatismus, der Geschichtlichkeit des eigenen Denkens theoretisch und praktisch Rechnung zu tragen, kennzeichnen auch seine Philosophie. Ihre dogmatische Seite ist in der Erkenntniskritik seit der Mitte des 19. Jahrhunderts besonders häufig angegriffen worden. An die Stelle jener Lehren, die einen abstrakten Begriff zum Wesen machten, d. h. diesen beschränkten Aspekt als identisch mit dem Sein schlechthin über die Geschichte hinauszuheben suchten und so zu einem naiven Glauben entartet sind, setzt HEGEL die Hypostasierung seines eigenen Systems.
    "Das Ziel", sagt er selbst in der Polemik gegen Skepsis und Relativismus (9), ist dem Wissen ebenso notwendig, wie die Reihe des Fortgangs, gesteckt; es ist da, wo es nicht mehr über sich selbst hinauszugehen nötig hat, wo es sich selbst findet, und der Begriff dem Gegenstand, der Gegenstand dem Begriff entspricht. Der Fortgang zu diesem Ziel ist daher auch unaufhaltsam, und auf keiner früheren Station ist Befriedigung zu finden."
Diese Befriedigung glaubt HEGEL durch das Ganze seines Denkens zu gewähren. Die Philosophie gibt nach ihm denselben absoluten Inhalt wie die Religion, die völlige Einheit von Subjekt und Gegenstand, ein letztes, schlechthin ewig gültiges Wissen.
    "Was der ... von allen Seiten her in die Endlichkeit verstrickte Mensch sucht, ist die Region einer höheren substantielleren Wahrheit, in welcher alle Gegensätze und Widersprüche des Endlichen ihre letzte Lösung, und die Freiheit ihre volle Befriedigung finden könnten. Dies ist die Region der Wahrheit ansich, nicht des relativ Wahren. Die höchste Wahrheit, die Wahrheit als solche, ist die Auflösung des höchsten Gegensatzes und Widerspruchs. In ihr hat der Gegensatz von Freiheit und Notwendigkeit, von Geist und Natur, von Wissen und Gegenstand, Gesetz und Trieb, der Gegensatz und Widerspruch überhaupt, welche Form er auch annehmen mag, als Gegensatz und Widerspruch keine Geltung und Macht mehr ... Das gewöhnliche Bewußtsein dagegen kommt über diesen Gegensatz nicht hinaus, und verzweifelt entweder in diesem Widerspruch, oder wirft ihn fort und hilft sich sonst auf andere Weise. Die Philosophie aber tritt mitten in die sich widersprechenden Bestimmungen hinein, erkennt sie ihrem Begriff nach, d. h. als in ihrer Einseitigkeit nicht absolut, sondern sich auflösend, und setzt sie in die Harmonie und Einheit, welche die Wahrheit ist. Diesen Begriff der Wahrheit zu fassen ist die Aufgabe der Philosophie ... Denn auch die Philosophie hat keinen anderen Gegenstand als Gott, und ist so wesentlich rationale Theologie, und als im Dienst der Wahrheit ein fortdauernder Gottesdienst." (10)
Nach HEGEL selbst hat die Lehre von einer absoluten, in sich abgeschlossenen Wahrheit die Bestimmung, die in der Welt nicht aufgelösten "Gegensätze und Widersprüche" in einer höheren spirituellen Region in Harmonie zu setzen. Er betont besonders in den späteren Vorlesungen und Schriften, daß nicht in den Einrichtungen der Wirklichkeit, sondern in den geistigen Sphären der Kunst, Religion und Philosophie "die Region der Wahrheit, Freiheit und Befriedigung" (11) zu finden ist, und setzt diese Ruhe und Befriedigung in Gedanken nicht bloß der skeptischen Verzweiflung, sondern auch der aktiven Haltung entgegen, die "sonst auf andere Weise" die Unvollkommenheit der bestehenden Zustände zu überwinden strebt.

Diese dogmatische Beschränktheit ist nicht bloß ein gleichsam zufälliger Makel seiner Lehre, den man abstreifen könnte, ohne etwas Wesentliches an ihr zu verändern, sie hängt vielmehr unlöslich mit dem idealistischen Charakter seines Denkens zusammen und spielt in alle Einzelheiten seiner Anwendung der Dialektik hinein. Nicht daß die äußere Anschauung, aus der, wie TRENDELENBURG kritisch (12) hervorhebt, schon der Grundbegriff der Dialektik, die Bewegung, stammt, im HEGELschen Denken überhaupt eine Rolle spielt, darf ihm zum Vorwurf gemacht werden. Er selbst hat die Bedeutung der Erfahrung für die Philosophie herausgestellt. HEGEL vergißt vielmehr bei der Reflexion auf sein eigenes System eine ganz bestimmte Seite der Empirie. Die Ansicht, daß dies die Vollendung der Wahrheit ist, verhüllt ihm die Bedeutung des zeitbedingten Interesses, das in die einzelnen dialektischen Darstellungen durch die Richtung des Denkens, die Auswahl des inhaltlichen Materials, den Gebrauch von Namen und Worten mit hineinspielt und lenkt die Aufmerksamkeit davon ab, daß seine bewußte und unbewußte Parteistellung zu den Fragen des Lebens notwendig als konstitutives Element seiner Philosophie wirksam werden muß. Seine Vorstellungen von Volk und Freiheit z. B., die für viele Teile seines Werks die Richtschnur bilden, werden nicht in ihren zeitlichen Voraussetzungen und in ihrer Vergänglichkeit erkannt, sondern bloß umgekehrt den geschichtlichen Entwicklungen, aus denen sie abstrahiert sind, als begriffliche Realitäten und Mächte zugrunde gelegt. Weil HEGEL die bestimmten historischen Tendenzen, die in seinem eigenen Werk zum Ausdruck kommen, nicht erkennt und festhält, sondern sich selbst beim Philosophieren als der absolute Geist vorkommt und dementsprechend eine scheinbare Distanz und Gleichgültigkeit bewahrt, entbehren manche Partien seines Werkes der Durchsichtigkeit und gewinnen trotz der revolutionären Schärfe und Beweglichkeit der Methode jenen Zug der Willkür und Pedanterie, der es mit den politischen Zuständen seiner Zeit so eng verband. Die Dialektik wird im idealistischen Denken, dem sie ihre Existenz verdankt, vom Dogmatismus betroffen. Da die Begriffsbildungen, zu denen die Methode gelangt, Momente eines Systems sein sollen, in welchem das Denken "nicht mehr über sich selbst hinauszugehen nötig hat", gelten auch die von ihnen erfaßten Verhältnisse als unabänderlich und ewig. Mag sich in der Geschichte zukünftig noch vieles ereignen, mögen sogar andere Völker als die bisher entscheidenden Nationen, z. B. die Slawen (13), die Führung übernehmen, so wird damit doch kein neues Prinzip der gesellschaftlichen Organisation die Herrschaft antreten, keine veränderte Verfassung der Menschheit zur bestimmenden werden. Jede geschichtliche Veränderung, in der sich eine neue Gestalt menschlichen Zusammenlebens verwirklicht, könnte auch die Begriffe von Gesellschaft, Freiheit, Recht usw. nicht unberührt lassen. Der Zusammenhang aller Kategorien bis in die abstraktesten hinein würde davon betroffen. HEGELs Ansicht, daß sein Denken die Wesenszüge allen Seins erfaßt, deren Einheit unberührt von Werden und Vergehen der Individuen als die vollkommene Hierarchie und Totalität bestehen bleibt, wie sie im System erscheint, bedeutet daher die gedankliche Verewigung der zugrunde liegenden irdischen Verhältnisse. Die Dialektik erhält eine verklärende Funktion. Die Lebensordnungen, in denen nach HEGEL auch Herrschaft und Knechtschaft sowie Armut und Elend ihre ewige Stelle haben, sind dadurch sanktioniert, daß der begriffliche Zusammenhang, in den sie aufgenommen sind, als ein Höheres, als das Göttliche und Absolute gilt. Ebenso wie die Religion und die Vergöttlichung eines Stammes oder Staates oder die Anbetung der Natur dem leidenden Individuum ein Wesen vorhalten, das nicht stirbt und ewig in sich vollkommen ist, glaubt HEGEL einen ewigen Sinn zu erschließen, in dessen Kontemplation sich das Individuum bei aller persönlichen Misere geborgen fühlen soll. Dies ist der dogmatische, metaphysische, naive Zug seiner Theorie.

Ihr Relativismus hängt unmittelbar damit zusammen. Die dogmatische Vorstellung, daß alle bestimmten Anschauungen, die jemals im realen geschichtlichen Kampf gegeneinander aufgetreten sind, alle Bekenntnisse bestimmter Gruppen, alle Versuche der Verbesserung nunmehr überwunden und aufgehoben sein sollen, die Ansicht des umfassenden Denkens, daß jedem Standpunkt sein partielles Recht und seine letzte Beschränktheit zuzumessen sind, ohne für einen Einzigen gegen die anderen bewußt Partei zu nehmen und sich zu entscheiden, ist die Seele des bürgerlichen Relativismus selbst. Das Bestreben, jeder Idee und jeder geschichtlichen Person Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und den Helden der vergangenen Revolutionen neben den Generälen der siegreichen Gegenrevolution ihren Platz im Pantheon der Geschichte anzuweisen, diese durch die Zweifrontenstellung des Bürgertums gegen eine absolutistische Restauration und Proletariat bedingte, scheinbar freischwebende Objektivität, hat sich im HEGELschen System ebenso Geltung verschafft wie das idealistische Pathos des absoluten Wissens. Es erweist sich, daß die Toleranz gegen alle vergangenen und als bedingt erkannten Ansichten nicht weniger relativistisch ist als die negativistische Skepsis. Sie offenbart umso eindeutiger die ihr innewohnende Unmenschlichkeit, je mehr das schonungslose Aussprechen und Verteidigen bestimmter Wahrheiten und Rechte von der Zeit gefordert wird. Wenn HEGEL trotz des Mangels einer bewußten Beziehung seiner Philosophie zu einem bestimmten praktischen Prinzip im einzelnen nicht bloß vom konservativen preußischen Geist, sondern auch von vorwärtstreibenden Interessen geleitet war, so hat er doch diese Tendenzen, die in seiner Wissenschaft zum Ausdruck kamen, infolge seines Dogmatismus nicht als seine eigenen Zwecke und vorwärtsgerichteten Interessen erkannt und verteidigt. Er scheint von sich zu sprechen, wenn er beschreibt, wie "das Bewußtsein die Vorstellung von einem  ansich  Guten, das noch keine Wirklichkeit hat, als einen leeren Mantel fahren läßt". (14) Bei HEGEL gehen die fortschrittlichen Impulse, ähnlich wie bei GOETHE, insgeheim in die scheinbar alles Wirkliche gleichermaßen verstehende und harmonisierende Betrachtung ein. Der spätere Relativismus dagegen richtet seine Nachweise von einschränkenden Bedingtheiten vornehmlich gegen die vorwärtstreibenden Ideen selbst, die er dadurch einzuebnen, d. h. allem schon Vergangenen gleichzustellen unternimmt. In seiner Begriffsbildung erscheint dieses Neue wie das Alte leicht als bloße Rationalisierung und Ideologie. Indem die Erkenntnis der Wahrheit bestimmter Ideen hinter das Aufzeigen von Bedingungen, das Zuordnen zu historischen Einheiten, zurücktritt, enthüllt sich dieser parteilose Relativismus als ein Freund des jeweils Bestehenden. Der Dogmatismus, den er verborgen in sich enthält, ist die Bejahung der vorhandenen Macht; denn die werdende bedarf in ihrem Kampf einer bewußten Entscheidung, der schon daseienden dient die Beschränkung auf ein bloßes Verständnis und Kontemplation. Daß die Unparteilichkeit eine Parteinahme und die unterschiedslose Objektivität eine subjektive Stellungnahme bedeutet, ist ein dialektischer Satz, der den Relativismus freilich über sich hinausführt.

Im Materialismus gilt die Dialektik nicht als abgeschlossen. Die herrschenden Zustände als bedingt und vergänglich zu begreifen, wird hier nicht unmittelbar mit ihrer Aufhebung und Überwindung gleichgesetzt. HEGEL erklärt:
    "Als  Schranke,  Mangel wird etwas nur gewußt, ja empfunden, indem man zugleich darüber  hinaus  ist ... Es ist ... nur Bewußtlosigkeit nicht einzusehen, daß eben die Bezeichnung von Etwas als einem Endlichen oder Beschränkten den Beweis von der  wirklichen Gegenwart  des Unendlichen, Unbeschränkten enthält, daß das Wissen von Grenze nur sein kann, insofern das Unbegrenzte  diesseits  im Bewußtsein ist." (15)
)Diese Ansicht hat den Grundsatz des Idealismus zur Voraussetzung, daß Begriff und Sein in Wahrheit dasselbe sind und daher alle Vollendung im reinen Medium des Geistes vor sich gehen kann. Eine innere Erneuerung und Erhebung, Reformation und seelischer Aufschwung waren stets der Ausweg, auf den er verwies; soweit das Handeln und Verändern der äußeren Welt überhaupt als wesentlich betrachtet wurde, erschien es als bloße Konsequenz daraus. Der Materialismus behauptet dagegen, daß die objektive Realität nicht mit dem Denken der Menschen identisch ist und niemals in ihm aufgehen kann. So sehr das Denken in seinem eigenen Element das Leben des Gegenstandes nachzubilden und insofern sich ihm anzuschmiegen sucht, so wenig ist doch der Gedanke zugleich der gedachte Gegenstand, es sei denn in der Selbstbeobachtung und Reflexion - und nicht einmal da. Der Begriff eines Mangels ist daher nicht auch schon die Überwindung; Begriffe und Theorien bilden ein Moment seiner Beseitigung, eine Voraussetzung des richtigen Handelns, die in seinem Verlauf fortwährend neu bestimmt, angepaßt und verbessert wird.

Eine isolierte und abschlußhafte Theorie der Wirklichkeit ist schlechterdings undenkbar. Wenn die formale Bestimmung der Wahrheit, die sich durch die ganze Geschichte der Logik hinzieht, daß sie die Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstand sein soll (16), ernst genommen wird, so folgt bereits daraus der Widerspruch zur dogmatischen Auffassung des Denkens. Die Übereinstimmung ist ja weder bloß ein Faktum, eine unmittelbare Tatsache, als die sie in der Evidenz- und Intuitionslehre und der Mystik überhaupt erscheint, noch kommt sie in der reinen Sphäre geistiger Immanenz zustande, wie es in der metaphysischen Legende HEGELs aussieht, stets wird sie vielmehr durch reale Vorgänge, durch menschliche Aktivität hergestellt. Schon beim Erforschen und Feststellen von Tatbeständen, erst recht bei der Verifikation von Theorien spielen die Richtung der Aufmerksamkeit, die Feinheit der Methoden, die Struktur des Kategorienmaterials, kurz die menschliche Aktivität, die der bestimmten gesellschaftlichen Periode entspricht, ihre Rolle. (Über die Frage, inwiefern die von HUSSERL angezeigte "formale Ontologie", die sich "in leerer Allgemeinheit auf eine mögliche Welt überhaupt" (17) oder die formale Apophantik [Merkmalszuweisung - wp], die sich ebenso in einer leeren Allgemeinheit auf alle möglichen Aussagen überhaupt bezieht, oder andere Partien der reinen Logik und Mathematik jeder Verbindung mit dieser Aktivität entbehren und ohne Rücksicht auf eine solche einen wirklichen Erkenntniswert besitzen, soll hier nicht gehandelt werden.)

Mögen gewisse philosophische Interpretationen der Mathematik mit Recht auf die Apriorität, d. h. die Reinheit der mathematischen Konstruktionen von jeder empirischen Anschauung Wert legen, so sind jedenfalls die mathematischen Modelle der theoretischen Physik, in denen der Erkenntniswert der Mathematik sich am Ende ausweist, im Hinblick auf die Vorgänge strukturiert, die sich aufgrund der jeweiligen Entwicklungsstufe der technischen Apparatur herbeiführen und konstatieren lassen. So wenig sich die Mathematik innerhalb ihrer Deduktionen um dieses Verhältnis zu kümmern braucht, so ist doch ihre Gestalt jeweils ebensosehr durch die Steigerung des technischen Vermögens der Menschheit bedingt wie dieses selbst durch die Entfaltung der Mathematik. Die Verifikation und Bewährung von Vorstellungen, die sich auf Mensch und Gesellschaft beziehen, besteht aber nicht bloß in Laboratoriumsexperimenten oder im Aufsuchen von Dokumenten, sondern in geschichtlichen Kämpfen, bei denen die Überzeugung selbst eine wesentliche Rolle spielt. Die falsche Ansicht, daß die gegenwärtige Ordnung ihrem Wesen nach harmonisch ist, bildet ein Moment bei der Erneuerung der Disharmonie und des Niedergangs, sie wird zum Faktor ihrer eigenen praktischen Widerlegung; die richtige Theorie der herrschenden Zustände, die Lehre von der Vertiefung der Krisen und dem Herannahen von Katastrophen finden zwar in allen Einzelheiten eine fortwährende Bestätigung, aber das Bild einer besseren Ordnung, das ihnen innewohnt und an dem sich die Behauptung von der Schlechtigkeit der Gegenwart orientiert, die ihr immanente Vorstellung vom Menschen und seinen Möglichkeiten findet im Verlauf geschichtlicher Kämpfe ihre Bestimmung, Korrektur und Bestätigung. Das Handeln ist daher nicht als Anhängsel, als bloßes Jenseits des Denkens aufzufassen, sondern spielt in der Theorie überall hinein und ist von ihr gar nicht abzulösen. Eben deshalb gewährt hier das bloße Denken nicht die Befriedigung, die Sache fest und sicher zu besitzen und mit ihr vereinigt zu sein. Von den Eroberungen des menschlichen Geistes als einem Faktor bei der Befreiung aus der Übermacht der Natur und bei einer besseren Gestaltung der Verhältnisse kann gewiß nicht hoch genug gedacht werden. Soziale Gruppen und Machthaber, die ihn bekämpften, alle Propagandisten irgendeiner Art von Dunkelheit, hatten ihre lichtscheuen Gründe und haben die Menschen stets in Elend und Knechtschaft geführt. Aber wenn das Wissen in bestimmten historischen Situationen schon durch sein bloßes Dasein Unheil verhindern und zur Macht werden kann, so beruth doch die Bestrebung, es isoliert zum höchsten Ziel und Mittel der Erlösung zu machen, auf einem philosophischen Mißverständnis. Welchen Sinn und Wert ein bestimmtes Wissen hat, läßt sich nicht allgemein und a priori sagen. Dies hängt vielmehr vom jeweiligen Gesamtzustand der Gesellschaft, von der konkreten Situation ab, zu der es gehört. Gedanken, die, isoliert genommen, ihrem Inhalt nach identisch sind, können zu einer Zeit unreif und phantastisch, zur anderen überholt und belanglos sein und doch in einem bestimmten historischen Augenblick Faktoren einer Macht bilden, welche die Welt verändert.

Es gibt kein ewiges Rätsel der Welt, kein Weltgeheimnis, das ein für alle Mal zu ergründen die Mission des Denkens wäre; diese beschränkte Ansicht, die sowohl die dauernde Veränderung der erkennenden Menschen wie ihrer Gegenstände als auch die unüberwindliche Spannung von Begriff und objektiver Realität ignoriert und das Denken als eine magische Kraft verselbständigt und fetischisiert, entspricht heute dem engen Horizont von Individuen und Gruppen, die aus ihrer gefühlten Unfähigkeit, die Welt durch rationale Arbeit zu verändern, nach Universalrezepten greifen, sie zwangshaft festhalten, eintönig memorieren und wiederholen. Indem die Dialektik aus der Verbindung mit dem überspannten Begriff des isolierten, seine Bestimmung aus sich selbst setzenden, in sich vollendeten Denkens gelöst wird, verliert die von ihr bestimmte Theorie notwendig den metaphysischen Charakter der Endgültigkeit, die Weihe einer Offenbarung und wird zu einem in das Schicksal der Menschen verflochtenen, selbst vergänglichen Element.

Die unabgeschlossene Dialektik verliert jedoch darum nicht den Stempel der Wahrheit. In der Tat bildet die Aufdeckung von Bedingtheiten und Einseitigkeiten im fremden und eigenen Denken ein wichtiges Moment des intellektuellen Prozesses. Mit Recht haben HEGEL ebenso wie seine materialistischen Nachfolger stets betont, daß dieser kritische und relativierende Zug notwendig zur Erkenntnis gehört. Aber die Gewißheit und Betätigung der eigenen Überzeugung bedarf nicht der Vorstellung, daß hier nunmehr Begriff und Gegenstand eins geworden sind und das Denken ausruhen kann. Soweit die in der Wahrnehmung und den Schlüssen, der methodischen Forschung und den historischen Ereignissen, der alltäglichen Arbeit und im politischen Kampf gewonnenen Erfahrungen den verfügbaren Erkenntnismitteln standhalten, sind sie die Wahrheit. Die abstrakte Vorstellung, daß sich am eigenen Erkenntnisstand einmal eine berechtigte Kritik betätigen wird, daß er der Korrektur ausgesetzt ist, drückt sich bei den Materialisten nicht in der Liberalität gegen widersprechende Meinungen oder gar in einer skeptischen Unentschiedenheit, sondern in der Wachsamkeit gegen eigene Fehler und in der Beweglichkeit des Denkens aus. Sie sind nicht weniger "objektivistisch" als die reine Logik, wenn sie lehrt, daß die relativistische "Rede von einer subjektiven Wahrheit, die für den Einen diese, für den Anderen die entgegengesetzte ist, eben als widersinnige gelten muß". (18) Da freilich jener übergeschichtliche und daher überspannte Wahrheitsbegriff, der vom Gedanken an einen reinen unendlichen Geist, im letzten Grund also vom Gottesbegriff herrührt, unmöglich ist, hat es keinen Sinn mehr, die Erkenntnis, die wir haben, an dieser Unmöglichkeit zu orientieren und in diesem Sinne relativ zu nennen. Die Theorie, die wir als richtig ansehen, mag einmal verschwinden, weil die praktischen und wissenschaftlichen Interessen, die bei der Begriffsbildung eine Rolle spielten, und vor allem weil die Dinge und Zustände, auf die sie sich bezogen, verschwunden sind. Dann ist diese Wahrheit in der Tat unwiederbringlich dahin, denn es gibt kein übermenschliches Wesen, das, nachdem sich die wirklichen Menschen verändert haben oder gar nachdem die Menschheit ausgestorben ist, die heutige Beziehung zwischen Gedankeninhalten und Gegenständen in seinem allumfassenden Geist festhält. Nur an einer überirdischen, unveränderlichen Existenz gemessen erscheint die menschliche Wahrheit von einer schlechteren Qualität. Soweit sie jedoch notwendig unabgeschlossen und insofern "relativ" bleibt, ist sie zugleich absolut, denn die spätere Korrektur bedeutet nicht, daß ein früher Wahres früher unwahr gewesen ist. Im Fortgang der Erkenntnis wird zwar vieles fälschlich für wahr Gehaltene als verkehrt erwiesen; die Umwälzung der Kategorien rührt jedoch daher, daß von den Kräften, Aufgaben, historischen Veränderungen das Verhältnis von Begriff und Realität im Ganzen und in allen Teilen betroffen und verändert wird. Von der Entschiedenheit, mit der die Menschen aus ihren Erkenntnissen Konsequenzen ziehen, von der Aufgeschlossenheit, mit der sie ihre Theorien der Wirklichkeit anpassen und verfeinern, kurz von der kompromißlosen Anwendung der als wahr erkannten Einsicht hängt zum großen Teil die Richtung und der Ausgang der geschichtlichen Kämpfe ab. Nicht "die" Geschichte besorgt die Korrektur und weitere Bestimmung der Wahrheit, so daß nun das erkennende Subjekt aus dem Bewußtsein heraus, daß auch seine differenzierte Wahrheit, welche die anderen aufgehoben in sich enthält, nicht die ganze ist, bloß zuzusehen braucht, sondern die Wahrheit wird vorwärtsgetrieben, indem die Menschen, die sie haben, unbeugsam zu ihr stehen, sie anwenden und durchsetzen, ihr gemäß handeln, sie gegen alle Widerstände aus zurückgebliebenen, beschränkten, einseitigen Standpunkten zur Macht bringen. Der Prozeß der Erkenntnis schließt ebensosehr das reale geschichtliche Wollen und Handeln wie das Erfahren und Begreifen ein. Dies kann ohne jenes gar nicht vorwärtskommen.

Die von der idealistischen Jllusion befreite Dialektik überwindet den Widerspruch von Relativismus und Dogmatismus. Indem sie den Fortgang der Kritik und Bestimmung bei eigenen Standpunkt nicht beendet wähnt und diesen somit auch nicht hypostasiert, gibt sie keineswegs die Überzeugung preis, daß ihre Erkenntnisse im Gesamtzusammenhang, auf den ihre Urteile und Begriffe bezogen sind, nicht bloß für einzelne Individuen und Gruppen, sondern schlechthin gelten, d. h., daß die entgegengesetzte Theorie falsch ist. Auch die dialektische Logik enthält den Satz vom Widerspruch; seinen metaphysischen Charakter hat er jedoch im Materialismus völlig abgestreift, weil hier ein statisches System von Sätzen über die Wirklichkeit, ja jede geschichtlich nicht vermittelte Beziehung von Begriff und Gegenstand nicht einmal mehr als Idee sinnvoll erscheint. Die dialektische Logik setzt keineswegs die Regeln des Verstandes außer Gültigkeit. Indem sie die Bewegungsformen des fortschreitenden Erkenntnisprozesses zum Gegenstand hat, gehört jedoch auch das Zerbrechen und Umstrukturieren fester Systeme und Kategorien in ihren Bereich und somit das Zusammenwirken aller intellektuellen Kräfte als Moment der menschlichen Praxis überhaupt. In einer Zeit, die in ihrer Auswegslosigkeit alles zum Fetisch zu machen strebt - auch das abstrakte Geschäft des Verstandes, und den verlorenen göttlichen Halt dadurch noch ersetzen möchte, daß ihre Philosophen sich an den scheinbar überzeitlichen Relationen isolierter Begriffe und Sätze als der zeitlosen Wahrheit erfreuen, weist sie auf die Fragwürdigkeit des Interesses an einer solchen "Strenge" und die davon verschiedene Existenz der Wahrheit hin, die von ihr keineswegs geleugnet wird. Wenn es wahr ist, daß einer die Schwindsucht hat, so mag zwar dieser Begriff in der Entwicklung der Medizin umgewandelt werden oder ganz seine Bedeutung verlieren; wer aber heute mit dem gleichen Begriff die entgegengesetzte Diagnose stellt, und zwar nicht in der Richtung einer höheren Einsicht, welche die Feststellung der Schwindsucht bei diesem Mann miteinander schließt, sondern auf demselben Stand der Medizin den Befund verneint, hat unrecht. Die Wahrheit gilt auch für den, der ihr widerspricht, sie ignoriert oder für belanglos erklärt. Nicht was der Einzelne glaubt und von sich denkt, nicht das Subjekt ansich, sondern das Verhältnis der Vorstellungen zur Realität entscheidet über die Wahrheit, und wenn einer sich einbildet, der Abgesandte Gottes oder der Retter eines Volkes zu sein, so entscheidet nicht er darüber, ja nicht einmal die Mehrzahl der Mitmenschen, sondern das Verhältnis seiner Behauptungen und Akte zum objektiven Tatbestand der Rettung. Die Zustände, die jene Meinungen anzeigen, müssen im Gang der Ereignisse wirklich eintreten und sich finden. Es stehen sich gegenwärtig verschiedene Ansichten von der Gesellschaft gegenüber. Nach der einen geht der angesichts des entwickelten Standes des Produktionsapparates und der Technik elende physische und psychischen Zustand der Massen und der kritische Zustand des Ganzen notwendig aus dem Fortbestehen eines veralteten Prinzips der gesellschaftlichen Zusammenarbeit hervor. Nach der anderen liegt es nicht am Prinzip, sondern an seiner Störung oder Übertreibung oder an geistigen, religiösen oder rein biologischen Faktoren. Wahr sind nicht alle zusammen, sondern bloß die Theorie, die das historische Geschehen so tief zu fassen weiß, daß Struktur und Tendenz des gesellschaftlichen Lebens in den verschiedenen Sphären der Kultur mit höchster Annäherung aus ihr zu entwickeln sind. Auch sie macht keine Ausnahme davon, bedingt zu sein wie jeder Gedanke und jeder Geistesinhalt überhaupt, aber der Umstand, daß sie einem bestimmten gesellschaftlichen Standort entspricht, mit dem Horizont und den Interessen gewisser Gruppen zusammenhängt, ändert nichts daran, daß sie auch für die anderen gilt, die ihre Wahrheit leugnen, unterdrücken und schließlich dennoch an sich erfahren müssen.

Hier ist der Ort, den Begriff der Bewährung zu bestimmen, der die Logik mancher sonst einander entgegengesetzter Richtungen beherrscht.
    "... wie wir die Wissenschaft des Arztes", sagt  Epikur (19), "nicht um ihrer Kunstfertigkeit selbst willen, sondern der Gesundheit wegen gut heißen und die Kunst des Steuermanns vermöge ihres Nutzens, weil sie die Methode richtiger Seefahrt beherrscht, nicht aber wegen ihrer Fertigkeit Anerkennung findet, so würde auch die Weisheit, die in der Lebenskunst erblickt werden muß, nicht erstrebt werden, wenn sie nicht etwas leisten würde."
Leistung und Bewährung als Kriterium von Wissenschaft und Wahrheit ist ein Motiv, das in der Geschichte der Philosophie nicht mehr verschwunden ist. GOETHEs Vers: "Was fruchtbar ist, allein ist wahr" und der Satz: "Ich habe bemerkt, daß ich den Gedanken für wahr halte, der für mich fruchtbar ist, sich an mein übriges Denken anschließt und zugleich mich fördert" (20), scheinen eine pragmatische Erkenntnistheorie anzudeuten. Manche Aussprüche NIETZSCHEs haben eine ähnliche Interpretation nahe gelegt:
    "Das Kriterium der Wahrheit liegt in der Steigerung des Machtgefühls. ... Was ist Wahrheit? - Inertia [Trägheit - wp]; die Hypothese, bei welcher Befriedigung entsteht: geringster Verbrauch von geistiger Kraft, usw." (21) "Wahr heißt:  für die Existenz des Menschen zweckmäßig.  Da wir aber die Existenzbedingungen des Menschen sehr genau kennen, so ist, streng genommen, auch die Entscheidung über wahr und unwahr nur auf den Erfolg zu gründen." (22)
Wenn es bei GOETHE und NIETZSCHE der Einordnung solcher Anschauungen, denen widersprechende bei ihnen selbst gegenüberstehen, in die Gesamtheit ihres Denkens bedarf, um den Sinn gehörig zu erfassen, so hat sich dagegen in der Fachphilosophie seit der Mitte des letzten Jahrhunderts eine besondere Schule ausgebildet, die den pragmatistischen Wahrheitsbegriff eindeutig in den Mittelpunkt ihrer Systeme rückt. Entfaltet hat sie sich hauptsächlich in Amerika, wo der Pragmatismus durch WILLIAM JAMES und zuletzt durch JOHN DEWEY zur kennzeichnenden philosophischen Richtung geworden ist. Nach dieser Ansicht entscheidet über den Wahrheitswert von Theorien das, was man mit ihnen zustande bringt. Ihre Kraft, für die geistige und körperliche Existenz der Menschen erwünschte Effekte zustande zu bringen, ist gleichzeitig ihr Kriterium. Die Lebensförderung gilt als Sinn und Maßstab jeder Wissenschaft.
    "Wenn wir von der Wahrheit sprechen, so sprechen wir unserer Theorie gemäß von Wahrheiten in der Mehrzahl, von Führungen, die sich auf dem Gebiet der Tatsachen abspielen und die nur die eigene Eigenschaft gemeinsam haben, daß sie  lohnen." (23)
Eignen sich zwei Theorien gleich gut zur Herbeiführung eines bestimmten erwünschten Effekts, so läßt sich zur Unterscheidung ihres Wertes höchstens noch fragen, ob bei der einen von ihnen mehr geistige Energie verbraucht wird als bei der anderen. Die Bewährung der Gedanken bei der Arbeit ist mit ihrer Wahrheit identisch, und zwar legt der Pragmatismus besonders in der jüngsten Entwicklung das Hauptgewicht nicht so sehr auf die bloße Bestätigung eines Urteils durch das Eintreten der behaupteten Tatbestände, als auf die Förderung der menschlichen Aktivität, auf die Befreiung von jeder Art von inneren Hemmungen, die Steigerung der Persönlichkeit und des Gemeinschaftslebens.
    "Wenn Ideen, Meinungen, Begriffe, Gedanken, Theorien, Systeme bei einer tätigen Neugestaltung der vorhandenen Umgebung, bei einer Überwindung irgendeiner bestimmten Störung und Schwierigkeit behilflich sind, dann liegt das Zeugnis ihrer Gültigkeit und ihres Werts darin, daß dieses Werk vollendet wird. Wenn sie in ihrer Funktion Erfolg haben, sind sie zuverlässig, gesund, gültig, wahr. Wenn sie dabei versagen, Verwirrung aufzuklären, Gebrechen auszuscheiden, wenn sie bei ihrer Anwendung Verwirrung, Unsicherheit und Schaden vermehren, dann sind sie falsch. Bestätigung, Bewährung, Beweis liegt in Werken, Konsequenzen. ... Das, was uns wahrhaft führt, ist wahr, und die bewiesene Fähigkeit für eine solche Führung ist genau das, was unter Wahrheit verstanden wird." (24)
Diese Ansicht ist mit dem Positivismus in Frankreich eng verwandt. Hätte BERGSON nicht den pragmatistisch eingeengten utilitaristischen Begriff der Wissenschaft von COMTE übernommen, wäre das Bedürfnis nach einer davon getrennten, sie ergänzenden, vitalistischen Metaphysik nicht zu verstehen. Die isolierte Intuition ist der Wunschtraum nach objektiver Wahrheit, den die Annahme der pragmatischen Erkenntnistheorie bei einer kontemplativen Existenz erzeugen muß. Der pragmatische Wahrheitsbegriff in seiner Ausschließlichkeit, sofern er also durch keine gegensätzliche Metaphysik ergänzt wird, entspricht dem grenzenlosen Vertrauen in die bestehende Welt. Wenn der Güte jedes Gedankens Zeit und Gelegenheit gegeben ist, an den Tag zu kommen, wenn der Erfolg des Wahren - und sei es auch nach Kampf und Widerstand - am Ende immer sicher ist, wenn die Idee einer gefährlichen, sprengenden Wahrheit überhaupt nicht in den Gesichtskreis treten kann, dann ist die gegenwärtige gesellschaftliche Form geheiligt und - soweit sie Schäden aufweist - unabsehbar entwicklungsfähig. Im Pragmatismus steckt der Glaube an Bestand und Vorzüge der freien Konkurrenz. Wo er, soweit die Gegenwart in Frage steht, durch ein Gefühl für das herrschende Unrecht erschüttert ist, wie in der weitgehend pragmatistischen Philosophie ERNST MACHs, bildet das Problem der notwendigen Änderung eher ein persönliches Bekenntnis, einen utopistischen, mit dem übrigen Teil bloß äußerlich verbundenen Zusatz als ein die Begriffsbildung organisierendes Prinzip. Aus der empiriokritischen Denkart ist jenes Ideal daher leicht abzulösen, ohne ihr Gewalt anzutun.
LITERATUR: Max Horkheimer, Zum Problem der Wahrheit, Zeitschrift für Sozialforschung, Jahrgang IV, Paris 1935, Heft 3
    Anmerkungen
    1) CHRISTOPH SIGWART, Logik, Bd. 1, Freiburg i. Br. 1889, Seite 111.
    2) KANT, Prolegomena, § 13, Anmerkung III. Akademie-Ausgabe, Bd. IV, Seite 293.
    3) EDMUND HUSSERL, Formale und transzendentale Logik, Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, Bd. X, Halle 1929, Seite 241.
    4) HORKHEIMER, Materialismus und Metaphysik, Zeitschrift für Sozialforschung, Jahrgang 1933, Seite 28f.
    5) Vgl. JULIUS SEELYE BIXLER, Religion in the Philosophy of William James, Boston 1926, Seite 126f.
    6) WILLIAM JAMES, Human Immortality, Boston and New York 1898, Seite 26-27.
    7) FERDINAND CANNING SCOTT SCHILLER, Riddles of the Sphinx, London 1891, Seite 293f.
    8) HEGEL, Phänomenologie des Geistes, Werke, Originalausgabe, Bd. II, erste Auflage, Seite 39.
    9) HEGEL, Phänomenologie, a. a. O., Seite 65.
    10) HEGEL, Vorlesungen über die Ästhetik, Bd. 1, a. a. O., Bd. XI, erste Auflage, Seite 130-132.
    11) HEGEL, Ästhetik, a. a. O.
    12) TRENDELENBURG, Logische Untersuchungen, Leipzig 1870, Bd. 1, Seite 42f.
    13) vgl. HEGEL, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, a. a. O., Bd. IX, zweite Auflage, Seite 425.
    14) HEGEL, Phänomenologie, a. a. O., Bd. II, erste Auflage, Seite 292.
    15) HEGEL, Enzyklopädie, a. a. O., § 60, Bd. VI, erste Auflage, Seite 121.
    16) vgl. HEGEL, Wissenschaft der Logik, a. a. O., Bd. V, erste Auflage, Seite 26
    17) EDMUND HUSSERL, Formale und transzendentale Logik, a. a. O., Seite 240.
    18) HUSSERL, Logische Untersuchungen, Bd. I, Halle/Saale 1913, Seite 115.
    19) Die Nachsokratiker, übersetzt von WILHELM NESTLE, Bd. 1, Jena 1923, Seite 202.
    20) GOETHE, Brief an ZELTER, 31. 12. 1829
    21) NIETZSCHE, Der Wille zur Macht, Werke Bd. XVI, Leipzig 1911, Seite 45-46.
    22) NIETZSCHE, Nachlaß, ebd. Bd. XI, Seite 186.
    23) WILLIAM JAMES, Pragmatismus, übersetzt von WILHELM JERUSALEM, Leipzig 1908, Seite 137.
    24) JOHN DEWEY, Reconstruction in Philosophy, New York 1920, Seite 156.