tb-2 R. AvenariusV. KraftE. MachM. SchlickA. Comte    
 
FRIEDRICH ÜBERWEG
Die positivistische Philosophie
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II. Der Empiriokritizismus

Die zweite Form von Wirklichkeitsphilosophie, der  Empiriokritizismus,  will den Phänomenalismus beseitigen und zum natürlichen Weltbegriff, d. h. zum naiven Realismus, zurückkehren. Dieser Standpunkt ist von zwei Forschern, von AVENARIUS und MACH, unabhängig voneinander begründet worden. Es besteht nach ihrer Lehre kein Gegensatz zwischen Außenwelt und Innenwelt, beides sind erst nachträgliche Abgrenzungen bestimmter Bezirke in der ansich einheitlichen Wirklichkeit. Die Wirklichkeit befindet sich jenseits jenes Gegensatzes, sie besteht in allen ihren Teilen aus Empfindungsinhalten, die nur in der Intensität verschieden sind (eigentliche Empfindungen einerseits - Gedanken, Vorstellungen andererseits). Während AVENARIUS daneben noch besondere "Charaktere" anerkennt (Gefühle und anderes), löst MACH auch sie in Empfindungen auf. Das Ziel allen Erkennens ist nach beiden eine metaphysik- und hypothesenfreie, reine Deskription der Wirklichkeit. Die Frage nach dem Wahrheitswert des Erkennens tritt bei beiden Forschern völlig in den Hintergrund gegenüber der Betonung ihres biologischen Wertes. MACH legt vornehmlich Geicht auf die ökonomische Natur der wissenschaftlichen Erkenntnis: sie erspart Erfahrungen. Auch die Mathematik besitzt keine höhere Dignität. Der Empiriokritizismus, besonders in der von MACH gelehrten Gestalt, hat in physikalischen Kreisen nicht unerheblichen Einfluß gewonnen.

Avenarius' Schriften.  Über die beiden ersten Phasen des spinozistischen Pantheismus und das Verhältnis der zweiten zur dritten Phase usw. (Dissertation), Leipzig 1868. Philosophie als Denken der Welt gemäß dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes. Prolegomena zu einer Kritik der reinen Erfahrung (Habilitationsschrift), Leipzig 1876. Kritik der reinen Erfahrung, 2 Bde., 1888-90. Der menschliche Weltbegriff, Leipzig 1891. 3. Auflage vermehrt um SCHUPPEs offenen Brief über die "Bestätigung des naiven Realismus" und AVENARIUS' Bemerkungen zur Begründung des Gegenstandes der Psychologie, Leipzig 1912. Bemerkungen zum Begriff des Gegenstandes der Psycholgie, Vierteljahrsschrift 18 und 19, 1894-95. Posthum erschienen: Zur Terminalfunktion, Zeitschrift für positivistische Philosophie, Bd. 1, 1913. Autoreferat von AVENARIUS über die angegebenen Schriften, ebenda. Über AVENARIUS Nachlaß vgl. RAAB, Die Philosophie von RICHARD AVENARIUS, Leipzig 1912, Seite 5.

Seit 1877 gab AVENARIUS unter Mitwirkung von CARL GÖRING, MAX HEINZE und WILHELM WUNDT die "Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie" heraus. Nachdem GÖRING schon 1873 gestorben war, trat später WUNDT von der Mitwirkung zurück und ALOIS RIEHL an seine Stelle. Nach dem Tod von AVENARIUS wurde sie von FRIEDRICH CARSTANJEN und OTTO KREBS unter Mitwirkung von ERNST MACH und ALOIS RIEHL herausgegeben; später redigierte sie PAUL BARTH unter Mitwirkung der Letztgenannten. Seit 1902 hat sie die Soziologie mit in ihren Bereich gezogen. Die Zeitschrift vertrat von vornherein den Standpunkt, daß Wissenschaft und Philosophie nur auf der Grundlage der Erfahrung möglich sind. Ende 1916 ging sie ein.

RICHARD AVENARIUS, geb. 1843 in Paris, 1876 Privatdozent in Leipzig, seit 1877, Professor der induktiven Philosophie in Zürich, gestorben 1896, ist der Begründer des  Empiriokritizismus,  den er in langjähriger Gedankenarbeit mit vielem Scharfsinn zu einem geschlossenen System auszubilden bemüht gewesen ist. Dasselbe fand zunächst wenig Beachtung. Seine Kenntnisnahme ist dadurch erschwert, daß AVENARIUS sich eine besondere philosophische Terminologie geschaffen hat. Diese formale Schwerverständlichkeit der "Kritik der reinen Erfahrung" hat nicht selten zu einer bedeutenden Überschätzung ihres Gedankengehalts geführt. Namentlich die Anfangspartien des Werkes lassen ansich recht banale, dem Verständnis keinerlei Schwierigkeiten bietende biologische Tatsachen durch die neue Terminologie als wenig durchsichtige, schwierige Dinge erscheinen. Die Tendenz, die AVENARIUS mit seiner Terminologie sowie der Anwendung einer zum Teil algebraisch formelhaften Darstellung verfolgt, ist die möglichst großer logischer Strenge und möglichst vollständiger Fernhaltung fremder Anschauungen. Die ganze Darstellungsweies erinnert etwas an SPINOZAs  mos geometricus,  durch den ebenfalls die Unbeweisbarkeit und völlige Willkür einzelner Annahmen für den Unkundigen verdeckt wird. Die Hauptpunkte der "Kritik der reinen Erfahrung" finden sich in zugänglicherer Gestalt dargelegt im "Menschlichen Weltbegriff", der alle wesentlichen Gedanken von AVENARIUS zusammenfaßt.

AVENARIUS steht im Gegensatz zu aller Philosophie, die Gemütstendenzen einen Einfluß auf das Denken gestattet. Die Ausscheidung aller metaphysischen Bestandteile aus unserer Erkenntnis und die Herausarbeitung der reinen Erfahrung ist sein Ziel. Seine Philosophie erhebt deshalb den Anspruch, strengste Wissenschaft zu sein. Von den positiven Wissenschaften hat besonders die Physiologie (CARL LUDWIG) bedeutenden Einfluß auf ihn gewonnen.

Der Standpunkt von AVENARIUS ist weder materialistisch noch idealistisch, weder monistisch im gewöhnlichen Sinne noch dualistisch, er negiert viemehr das Bestehen eines Gegensatzes im gewöhnlichen Sinne zwischen Physischem und Psychischem, er macht weder dieses zu einem Produkt von jenem, noch jenes zu einer bloßen Erscheinung von diesem. AVENARIUS nimmt vielmehr an, daß das Wirkliche jenseits und vor diesem Gegensatz gelegen ist. Er kehrt mit seiner Philosophie zum "natürliche Weltbegriff" zurück. "Jedes menschliche Individuum nimmt ursprünglich sich gegenüber eine Umgebung mit mannigfaltigen Bestandteilen, andere menschliche Individuen mit mannigfaltigen Aussagen und das Ausgesagte in irgendwelcher Abhängigkeit von der Umgebung an." Beide, das Individuum und die Welt-Umgebung, sind nicht toto genere [im Großen und Ganzen - wp], spezifisch verschieden, beide sind vielmehr in gleicher Weise Vorgefundendes. "Ich und die Umgebung stehen hinsichtlich des Gegebenseins vollständig auf gleicher Stufe: ich erfahre die Umgebung in genau demselben Sinn wie mich - als Zugehörige  einer  Erfahrung und beide Erfahrungswerte, Ich und Umgebung, sind in jeder Erfahrung, welche sich verwirklicht, einander prinzipiell zugeordnet und gleichwertig" ("empiriokritische Prinzipalkoordination").

Beide, Umgebung und Individuum, stehen in durchgängiger Abhängigkeit voneinander. Diese verschiedenen Abhängigkeitsrelationen fixiert nun AVENARIUS eingehend, unter Zuhilfenahme von Buchstabenbezeichnungen und neuer Termini. Er bezeichnet z. B. die Umgebung mit  R;  das Nervensystem des Individuums nennt er  C;  die von  C  aufgenommene Nahrung  S.  AVENARIUS spricht demgemäß von R-Werten, C-Werten usw.  C,  das Nervensystem, ist in doppelter Weise Veränderungen ausgesetzt, einerseits durch Reize seitens der Außenwelt  R,  andererseits durch die Aufnahme der Nahrung  S.  Jedes der beiden Momente bedeutet eine Änderung des Systems  C,  die unablässig zunehmen würde, wenn nicht das andere Moment in umgekehrter Richtung dem entgegenwirken würde: AVENARIUS nimmt an, daß Reiz und Ernährung einander entgegengesetzte Prozesse sind, - eine universelle Verallgemeinerung der Tatsache, daß die durch Reize hervorgerufene Erschöpfung durch Nahrungsaufnahme wieder ausgeglichen wird und ähnlicher Tatsachen. Wenn die durch  R  hervorgerufene Veränderung  f (R)  -  f  ist dabei das gewöhnliche mathematische Funktionszeichen - und die durch  S  hervorgerufene Veränderung  f (S)  gleich groß sind, so bleibt das System  C  im Ruhezustand, da  f (R)  und  f (S)  sich gegenseitig aufheben:  f (R)  = -  f (S)  (die "Vitaldifferenz"). Es ist  f (R) + f (S) = O.  In manchen Fällen ist aber  f (R) + f (S) > O,  d. h. das System  C  erfährt eine positive Veränderung. In diesem Fall geht nun nach AVENARIUS das System  C  spontan "infolge seiner eigenen Zusammensetzung zu sekundären Änderungen" über, die jenen ersten Änderungen entgegenwirken und das System  C  in seinen ursprünglichen Zustand ("Erhaltungsmaximum" zurückzuführen streben (wobei das Wort  streben  nicht in irgendeinem psychologischen Sinn, sondern rein bildlich zu verstehen ist). AVENARIUS nennt diese spontane sanierende Reaktion des Systems  C  auf die eingetretene Schädigung eine "unabhängige Vitalreihe", d. h. einen Lebensprozeß, den das System  C  ganz von sich aus vollbringt. AVENARIUS unterscheidet in ihm drei Abschnitte,
    1. den Eintritt der Vitaldifferenz: den Initialabschnitt,
    2. das Ende (das Wiedereintreten des früheren Zustandes): den Finalabschnitt,
    3. die dazwischen liegende Periode: den Medialabschnitt.
Dieser vitale Prozeß wird von AVENARIUS wieder im einzelnen in rein formaler Weise näher zu bestimmen versucht, wobei Vitalreihen und -differenzen erster und höherer Ordnung unterschieden werden. Die Aufhebung einer Vitaldifferenz ist immer nur in dem Sinne und Umfang möglich, wie das System  C  eine "Vorbereitung" darauf aufweist. Zu den "präparatorischen Änderungen" gehören unter anderem einerseits die Anlagen, die das ganze Leben hindurch gesetzten Übungen verschiedener Art, die normalen typischen Entwicklungen (Wachstum, Pubertät, Involution [Rückbildung eines Organs - wp] und senile Rückbildungsprozesse), andererseits die pathologischen Dispositionen und Veränderungen. - Zwei oder mehrere Systeme  C,  die in einem solchen Verhältnis zueinander stehen, daß das eine im anderen Vitaldifferenzen hervorruft oder aufhebt, nennt AVENARIUS ein "Kongregalsystem". Wie die einzelnen Systeme  C  hinsichtlich ihrer Erhaltung an bestimmte Bedingungen gebunden sind, so auch das Gesamtsystem.

Neben  R, S  und  C  ist ein ebenso wichtiger Faktor im System von AVENARIUS der Fakter  E,  d. h. die "Aussageinhalte", unter denen sich auch die "Erfahrung" befindet. Dieselben sind direkt abhängig von  C  und, soweit sie echte Erfahrungen sind, auch von  R.  Diese "Abhängigen", die E-Werte, treten auf als "Elemente" oder "Charaktere". Unter "Elementen" versteht AVENARIUS die gewöhnlich sogenannten Empfindungsinhalte (grün, kalt, hart, süß), unter "Charakteren" Lust und Unlust als das "Affektional" (angenehm, unangenehm, wohltuend, widerwärtig), aber auch Eigenschaften wie bedrücken, erleichternd (das "Koaffektional"), ferner das "Idential" (Dasselbigkeit und Andersheit), das "Fidential" (heimelig und unheimlich) "mit den drei Spezialisierungen in das Existential:  Sein - Schein - Nichtsein,  in das Sekural:  Sicherheit - Unsicherheit,  in das Notal:  Bekanntheit - Unbekanntheit  und anderes. Die "Charaktere" stellen also eine sehr vielartige Klasse dar. Sie können noch in vielfacher Weise "modifiziert" werden. Modifikationen des Affektionals und Koaffektionals sind: Aktivität, Passivität, Körperliches, Geistiges usw., des Identials: Gleichheit, Ähnlichkeit, Beharrung, Änderung, Allheit, Allgemeinheit, Gesetz, Ganzes, Teil usw.; auch  Wahrnehmung  und  Vorstellung  sind Charaktere und zwar "Positionalcharaktere". - Durch eine dem Verlauf einer Systemschwankung entsprechende Aneinanderreihung der gefundenen einzelnen "Abhängigen" (E-Werte) erhält man die "abhängige Vitalreihe", also eine Reihe von Lebenserscheinungen, die nicht unabhängig verlaufen, sondern von  C  abhängen. Eine "Erkenntnis" liegt vor, wenn im Initialabschnitt die Charakteristik "unbekannt", im Finalabschnitt "bekannt" lautet. - Es ergibt sich somit, daß AVENARIUS einen Standpunkt vertritt, nach welchem Aussagen wie: seiend, nichtseiend, gleich, ähnlich, wahrgenommen, vorgestellt usw. sozusagen gar keine  objektiv-logische  Bedeutung und keinen Wahrheits- bzw. Unwahrheitsgehalt im gewöhnlichen Sinne mehr besitzen, sondern lediglich "Charaktere" sind, die vom Lauf des biologischen Geschehens abhängen und sich mit ihm wandeln. Eben darum kann mit Recht von einer extremen  biologischen  Tendenz in AVENARIUS' Philosophie gesprochen werden. Er streift allen intellektuellen Momenten ihre eigentliche logische Bedeutung völlig ab. In diesem Zusammenhang wird dann auch erst völlig deutlich, welchen Sinn es hat, daß er die wirklich seiende Welt, von der er ausging, als jenseits der Gegensätze "physisch" und "psychisch" befindlich bezeichnet. Beides sind eben nur "Charaktere", die infolge von biologischen Abhängigkeitsrelationen entstehen, nicht aber schon zuvor und ansich vorhanden sind. Das gleiche müßte, wie man sieht, streng genommen dann auch von allen anderen Charakteren: Sein, Nichtsein, identisch, gleich, ähnlich usw. gelten. (Es liegt hier eine der unhaltbarsten Stellen im Empiriokritizismus.) Dem entspricht, daß nach AVENARIUS "Sache" (Realität) und "Gedanke" nur graduell verschiedene Setzungsformen der gleichen Elementenkomplexe sind. Der Gedanke ist abgeblaßte Empfindung (in gewöhnlicher Ausdrucksweise). Aber nicht nur in der Intensität, auch im "Setzungscharakter" sind "Sache" und "Gedanke" verschieden. Jene ist als "Wahrgenommenes", dieser als "Vorgestelltes" charakterisiert. Jeder Elementenkomplex kann so oder so charakterisiert sein.

Es besteht nun nach AVENARIUS in den C-Systemen, mit anderen Worten in den Menschen, eine Tendenz, die darauf gerichtet ist, aus dem Weltbegriff (den "E-Werten") im Laufe der geschichtlichen Entwicklung allmählich alles auszuschalten, was nicht reine Erfahrung, sondern unempirischer Zusatz ist. Am Ende der Entwicklung steht der  natürliche Weltbegriff,  derjenige, von welchem die Entwicklung ausging. Derselbe ist rein deskriptiver Art, ohne irgendetwas hinzuzufügen, ist also ein Denken der Welt mit dem geringsten Kraftaufwand. Alle anderen Weltbegriffe sind Verunstaltungen, Variationen dieses natürliche Weltbegriffs.

Die wichtigste und folgenreichste Verunstaltung ist die der  "Introjektion":  Für den Menschen  M  bedeuten die Bewegungen und Laute eines Mitmenschen  T  noch etwas anderes als Bewegungen. Solange dieses andere für  M  nichts weiter bedeutet, als daß mit den Bewegungen oder Lauten etwas Gleiches bei  T  wie bei  M,  etwa ein Affekt oder eine Wahrnehmung, anzunehmen sei, bleibt  M  auf dem Boden des natürlichen Weltbegriffs. Nun legt aber  M  ohne weiteres unwillkürlich in den Mitmenschen  T  Wahrnehmungen der von ihm (M) vorgefundenen Sachen hinein, aber auch Denken, Gefühl und Willen und, sofern das alles als Erfahrung und Denken bezeichnet wird, auch Erfahrung und Erkenntnis überhaupt. Diese "Einlegung" ist es, die AVENARIUS als "Introjektion" bezeichnet. Durch diese Introjektion ist die natürliche Einheit der empirischen Welt gespalten: in eine Außenwelt und eine Innenwelt, in das Objekt und das Subjekt. Die Introjektioin erfolgt aber nicht nur von seiten des  M  in bezug auf  T,  sondern auch umgekehrt von seiten des  T  in bezug auf  M.  Die Individuen "erfahren", daß sie selbst eine äußere und innere Welt, eine äußere und innere Erfahrung haben. Bald wird auch noch ein Doppelindividuum  T1  und  T2  "erfahren".  T2  ist das innere Individuum, das  T1  bewegt und aus ihm spricht. Auf diesem Weg entstehen die Vorstellungen: Seele, Unsterblichkeit, Geist, ferner die Unterscheidung des durch die Sinne vermittelten Empirischen und des nicht durch die Sinne vermittelten Nicht-Empirischen, die Zerlegung der Wahrnehmungen in sinnliche Empfindung und eine nicht-sinnliche Zutat. Diese Entwicklungen enden damit, daß Gegenstand und Erkenntnis oder  Sein  und  Denken  einander unvergleichbar und einander unerreichbar werden. Der Gegenstand bleibt ewig draußen, das Denken (die Erkenntnis) ewig drinnen. Das Denken kommt nicht zum Sein und das Sein nicht in das Bewußtsein. - Eine andere Folge der Introjektion ist die Auffassung, daß das Gehirn Sitz, Erzeuger oder Organ des Denkens ist. Zwischen dem sogenannten Physischen und Psychischen besteht vielmehr lediglich eine bloß  logische Funktionalbeziehung,  keine Wechselwirkung, auch kein prinzipieller Parallelismus. Die gewöhnliche Frage nach dem Verhältnis von Leib und Seele ist durchaus falsch gestellt, eine Folge der Introjektion. Deren Beseitigung ist die Voraussetzung einer Wiederherstellung des natürlichen Weltbegriffs.

Die Psychologie definiert AVENARIUS (vgl. MACH) als die Behandlung der Erfahrung, insofern sie vom System  C  abhängig ist; dieser Auffassung hat seiner Zeit auch KÜLPE zugestimmt, er glaubt selbst die Psychologie von diesem Standpunkt zuerst in seinem "Grundriß der Psychologie", Leipzig 1893, dargestellt zu haben.

Die Schule von Avenarius.  Als Schüler bzw. Anhänger von AVENARIUS sind zu nennen: RUDOLF WILLY (geb. 1855 in Mels, Kanton St. Gallen), Die Krisis in der Psychologie, Leipzig 1899 (Übereinstimmungen mit BERGSON), Gegen die Schulweisheit - eine Kritik der Philosophie, München 1905, Die Gesamterfahrung vom Gesichtspunkt des Primärmonismus, Zürich 1908, Ideal und Leben, Zürich 1909. FRIEDRICH CARSTANJEN (Zürich). EMIL KOCH, Das Bewußtsein der Transzendenz oder die Wirklichkeit, Halle 1895, Die Psychologie in den Religionswissenschaft, Freiburg 1896. CARL HAUPTMANN, geboren 1858 in Obersalzbrunn, Bruder GERHART HAUPTMANNs, auch selbst Dichter, in Schreiberhau lebend, Die Metaphysik in der modernen Psychologie, Jena 1893, Unsere Wirklichkeit, München 1899, wendet sich gegen die Verwendung psychischer Ursachen in der Biologie. Der Organismus muß als Mechanismus begriffen werden. - Einen Teil der empiriokritizistischen Lehren vertritt auch KARL DUNKMANN, Das Problem der Freiheit in der gegenwärtigen Philosophie und das Postulat der Theologie, Aurich-Halle 1899. Ferner ist der Theologe KARL HEIM (Tübingen) von AVENARIUS beeinflußt: Psychologismus oder Anti-Psychologismus, Berlin 1902, Das Weltbild der Zukunft, Berlin 1904, Glaubensgewißheit, Leipzig 1916 u. a.

JOSEPH PETZOLDT, geb. 1862 in Altenburg, Gymnasialprofessor in Spandau und Privatdozent an der Technischen Hochschule in Charlottenburg, unternahm mit Erfolg AVENARIUS' Gedankensystem in faßlicherer Form darzustellen, es gleichzeitig fortbildend und mit MACHs sowie SCHUPPEs Ideen in Beziehung setzend; Maxima, Minima und Ökonomie, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie 1890, Einführung in die Philosophie der reinen Erfahrung, 2 Bde., Leipzig 1899. Das Weltproblem vom Standpunkt des relativistischen Positivismus aus historisch-kritischer Sicht dargestellt, Leipzig 1906. Die Stellung der Relativitätstheorie in der geistigen Entwicklung der Menschheit, Dresden 1920. PETZOLDTs Weiterbildung des Empiriokritizismus gilt besonders den Charakteren, der Lehre vom ethischen und ästhetischen Dauerbestand der Menschheit, sowie der Ausbildung des Relativismus, der im Empiriokritizismus enthalten ist. Alle Eigenschaften der Welt gelten nur relativ zum Subjekt; es gilt sich von der Vorstellung eines absoluten, nicht relativen Seins überhaupt loszumachen.

Machs Schriften.  Die Geschicht und die Wurzel des Satzes von der Erhaltung der Arbeit, Prag 1872. Grundlinien der Lehre von den Bewegungsempfindungen, Leipzig 1875. Die Mechanik in ihrer Entwicklung historisch-kritisch dargestellt, Leipzig 1883. Beiträge zu einer Analyse der Empfindungen, Jena 1886, Die Analyse der Empfindungen und des Verhältnisses des Physischen zum Psychischen, Jena 1900. Die Prinzipien der Wärmelehre - historisch-kritisch entwickelt, Leipzig 1896. Über das Prinzip der Vergleichung in der Physik, Leipzig 1894. Populärwissenschaftliche Vorlesungen, Leipzig 1896. Erkenntnis und Irrtum, Skizzen zur Psychologie der Forschung, Leipzig 1905. Die Leitgedanken meiner naturwissenschaftlichen Erklärungen und ihre Aufnahme durch die Zeitgenossen, Scientia Bd. 10, 1910, als Buch Leipzig 1919. Die Prinzipien der physikalischen Optik, Leipzig 1921.

ERNST MACH - geb. 1838 in Turas in Mähren, habilitierte sich 1861 in Wien für Physik, 1864 Professor der Mathematik in Graz, 1867 der Physik in Wien, 1895 ebd. Professor der Philosophie mit dem Auftrag, besonders Geschichte und Theorie der induktiven Wissenschaften zu lesen, 1901 aus Gesundheitsrücksichten zurückgetreten - steht dem Empiriokritizismus AVENARIUS' überaus nahe, ohne daß irgendwelche Abhängigkeit zwischen ihnen vorläge. Im Gegensatz zu AVENARIUS ist MACH ein gewandter Schriftsteller, dem selbst im höheren Sinne populäre Darstellung möglich ist. MACHs philosophische Forschungen liegen sämtlich auf erkenntnistheoretischem Gebiet. Auch er teilt den antimetaphysischen Zug seiner Zeit. Aber mehr noch, MACH ist auch Antikritizist. Zwar empfing auch sein Denken von KANT den entscheidenden Anstoß, aber es war ein Anstoß, der ihn in eine dem Kritizismus entgegengesetzte Richtung trieb. MACH ist  reiner Empirist  und lehnt alle apriorischen Bestandteil der Erkenntnis und lehnt alle apriorischen Bestandteile der Erkenntnis ab. Alle Wissenschaft ist nach ihm von der Wahrnehmung ausgehende begriffliche Charakterisierung der Teile und Seiten und schließlich auch des Ganzen einer Tatsache. Nähert sich MACH in diesem Punkt dem reinen Positivismus, so geht er in einem anderen Punkt noch über ihn hinaus, insofern er den Unterschied zwischen Erscheinung und Ding ansich völlig beseitigt wissen will. MACH fordert eine Wiederherstellung des ismus in einem ähnlichen Sinn, wie er bereits von BERKELEY vertreten worden ist. (Eine Abhängigkeit MACHs von BERKELEY liegt nicht vor.) Die Empfindungen und die Dinge sind nach ihm ein und dasselbe. Die Annahme KANTs, daß hinter den Empfindungen  Dinge ansich  stehen, ist nach MACH völlig überflüssig; eine Überzeugung, der er bereits mit 17 Jahren gewann und an der er Zeit seines Lebens festgehalten hat. "... Ich empfand plötzlich die müßige Rolle, welche das Ding ansich spielt. An einem heiteren Sommertag im Freien erschien mir einmal die Welt samt meinem Ich als eine zusammenhängende Masse von Empfindungen, nur im Ich stärker zusammenhängend. Obgleich die eigentliche Reflexion sich erst später hinzugesellte, so ist doch dieser Moment für meine ganze Anschauung bestimmend geworden" (Analyse der Empfindungen, Seite 24). Aus dieser Preisgabe des Dings ansich ergibt sich, daß auch die Physik es genauso wie die Psychologie allein mit den Empfindungen zu tun hat. MACH weicht dieser Konsequenz nicht aus, sondern bekennt sich ohne Einschränkung zu ihr und sieht gerade in ihr ein wesentliches Verdienst seiner erkenntnistheoretischen Bemühungen. Auch den  Substanzbegriff  gibt er preis. Es sei ganz irrig, daß ein Gegenstandt derselbe bleiben könne, wenn sich seine Eigenschaften ändern. Ein Körper ist nichts weiter als "eine verhältnismäßig beständige Summe von Tast- und Lichtempfindungen, die an dieselben Raum- und Zeitempfindungen geknüpft ist", genau gesehen freilich meist in dauernder Veränderung begriffen und deshalb in Wirklichkeit in keinem Moment identisch derselbe Körper ist. Relativ am beharrlichsten in den als Körper bezeichneten Sinnesempfindungskomplexen sind in der Regel die Tastempfindungen. MACHs Realismus geht so weit, daß er es als falsch bezeichnet, wenn vulgärerweise Wirklichkeit und Schein einander gegenübergestellt und etwa gesagt wird: ein ins Wasser getauchter Bleistift erscheint geknickt, ohne es in Wirklichkeit zu sein. MACH sagt: optisch ist er wirklich geknickt, haptisch und metrisch dagegen gerade. Der strenge Empirismus MACHs zeigt sich auch in seiner gegen den  Kausalbegriff  als fetischistisch gerichteten Polemik. Er bestreitet zunächst seine Apriorität, die Entstehung des Kausalprinzips lasse sich beobachten. In der Wissenschaft habe aber auch ein so geläuterter Kausalbegriff keinen Raum. Er ist zu ersetzen durch den metaphysikfreien mathematischen  Funktionsbegriff der auch der Tatsache, daß alle unmittelbaren Abhängigkeiten der Natur gegenseitige und simultane sind, gerecht wird, während nach der gewöhnlichen Kausalvorstellung eine Sukzession von Ursache und Wirkung und keine Gegenseitigkeit der Abhängigkeit besteht. - Wie MACH das Ding ansich beseitigt, läßt er auch das  Ich  im LEIBNIZ-LOTZEschen Sinn nicht gelten. Auch das Ich ist nichts anderes als ein Komplex, dessen Glieder erstens ein menschlicher Körpter und zweitens an ihn gebundene Erinnerungen, Stimmungen, Gefühle sind: "Nicht das Ich ist das Primäre, sondern die Elemente." Der Körper (als Empfindungskomplex) nimmt nach MACH in der Konstitution des Ich eine sehr wichtige Stelle ein, wie seine bekannte zeichnerische Jllustration der  Selbstanschauung des Ich  in der "Analyse der Empfindungen" zeigt. Die dauernde Identität des Ich im Wechsel der Zeit ist eine bloße Täuschung. Nur eint Teil des ganzen Empfindungskomplexes bleibt bestehen. Auch die sogenannten inneren Vorgänge, die Vorstellungen und die Gefühle sind nach MACH nichts weiter als Empfindungen. Der Unterschied beschränkt sich im wesentlichen auf Unterschiede der Deutlichkeit. Auch Lust und Unlust sind Sinnesempfindungen, nur nicht so gut analysiert als andere Empfindungen.

Der Unterschied zwischen  Physik  und  Psychologie  beruth lediglich auf der Richtung der Betrachtungsweise. Die Physik behandelt die Beziehungen der Empfindungen, welche die Außenwelt darstellen, untereinander, abgesehen von ihrer Beziehung zum menschlichen Organismus, der auch nur ein Empfindungskomplex ist. Die Psychologie dagegen erforscht gerade die Abhängigkeitsverhältnisse zwischen beiden. Gewöhnlich wird der Komplex von Empfindungen, den wir Außenwelt nennen, als völlig selbständig betrachtet. Das ist irrig. Es genügt, daß wir z. B. Santonin einnehmen und sofort erscheinen uns alle weißen Gegenstände gelb; es genügt, den Sehnerv zu durchschneiden und es verschwinden die visuellen Empfindungsbestandteile des Komplexes "Außenwelt".

Neben dem Pansensualismus MACHs ist der wichtigste Punkt seiner Lehre seine  ökonomische Auffassung  des wissenschaftlichen Denkens. Nach der gewöhnlichen Auffassung sind die Naturgesetze Regeln, nach welchen sich die Vorgänge der Natur richten müssen. Diese Anschauung enthält zweifellos ein metaphysisches Moment in sich, das Postulat der unveränderlichen Gesetzlichkeit des Naturlaufs. Anstatt aber aus dem induktiven Charakter der Naturgesetze auf ihre nur bedingte Richtigkeit zu schließen, geht MACH von der subjektiven Seite aus (Erkenntnis und Irrtum, 1. Auflage, Seite 441f) und bezeichnet die  Naturgesetze  als Einschränkungen, die wir unter Leitung der Erfahrung unseren Erwartungen, seien sie nun theoretischer oder praktischer Art, vorschreiben. "GALILEI und KEPLER stellen sich die verschiedenen Möglichkeiten, der Fall- und der Planetenbewegung vor; sie suchen diejenigen zu erraten, welche den Beobachtungen entsprechen, sie schränken ihre Vorstellungen im Anschluß an die Beobachtung ein, gestalten dieselbe bestimmter. Der Trägheitssatz, welcher nach dem Erlöschen der Kräfte dem Körper eine gleichförmige geradlinige Bewegung zuschreibt, hebt aus unendlich vielen Denkmöglichkeiten  eine  als maßgebend für die Vorstellung hervor." Eine solche Einschränkung der Erwartung ist biologisch von größtem Wert. Die Naturwissenschaften sind eine Art Instrumentensammlung für das Denken und Handeln, um durch die Welt zu kommen. "Alle Wissenschaft hat Erfahrungen zu ersetzen oder zu ersparen durch Nachbildung oder Vorbildung von Tatsachen in Gedanken, welche Nachbildungen leichter zur Hand sind als die Erfahrung selbst" (Mechanik, Seite 510). Die ökonomische Natur der wissenschaftlichen Forschung zeigt sich bei jedem einzelnen Naturgesetz. Sie erspart das bekannte Brechungsgesetz für den Übergang von Licht aus einem Medium in ein anderes

sinus

wobei  α  und  β  die Winkel sind, die der Lichtstrahl mit der Trennungsebene der beiden Medien bildet und  n  eine je nach den Medien verschiedene Konstante ist, sobald  n  ein einziges Mal durch Messung ermittelt ist, unzählige andere Messungen. Auch das Wesen der Mathematik erblickt MACH darin, daß sie das Rechnen erspart oder abkürzt. So erspart die Formel

xquadrat

unzählige Rechnungen, wenn sie einmal gefunden ist. Ein anderes Beispiel ist die Theorie der Determinanten.

Als auch für die Philosophie bedeutsam verdienen hervorgehoben zu werden MACHs obengenannte Darstellungen Entwicklungsgeschichte der Mechanik und der Thermodynamik, sowie seine zahlreichen Beiträge zur Psychologie (enthalten in der "Analyse der Empfindungen" und in "Erkenntnis und Irrtum"). Zur Relativitätstheorie verhielt sich MACH (im Gegensatz zu der von PETZOLDT gegebenen Interpretation seiner Lehren persönlich ablehnend.

MACH stehen nahe: HANS KLEINPETER, Der Phänomenalismus, Leipzig 1913, Die Erkenntnistheorie der Naturforschung der Gegenwart, Leipzig 1905. A. KANN, Die Naturgeschichte der Moral, Wien o. J.; Ein philosophischer Gedankengang, Wien o. J.

Nach LUDWIG BOLTZMANN (1844-1908), Populäre Schriften, Leipzig 1905, besitzen Erkenntniswert nur die mathematischen Sätze der Physik, die mechanischen Vorstellungen sind bloße Bilder. Diese Auffassung wird geteilt von PAUL VOLKMANN (geb. 1856), der die Begriffe Stoff und Kraft eliminiert und ähnlich wie MACH eine "phänomenologische" Physik des unmittelbar Gegebenen erstrebt. Erkenntnistheoretische Grundzüge der Naturwissenschaften, Leipzig 1896. - Einen wesentlich positivistischen Standpunkt nimmt auch ein WALTER FROST, Naturphilosophie, Leipzig 1910, der besonders den Kausalitätsbegriff behandelt. - BERNARD STALLO, Die Begriffe und Theorien der modernen Physik, deutsch, Leipzig 1901 (verwandt mit MACH).

Enge Verwandtschaft mit dem Empiriokritizismus weist ferner auf RICHARD WAHLE (geb. 1857, ordentlicher Professor in Czernowitz), der seine Erkenntnislehre noch vor MACH, aber wohl unter AVENARIUS' Einfluß entwickelte, Gehirn und Bewußtsein, Wien 1885, Verteidigung der Willensfreiheit, Wien 1887, Das Ganze der Philosophie und ihr Ende. Ihre Vermächtnisse an die Theologie, Physiologie, Ästhetik und Staatspädagogik, Wien 1894, Geschichtlicher Überblick über die Entwicklung der Philosophie, Wien 1899. Über den Mechanismus des geistigen Lebens, Wien 1906. Auch nach WAHLE sind Subjektives und Objektives identisch. Freischwebende Empfindungen und Vorstellungen sind das allein Gegebene. Die Menschheit muß sich mit der Kenntnis ihrer Sukzessionen begnügen und der Einsicht, "daß alle Kräfte und Faktoren unerkannt wirken, daß sie nicht einmal glauben dürfe, sie sei ein Wissendes, sondern daß sie nur schlechthin so sei, daß ihr alle Prinzipien verschlossen seien": Ist uns aber alles Wahrhafte verborgen, so entsteht ein Gefühl der Gleichgültigkeit gegen die Ereignisse, durch das wir für die religiösen Gefühle der Sehnsucht nach dem Idealen empfänglich gemacht werden. Der Glaube tritt dem Wissen gegenüber; zu ihm führen aber nicht Gründe, sondern eine glückliche Verfassung der Seele. Auf psychologischem Gebiet vertritt WAHLE unter Ablehnung aller Funktionen, Akte usw. einen extremen Sensualismus. Auch ein besonderes Ich existiert nicht. Die ethisch-sozialen Anschauungen WAHLEs darf man wohl erblicken in: Josua, ein Evangelium aus künftigen Tagen, Wien 1911. Die Tragikomödie der Weisheit, Wien 1915 (alle Philosophie sei überlebt).

Von AVENARIUS, MACH und WAHLE erfuhr mannigfache Beeinflussung auch HEINRICH GOMPERZ, geb. 1873 in Wien, 1900 Privatdozent in Bern, 1905 in Wien. Zur Psychologie der logischen Grundtatsachen, Leipzig und Wien 1897. Kritik des Hedonismus, Stuttgart 1898. Über den Begriff des sittliche Ideals, Bern 1902. Die Lebensauffassung der griechischen Philosophen und das Ideal der inneren Freiheit, Jena 1904. Weltanschauungslehre, Jena 1905. Das Problem der Willensfreiheit, Wien 1907. Über die Wahrscheinlichkeit der Willensentscheidungen, Sitzungsbericht der Wiener Akademie, Philosophische Klasse, Bd. 149. Außerdem größere Arbeiten zur griechischen Philosophie. Der Standpunkt GOMPERZ', den er "Pathempirismus" nennt, ist dem von AVENARIUS nahe verwandt. Er führt alle Begriffe auf Erfahrungen zurück und sieht (in den bisher veröffentlichten Teilen seiner Weltanschauung) vom Problem der objektiven Realität ab, indem er eine rein immanente Betrachtungsweise zur Geltung bringt. Alle Bewußtseinstatsachen bestehen nach GOMPERZ aus Vorstellungen und Gefühlen. GOMPERZ versteht unter "Weltanschauungslehre" (Kosmotheorie) eine durchaus theoretische Wissenschaft, die die Aufgabe hat, "einen widerspruchslosen Zusammenhang aller jener Gedanken herzustellen, die von den Einzelwissenschaften sowie vom praktischen Leben zur Nachbildung der Tatsachen verwendet werden." Sie hat also nicht eigentlich Tatsachen zu ermitteln, sondern setzt die positiven Wissenschaften voraus. Sie geht aber auch nicht von den Tatsachen, sondern den Begriffen aus und bildet sie so um, daß sie einerseits zur Nachbildung der Tatsachen fähig bleiben, andererseits aber widerspruchsfrei werden. Der 1. Band seines Hauptwerkes behandelt "Vorbegriffe der Weltanschauungslehre: Substanz, Identität, Relation, Form. Für alle vier Begriffe werden von GOMPERZ vier historische Entwicklungsstufen unterschieden: die animistische, metaphysische, ideologische, kritizistische. GOMPERZ erblickt die Lösung der überall bleibenden Widersprüche in einer neuen fünften Stufe der Begriffsentwicklung, die in rein psychologischer Introspektion ("pathempirische Methode") besteht und alle jene Begriffe auf Gefühle reduziert. Die Substanz besteht danach in einem "Gesamteindrucksgefühl (Totalimpression), welches der Vorstellung der einzelnen Qualitäten (eines Dings) vorangehe und sich erst in sie besondere, das sie aber auch nach dieser Besonderung noch einige, indem sie in dasselbe eingebettet bleiben". (Seite 117) Die Identität besteht "in einem, dem Gegenstand eingelegten Gefühl der Ichstetigkeit". (Seite 156 Die Relation ist ein Moment der Totalimpression (Seite 207). Endlich ist nach GOMPERZ auch alle Form Gefühl "sodaß im Bewußtsein der gesamte Inhalt der Erfahrung durch Vorstellungen, ihre sämtlichen Formen dagegen durch Gefühle dargestellt werden". (Seite 274) Die Existenz spezifischer Gedankenphänomene bestreitet GOMPERZ.

Der zweite Band ("Noologie") Behandelt das Problem des Denkens. Es ist zu unterscheiden zwischen dem Inhalt des Denkens und seiner Richtigkeit bzw. Unrichtigkeit. Die Noologie zerfällt demgemäß in Semasiologie (Bedeutungslehre) und Alethologie (Wahrheitslehre); nur erstere ist bisher von GOMPERZ veröffentlicht worden. In sehr konsequenter Weise wird von GOMPERZ versucht, die wichtigsten gegenwärtig am Denken unterschiedenen Momente in Gefühlseindrücke aufzulösen; leider ist es nicht möglich, hier auf die Einzelheiten einzugehen (Hauptstück: § 55 bis § 59). - In seiner Schrift über das Freiheitsproblem versucht GOMPERZ über die Standpunkte des Determinismus und Indeterminismus hinauszugehen, an denen beachtenswerte Kritik geübt wird. Unsere Kenntnis des organischen und psychischen Lebens reicht zu einer Entscheidung des Problems noch nicht aus. - Philosophie des Krieges in Umrissen, Gotha 1914 (eine kritische Analyse der in der Geschichte der Philosophie über die Kriegsprobleme hervorgetretenen Auffassungen).

Zu ähnlichen Gedanken wie MACH war noch früher bereits der "Proletarierphilosoph JOSEPH DIETZGEN, der erst neuerdings bekannt geworden ist, gekommen. Das Wesen der menschlichen Kopfarbeit, Hamburg 1869 (Hauptwerk). Briefe über Logik, speziell demokratisch-proletarische Logik, 1880-83. Die Religion der Sozialdemokratie, Stuttgart 1895. Das Aquisit der Philosophie, 1887. Sämtliche Schriften, 3 Bde., Wiesbaden 1911 (sämtlich in faßlichem wuchtigen Stil geschrieben). Geboren 1828 in Blankenberg bei Köln, von Beruf Lohgerber, kaum dem Proletariat, vielmehr dem Kleinbürgertum zuzurechnen, schloß sich DIETZGEN der Sozialdemokratie an. Auf dem sozialistischen Arbeiterkongreß im Haag 1872, an dem DIETZGEN als Delegierter teilnahm, stellte ihn MARX mit den Worten vor: "das ist unser Philosoph!" Er starb 1888 in Chicago. Von bedeutender Begabung und ebensolchen Kenntnissen, völlig Autodidakt, hat DIETZGEN bei beschränkten äußeren Umständen unermüdlich geistig arbeitend, eine empiristische Erkenntnislehre entwickelt, nach der alles Erkennen das Erfassen des Allgemeinen in den Dingen ist. Die Dinge selbst fallen mit den Wahrnehmungsinhalten zusammen, hinter denen es ein Ding ansich nicht gibt. Auch die universelle Relativität von allem betont DIETZGEN. Das Denken selbst ist ein Teil des Weltzusammenhangs, jener, der das Allgemeine in den Dingen erkennt. Auf sozialphilosophischem Gebiet ist DIETZGEN Anhänger von MARX' materialistischer Geschichtsauffassung. Die Ethik begründet er rein sozial. Die Religion ist nach ihm durch die Ideen der Sozialdemokratie zu ersetzen. Diese selbst werden von DIETZGEN im radikalsten Sinn als allgemeine Vermögenskonfiskation der Besitzenden mit nachfolgender planmäßiger Organisation der Arbeit verstanden. - DIETZGENs Philosophie wird von der Sozialdemokratie zur Zeit als die aller akademischen Philosophie überlegene "proletarische Philosophie" gefeiert. Dietzgen-Brevier, München 1915.

Im Sinne DIETZGENs geschrieben ist die Schrift seines Sohnes EUGEN DIETZGEN, Materialismus oder Idealismus? Ein Lösungsversuch gemäß Joseph Dietzgens Erkenntnislehre, Stuttgart 1921. Auf den Boden der DIETZGENschen Lehren stellt sich auch VIKTOR THOMAS, Das Erkenntnisproblem. Ein historisch kritischer Versuch, Stuttgart 1921. - Er erblickt in denselben zwar nicht einen unverrückbaren Abschluß, wohl aber die Grundlage einer endgültigen Lösung und unternimmt eine Einführung darin in Gestalt einer Entwicklungsgeschichte des Erkenntnisproblems vom Griechentum an.

Auch ADOLF STÖHR (geb. 1855, Professor der Philosophie in Wien), Algebra der Grammatik, Leipzig und Wien 1898. Leitfaden der Logik in psychologisierender Darstellung, Wien 1905. Philosophie der unbelebten Materie, Leipzig 1907. Der Begriff des Lebens, Heidelbert 1909. Lehrbuch der Logik, Wien 1910. Monokulare Plastik, Leipzig 1910. Das Zeitproblem, Leipzig 1910. Psychologie der Aussage, Berlin 1911. Gehirn und Vorstellungsreiz, Leipzig 1912. Logik, Wien 1911. Psychologie, Wien 1917. Wege des Glaubens, Wien 1921 und vieles andere, ist als Psychologe und Logiker MACH verwandt. Er erkennt nur Phänomene, keine Funktionen an. Die Scheidung zwischen Bewußtseinssubjekt und -objekt ist eine durch die Sprache erzeugte Täuschung. Den Sitz der Empfindungen verlegt STÖHR in die peripheren Sinnesorgane. Im Metaphysiker erblickt STÖHR keinen Erkennenden, sondern einen seinen Kunsttrieb befriedigenden Baukünstler, dessen Schöpfung aber mit den Tatsachen nicht in Widerspruch stehen darf.

STÖHR legt sowohl in der Psychologie wie in der Logik besonderes Gewicht auf die Beziehungen zur Physiologie, Linguistik und Metaphysik. Die Logik hat nach ihm das Denken zu beschreiben, "wie es nach der Erarbeitung des vollen Bewußtseins ist", nicht dagegen hat sie anzugeben, wie das Denken beschaffen sein soll. Der Unterschied zwischen Logik und Psychologie liege darin, daß die letztere das Denken beschreibt, "wie es im nicht voll erarbeiteten oder im reduzierten Bewußtsein verläuft". Sein Buch "Psychologie" will kein Lehrbuch, sondern eine Problemsammlung sein.

Verwandtschaft mit dem Empiriokritizismus weist ferner MAX VERWORN (geb. 1863, Professor der Physiologie in Göttingen) auf. Allgemeine Physiologie, Jena 1903. Naturwissenschaft und Weltanschauung, Leipzig 1904. Prinzipienfragen der Naturwissenschaft, Leipzig 1905. Die Erforschung des Lebens, Leipzig 1907. Die Frage nach den Grenzen der Erkenntnis, Leipzig 1908. Die Entwicklung des menschlichen Geistes, ebd. 1910. Kausale und konditionale Weltanschauung, ebd. 1912. VERWORN will an die Stelle der kausalen Weltanschauung die "konditionale" setzen ("Konditionismus"). Der Begriff der Ursache, der das Geschehen stets nur von einem Faktor abhängig mache, ist zu ersetzen durch den der Bedingungen. Jeder Vorgang oder Zustand ist bedingt durch zahlreiche Faktoren und durch die Summe seiner Bedingungen eindeutig bestimmt. Ja, jeder Vorgang oder Zustand ist nach VERWORN mit der Summe seiner Bedingungen identisch. Diese "sind sein Wesen". Auf biologischem Gebiet huldigt VERWORN der physikalisch-mechanistischen Auffassung der Organismen. Die Unterscheidung zweier verschiedener Reihen von Vorgängen, physischer und psychischer, lehnt er ab.

Ostwalds Schriften.  Die Energie und ihre Wandlungen, Leipzig 1888. Die Überwindung des wissenschaftlichen Materialismus, Leipzig 1895. Vorlesungen über Naturphilosophie, Leipzig 1902. Naturphilosophie in Kultur der Gegenwart, Teil 1, Berlin 1907 (kürzeste Fassung). Die Energien, Leipzig 1908. Grundriß der Naturphilosophie, Leipzig 1908. Energetische Grundlagen der Kulturwissenschaften, Leipzig 1909. Große Männer, Bd. 1, Leipzig 1909. Die Forderung des Tages, Leipzig 1910. Der energetische Imperativ, 1. Reihe, Leipzig 1912. Die Philosophie der Werte, Leipzig 1913. Moderne Naturphilosophie, I. Ordnungswissenschaften, Leipzig. Die Farbenfibel, Leipzig 1907. Der Farbenatlas, Leipzig 1917. Der Farbkörper und seine Anwendung zur Herstellung farbiger Harmonien, Leipzig 1919. Die Farbenlehre (in 5 Büchern).

WILHELM OSTWALD (geb. 1853 in Riga, emeritierter Professor der Chemie in Leipzig), der Schöpfer der physikalischen Chemie, trat philosophisch zuerst durch seine Bekämpfung des Materialismus hervor, den er durch eine  energetische  Weltauffassung ersetzt. Alles Wirkliche besteht aus Energie. Auch Materie und Psyche sind nur besondere Formen derselben, wie es denn überhaupt eine ganze Reihe solcher gibt: Bewegungs-, Wärme-, elektrische, chemische und andere Energie. Sie stehen alle in bestimmten Äquivalenzbeziehungen. Auch die Kultur hat OSTWALD unter dem Gesichtspunkt der Energie und des geringsten Kraftaufwandes betrachtet. Neben den auf dem Energiebegriff beruhenden Wissenschaften gibt es noch andere, ohne ihn auskommende: Logik, Mathematik, die Lehre von Raum und Zeit ("Ordnungswissenschaften"). - In seiner allgemeinen Wissenschaftslehre weist OSTWALD eine Verwandtschaft mit MACH auf. Wissenschaft ist eine mit möglichst geringem Kraftaufwand geleistete Voraussicht künftiger Vorgänge. Dieselbe wird nur auf induktivem Weg erreicht. Alle Deduktion bedarf erst empirischer Bestätigung. - Auch mit der Psychologie des Genies hat sich OSTWALD eingehend beschäftigt und interessante Ergebnisse erzielt, wie er auch überhaupt vielen neueren wissenschaftlichen und allgemein-kulturellen Bestrebungen ein lebhaftes Interesse entgegenbringt, so dem Pazifismus, dem Problem einer internationalen Hilfssprache, der Schulreform usw. - In den letzten Jahren hat sich OSTWALD vornehmlich dem Studium der Farben gewidmet. Er unternimmt eine allseitige Neubegründung der Farbenlehre, die zugleich ihre psychologische, physikalische, ästhetische und technische Seite berücksichtigen und der Industrie und Kunst dienen will. Die erstere hat durch Gewährung bedeutender Forschungsmittel diese Untersuchungen bereits als für sie bedeutungsvoll anerkannt.

Auch der Biologe RICHARD SEMON, (geb. 1859 in Berlin, war Professor der Anatomie in Jena, seit 1897 Privatgelehrter in München), Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens, Leipzig 1904. Die mnemischen Empfindungen in ihren Beziehungen zu den Organempfindungen. Erste (und einzige) Fortsetzung der Mneme, Leipzig 1909, löst ebenfalls die ganze Wirklichkeit in Empfindungen, in "originale" und "mnemische" (= Vorstellungen), auf. SEMON macht den Versuch, alle Erscheinungen in der Welt des Organischen, bei denen es sich um Reproduktionen irgendwelcher Art handelt, unter den Begriff "Gedächtnis" oder wie er stattdessen sagt "Mneme" zusammenzufassen. Er erneuert den Versuch des Physiologen EWALD HERING, der bereits vor langen Jahren das Gedächtnis als eine allgemeine Funktion der organischen Materie bezeichnet und alle Regenerationsphänomene darunter mit eingerechnet hatte. (Über das Gedächtnis als eine allgemeine Funktion der organischen Materie, Vortrag, Wien 1870) Die von außen kommenden Reize hinterlassen im Individuum nach SEMON eine Nachwirkung, eine "engraphische Wirkung", ein "Engramm", d. h. die organische Substanz weist gegenüber ihrem früheren Zustand die Neigung auf, auch durch andersartige Einflüsse als durch den Originalreiz wieder in einen durch ihn verursachten Erregungszustand versetzt zu werden. Solche andersartigen Einflüsse heißen "ekphorische" Einflüsse. Tritt jener Erregungszustand wieder ein, so werden die Engramme "ekphoriert". Die Ekphorie ekphoriert auch die mit dem Engramm gleichzeitig oder unmittelbar vor ihm erzeugten Engramme ("simultan oder sukzessive assoziierte Engramme"). Mit anderen Worten: Die psychologischen Lehren über Assoziationen werden physiologisch umgedeutet und mit neuen Namen versehen. Es werden damit dann weiterhin alle organischen Regenerations-, Vererbungs- und andere Erscheinungen auf eine Stufe gestellt. Es soll "eine Identität des zugrunde liegenden Prinzips und keine bloße Analogie" vorliegen (Mneme, 2. Auflage, Seite 377). Die äußeren Situationen sollen die Umgestalter des organischen Lebens sein, die Mneme wirkt als konservatives erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens. - SEMONs Schriften haben auf naturwissenschafliche, teilweise auch auf psychiatrische Kreise eine starke Wirkung geübt. Seine Terminologie ist vielfach übernommen worden. Auf den etwas primitiven Charakter seiner Psychologie ist man vielfach nicht aufmerksam geworden.

§ 33.  III. Neuere Fortbildung des Empiriokritizismus.  Über die von AVENARIUS und MACH erreichte Stufe wurde (ohne vorherige Kenntnis dieser Autoren) der Positivismus wesentlich emporgehoben durch THEODOR ZIEHEN, der früher vor allem als Psychiater hervorgetreten war. Er hält unter Ablehnung metaphysischer Dinge ernsthaft daran fest, daß alles Gegebene lediglich aus Empfindungen und Vorstellungen besteht, aber er erkennt, daß nur geringe Bestandteile der unmittelbar im Bewußtsein vorhandenen sensuellen Inhalte in das Weltbild der Physik übergehen; er bezeichnet dieselben als "reduzierte Empfindungen". Sie gehen über unseren individuellen Bewußtseinsinhalt hinaus und haben räumliche und zeitliche Bestimmtheit. Zwischen den als physisch und psychisch bezeichneten Tatbeständen besteht ein partieller Parallelismus, insofern bestimmte Gehirnprozesse von psychischen Phänomenen begleitet werden (vgl. RIEHL). Auf  psychologischem  Gebiet vertritt ZIEHEN einen durch die Annahme dreier geistiger Grundfunktionen (Synthese, Analyse, Vergleichen) bereicherten assoziationspsychologischen Standpunkt. Die  Logik  hat nach seiner Auffassung die Bedingungen eines wenigstens in formaler Beziehung richtigen Denkens festzustellen.

Zum kritischen Realismus schritt SCHLICK fort.

THEODOR ZIEHEN (geb. 1862, seit 1904 ordentlicher Professor der Psychiatrie in Berlin, 1912 zurückgetreten, 1917 ordentlicher Professor der Philosophie in Halle), Leitfaden der physiologischen Psychologie, Jena 1891, Psychophysiologische Erkenntnistheorie, Jena 1898, Erkenntnistheorie auf physikalischer und psychophysiologischer Grundlage, Jena 1912. Zum gegenwärtigen Stand der Erkenntnistheorie, Wiesbaden 1914. Die Grundlagen der Psychologie, 2 Bde., Leipzig und Berlin 1915. Die Psychologie großer Heerführer, Vortrag, Leipzig 1916. Der Krieg und die Gedanken der Philosophen und Dichter vom ewigen Frieden, Leipzig 1916. Gehirn und Seelenleben, Leipzig 1902. Erkenntnistheoretische Auseinandersetzungen, Zeitschrift für Psychologie, Bd. 27, 33, 43. Psychiatrie, Jena 1911. Die Prinzipien und Methoden der Intelligenzprüfung, Berlin 1918. Das Verhältnis der Logik zur Mengenlehre, Vorträge, Berlin 1918. Lehrbuch der Logik auf positivistischer Grundlage, Bonn 1920. Die Beziehungen der Lebenserscheinungen zum Bewußtsein, Berlin 1921. Grundlagen der Naturphilosophie, Leipzig 1922 u. a., wandte sich schon früh psychologischen und erkenntnistheoretischen Problemen zu. Seine Arbeiten sind durch enormen Kenntnisreichtum und Scharfsinn ausgezeichnet, stehen jedoch den eigentlich modernen Auffassungen vielfach gegensätzlich gegenüber.

ZIEHENs Standpunkt ist ein positivistischer Standpunkt, der eine starke Verwandtschaft mit den Lehren von MACH und AVENARIUS zeigt, ohne daß er ihnen jedoch durchaus gleicht. Es macht vielmehr die Leistung ZIEHENs aus, daß er die auf dem MACH-AVENARIUSschen Standpunkt vorhandenen Schwierigkeiten durch eine etwas kompliziertere Theorie zu beseitigen versucht, ohne doch einen völlig anderen Weg zu gehen.

Wie AVENARIUS sich eine eigene Terminologie geprägt hat, wie auch MACH nicht auf eine Symbolisierung seines Standpunktes durch Buchstabengruppen verzichtet, so verfährt auch ZIEHEN ähnlich. Er hat eine ganze Anzahl neuer Termini geprägt und jedem ein besonderes Buchstabensymbol zugeordnet. Der Zugang zu seiner Gedankenwelt ist nicht so schwierig wie bei AVENARIUS, er verfährt nicht more geometrico, aber die ansich durchaus entbehrlichen Abkürzungszeichen bedeuten eine sehr erhebliche Erschwerung der Lektüre. Auch die Prägung neuer, nicht unbedingt erforderlicher Termini, die zumeist ansich nicht ungeschickt erfolgt, trägt dazu bei.

Die Aufgabe der Erkenntnistheorie oder Grundwissenschaft ist nach ZIEHEN vor allem die Einteilung alles unmittelbar Gegebenen, der "Gignomena", sie heißt deshalb auch  "Gignomenologie".  Sie hat, ohne etwas zu präjudizieren, sie zu ordnen und hypothesenfrei zu beschreiben. "Aller Kampf der philosophischen Systeme dreht sich in letzter Linie umd diese Grundfrage der ersten Klassifikation und Gesetzlichkeit des Gegebenen." (Logik, Seite 242). Die Gignomene zerfallen nach ZIEHEN (wie nach MACH) in Empfindungen (E) und Vorstellungen (V). Während MACH mit ihnen beiden in der Wissenschaftstheorie auszukommen meinte, nimmt ZIEHEN noch einen weiteren Bestandteil an, den er als  "reduzierte Empfindungen"  (ρE; ρ-Komponente) bezeichnet. Alle Empfindungen und Vorstellungen verändern sich; ein Teil der Änderungen beider ("ρ-Bestandteile") läßt sich unter naturwissenschaftliche Gesetze bringen, der übrige ("γ-Bestandteile") erweist sich von den ersten abhängig. Die ρ-Bestandteile ("Reduktionsbestandteile", "reduzierte Empfindungen") sind identisch mit der sonst sogenannten objektiven Wirklichkeit. Sie steht nicht hinter den Empfindungen - auch ZIEHEN verwirft das Ding ansich -, ist aber auch nicht mit der Totalität der Empfindungskomplexe identisch, sondern besteht nur aus gewissen Momenten an ihnen - alles übrige an den Empfindungen nennt ZIEHEN "Parallelbestandteil" (υE; υ-Bestandteil). Was der Physiker in seinen Beobachtungen als objektiv, als von der objektiven Wirklichkeit aussagbar ansieht, wie z. B. Orts- und Raumbestimmtheiten, das nennt ZIEHEN "reduzierte Empfindungen". Dieselben sind noch nicht vollständig herauspräpariert aus der Wirrnis der Empfindungen, werden es aber mehr und mehr. Unbedingt kommen ihnen temporale und lokale Eigenschaften zu, obschon Ort und Zit der Reduktionsbestandteile mit Ort und Zeit der Empfindungen nicht identisch seien. Die angenäherte Reduktionsvorstellung ist zur Zeit der Begriff der Masse. Auch der Reduktionsbestandteil bleibt nach ZIEHEN intrapsychisch, er ist nicht etwa nicht-psychisch. Wohl aber sind die Reduktionsbestandteile "transgressiv", insofern sie die Reihe meiner eigenen Empfindungsgignomene überschreiten, andererseits sollen sie freilich (Grundlagen der Psychologie, Bd. I, Seite 45) keine von der der Empfindung verschiedene Wirklichkeit besitzen. "Nichtpsychisches ist ein inhaltloses Wort. Die Dinge, mein Ich, die fremden Ichs sind nur Vorstellungen." - Ein Beispiel für die υ-Komponenten sind die Veränderungen, die in der Wahrnehmung eines Gegenstandes dadurch eintreten, daß ich mich von ihm entferne: er wird kleiner, erleidet perspektivische Verschiebungen usw. Die υ-Komponenten fallen deshalb mit dem zusammen, was man im Vulgärsinn Empfindungen nennt. Die eigentümlichste Lehre ZIEHENs besteht vielleicht darin, daß nach ihm die ρ-Bestandteile auch in den Vorstellungen, nicht bloß in den Empfindungen auftreten; wenn wir uns z. B. eines Vorganges erinnern, so sind die ρ-Bestandteile, d. h. alles, was wir im eigentlichen Sinne an diesem Vorgang objektiv nennen, auch in der Erinnerungsvorstellung vorhanden. Auch  V  hat also einen Reduktionsbestandteil und einen Parallelbestandteil (υ-Komponente), welcher dann mit der Vorstellung im Vulgärsinn zusammenfällt. In kausalen Beziehungen stehen nur die ρ-Bestandteile. Die υ-Bestandteile sind durchweg von den ρ-Bestandteilen abhängig. Die isolierte Betrachtung, welche von den Komponenten abstrahiert, wird deshalb höchstens einige grobe gesetzmäßige Beziehungen zwischen ihnen feststellen können.

ZIEHEN erklärt die Gegenüberstellung von psychisch und materiell für ungerechtfertigt und verwirft den psychophysischen Dualismus und Idealismus. Auch die Gegenüberstellung transzendenter, unerkennbarer Dinge ansich und apriorischer Anschauungs- und Denkformen lehnt er ab.

Im Gegebenen gibt es zwei Arten gesetzlicher Beziehungen - weshalb ZIEHEN auch seinen Standpunkt als  "Binomismus"  bezeichnet -, welche für die Reduktionsbestandteile gelten. Die Kausalgesetze fallen mit den sogenannten Naturgesetzen zusammen, die ihnen entsprechenden Veränderungen erfolgen auf bestimmten Wegen und mit einer bestimmten Geschwindigkeit. Die Parallelgesetze beziehen sich auf das Parallelgehen von physischen und bestimmten psychischen Vorgängen. "Parallelwirkungen gehen, soweit wir nachweisen können, nur von bestimmten Reduktionsbestandteilen aus, die zum sogenannten Gehirn, insbesondere der Hirnrinde gehören." (Logik, Seite 251) ZIEHEN steht also auf dem Standpunkt eines partiellen Parallelismus (wie RIEHL) Bemerkenswert ist jedoch, daß er die psychischen Vorgänge als Wirkungen des Gehirns ansieht.

Die Psychologie ist die Wissenschaft von den ν- und υ-Komponenten. Sie sind nicht unmittelbar gegeben, sondern müssen aus den Empfindungs- und Vorstellungsgignomenen entwickelt werden. Das  Ich  besteht lediglich "in charakteristischen, sehr häufigen Komplexen bestimmter Begriffe, die wir aus dem Gegebenen abstrahieren" (Logik Seite 250). Es sei "identisch" mit der Gesamtheit der zu einem Gehirn zugehörigen Parallelkomponenten (ν- und υ-Komponenten). Auch den Begriff  "unbewußt"  lehnt ZIEHEN ab, psychisch und bewußt sind völlig identisch; an Stelle des "Unbewußten" sind Gehirnprozesse anzunehmen. Desgleichen stellt er sich in den entschiedensten Gegensatz zu HUSSERLs Annahme einer besonderen, für sich existierenden logischen Sphäre, er lehnt den Logismus mit sehr lebhaften Worten ab, so daß er denn auch die scharfe Gegenüberstellung von Psychologie und Logik nicht mitmacht. Die Psychologie vermöge sehr wohl zu exakten formalen (logischen) Gesetzen zu gelangen; auch die Fixierung der "Werte" - ZIEHEN ist hier von WINDELBAND und RICKERT beeinflußt - "richtig" und "falsch" ist ihr möglich, es ist die letzte ihr zufallende Aufgabe, jenseits deren die Logik beginnt.

Die Feststellung der  Methoden  und  Ziele  der Psychologie nennt ZIEHEN ihre  "autochtone Grundlegung",  weil sie vom Physiologischen absieht und sich ganz auf das Psychische beschränkt. Wie die Kausalwissenschaften geht auch die Psychologie von den Gignomenen aus; während jene Wissenschaften die Reduktionsbestandteile zusammenstellen, sammelt und ordnet die Psychologie die Gignomene in Bezug auf die Parallelkomponenten ("gignomenologische Vorbereitung"). In Bezug auf die Aufgabe der Psychologie bekennt sich ZIEHEN zur Gesetzesauffassung: die Psychologie habe allgemeine  Gesetze  aufzustellen, sie ist "generelle" Psychologie. Die Individualpsychologie, welche sich mit einzelnen Individuen beschäftigt (ZIEHEN versteht also unter Individualpsychologie gerade das Entgegengesetzte wie WUNDT, der mit jenem Ausdruck merkwürdigerweise das bezeichnet, was ZIEHEN generelle Psychologie nennt), dient nur nebensächlichen Zwecken der Psychologie. Der einzuschlagende Weg ist der  genetische,  welcher von den Empfindungen seinen Ausgang nimmt und zu den Vorstellungen fortschreitet. Die Introspektion, die  Selbstwahrnehmung  einer Empfindung, ist nach ZIEHEN kein spezifischer Vorgang, sondern eine auf assoziativer Einstellung beruhende Verlaufsweise der psychischen Vorgänge; an den betreffenden Vorgang ist eine Vorstellung oder Vorstellungsreihe geknüpft. Schon darin bekundet sich ZIEHENs assoziationspsychologischer Standpunkt, der in seinen psychologischen Grundlehren erst recht zutage tritt. Unter Ablehnung der Meinung, daß er das Seelenleben sich in durch die gewöhnlichen Assoziationsgesetze geregelten Vorstellungsprozessen erschöpfen lasse, macht er vielmehr der Anti-Assoziationspsychologie sogar auffallend große Zugeständnisse. Dennoch bleibt er mit der Assoziationspsychologie enger verbunden, als er sich mit der modernen Funktionspsychologie berührt. Zunächst einmal gibt es nach ihm eine besondere psychologische Gesetzmäßigkeit überhaupt nicht. Die Psychologie isoliere das Psychische nicht, sondern betrachte es in seiner Abhängigkeit von den Reizen und den Gehirnvorgängen. Sodann bekämpft er die neuere Lehre von den Funktionen (STUMPF). ZIEHEN hält es für unerlaubt, die Akte (Funktionen) im Gegensatz zu den Vorstellungen und Empfindungen zu bringen. Es gibt nach ihm überhaupt nur Empfindungen und Vorstellungen zu bringen. Es gibt nach ihm überhaupt nur Empfindungen und Vorstellungen, deren unterscheidendes Merkmal das Maß der sinnlichen Lebhaftigkeit ist. Übergangsstufen zwischen beiden seien nicht nachweisbar. Das Erste sind die Empfindungen, die Vorstellungen sind skundäre Tatbestände, sie sind nicht abgeschwächte Empfindungen, sondern "eigenartige spezifische Transformationen der Empfindungen". Der wichtigste Punkt durch den ZIEHEN über die Assoziationspsychologie im engsten Sinn hinausgebt, ist die Anerkennung dreier besonderer Grundvorgänge:  Synthese  (Zusammenfassung),  Analyse  (Zerlegung) und  Komparation  (Vergleichung). Diese sind nicht Assoziationen, sondern können sich an diese anschließen. Die Generalisation, d. h. die Bildung von "Komplexions- und Kontraktionsvorstellungen" soll nur ein Spezialfall der Synthese sein. In beug auf die  emotionalen  Phänomene vertritt ZIEHEN die Auffassung, daß Gefühle, Stimmungen und Affekte Eigenschaften der Empfindungen und Vorstellungen sind; sie sind also keine selbständigen psychischen Gebilde, sondern stets an die Empfindungen und Vorstellungen gebunden und kommen isoliert nicht vor. ZIEHEN nennt diese Lehre: "die Theorie des Gefühlstons" oder "die epigenetische Theorie" oder "die Theorie der zentralen Zusatzprozesse". Das  Willenserlebnis  endlich ist in seinen Augen überhaupt kein spezifischer Vorgang, sondern "allgemein durch eine relativ lustbetonte, dominierende, aktive Vorstellung eines künftigen Ereignisses charakterisiert": Er nennt dies die "konformative Willenstheorie", weil sie im Gegensatz zu anderen auch synkretistischen Theorien das Wesentlich des Willenserlebnisses in einer aus sehr verschiedenartigen psychischen Faktoren gebildeten charakteristischen allgemeinen Zusammensetzung erblickt.

ZIEHENs Standpunkt ist demnach ausgesprochen positivistisch und durch das Streben nach Erreichung eines Minimums von Grundtatsachen und von Hypothesen charakterisiert. Die Konstruktion des ρ-Bestandteils, um über MACHs Position hinauszukommen, beweist erheblichen Scharfsinn.

Die Logik ZIEHENs steht im Gegensatz zu der aus der Schule BRENTANOs hervorgegangenen Logik HUSSERLs, welche eine besondere Sphäre des Logischen annimmt. In den Augen ZIEHENs hat die Logik die Aufgabe anzugeben, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit unser Denken wenigstens in formaler Hinsicht richtig ist. Sie unterscheidet sich von der Psychologie in vierfacher Hinsicht:
    1. sie setzt an die Stelle der wirklichen Vorstellungen, Urteile usw. "Normalvorstellungen", "Normalurteile" usw., sowie die Physik an die Stelle der durch Nebenfaktoren sehr komplizierten konkreten Fallvorgänge einen ganz reinen Normalfall setzt;

    2. sie untersucht alles in Bezug auf richtig und falsch;

    3. sie macht Wertunterschiede zwischen wahr und falsch;

    4. sie gibt praktische Denknormen an.
Der eigentlichen Logik hat nach ZIEHEN eine vierfache Grundlegung vorauszugehen: eine erkenntnistheoretische, eine psychologische, eine sprachliche und endlich eine mathematische Grundlegung. Daran schließt sich dann eine "autochthone" [althergebrachte - wp] Grundlegung der Logik. Dieselbe stellt die der Logik selbst eigentümlichen spezifischen Grundlagen fest (Seite 16). Wie zur Logik HUSSERLs befindet sich ZIEHENs Logik auch im Gegensatz zu der die Logik in Methodenlehre auflösenden Tendenz. Sie steht der älteren traditionellen Logik in der Begrenzung ihrer Aufgaben näher: sie behandelt Begriff, Urteil und Schluß. Ein besonderes Kennzeichen bildet die sehr eingehende Darstellung der Geschichte der Logik, die bis zu unmittelbaren Gegenwart fortgeführt ist.

In Bezug auf die Begriffe - diesen Ausdruck verwendet ZIEHEN selbst jedoch nur in einem speziellen Sinn - ersetzt ZIEHEN LOCKEs Lehre von den Allgemeinvorstellungen durch eine verbesserte Theorie.  Allgemeinvorstellungen  kommen nach ihm dadurch zustande, daß wir durch die analytische Funktion die Vorstellungen  W1, W2, W3 ...  zerlegen in  g1, h1, ... x1 ..., g2, h2, ... x2 ...;  vermöge des Aktes des Vergleichens erfassen wir die Gleichheit, Ungleichheit, Ähnlichkeit usw. der Teile  g1, g2, g3, h1, h2, h3, ...  und vermöge der Synthese endlich verschmelzen wir  W1, W2, W3 ...  zu einer Einheit, in der die gemeinsamen Teile akzentuiert, die nicht - gemeinsamen dagegen unterdrückt werden. - Mit dem Wort  Begriff  bezeichnet ZIEHEN nicht jede Allgemeinvorstellung, sondern er beschränkt dieses Wort auf die sogenannten Normalvorstellungen, die als unveränderlich gedacht werden und deshalb außerhalb des Bereichs des Psychologischen stehen. Es sind Idealgebilde, die im wirklichen Leben nicht vorhanden sind, denen aber für unser Denken regulative Bedeutung zukommt. In der Logik fingieren wir nämlich unzeitliche überindividuelle konstante Normalbegriffe, die dann zu der für unser Denken zweckmäßigen Fiktion einer für alle Subjekte gültigen, sich beliebig lange hinziehenden Gewißheit weiterführt, während die gewöhnliche Gewißheit einfach darin besteht, daß das Individuum nicht zugleich zwei verschiedenartige Gesamtinhalte denken kann. - Das  Urteil  im logischen Sinn endlich definiert ZIEHEN als ein wenigstens zwei Begriffe (Normalvorstellungen) enthaltendes psychisches Gebilde, dessen Begriffe durch Differenzierungsfunktionen konstant verknüpft und speziell bezüglich ihrer Individualkoeffizienten in konstanter Weise als vollständig oder partiell sich deckend gedacht werden und das sowohl als ein sukzessiver Prozeß wie als ein fertigs Ergebnis aufgefaßt werden kann (Seite 603). Unter den Differenzierungsfunktionen sind zu verstehen die Prozesse der Zusammensetzung (Synthese, Komplexion), der Zerlegung (Analyse) und Vergleichung, unter Individualkoeffizient die räumlich-zeitliche Bestimmtheit.

Ein allgemeines Kriterium der Richtigkeit eines Urteils kann nicht gegeben werden, da, wie schon KANT erkannte, dabei von allem Inhalt des Urteils abstrahiert werden müßte, die Wahrheit des Urteils aber gerade vom Inhalt abhängt. Weder Klarheit und Deutlichkeit, noch Denknotwendigkeit, noch ein Evidenzgefühl geben ein zureichendes Kriterium ab. Da es kein absolutes vom Inhalt unabhängiges Kriterium gibt, bedarf es einer immer erneuten Kontrolle des Urteils am Inhalt, ob eine Übereinstimmung besteht. Ferner gibt es deshalb auch keine Axiome, die unabhängig von allen fundierenden Inhalten richtig wären. Wenn gleichwohl die Logik sogenannte Grundsätze aufstellt, so ist das möglich, weil diese in den allgemeinsten Tatsachen des Gegebenen fundiert sind. Auch das Identitätsprinzip ist eine allgemeinste gignomenologische Erfahrung. Ansich wäre es durchaus möglich, daß z. B. eine Masse als Ganzes gleichzeitig zwei Bewegungsrichtungen einschlägt. Ebenso ist es nach ZIEHEN lediglich eine Erfahrung, daß wir nicht zwei Vorstellungen  a  und  non-a  zusammendenken können. Die entgegengesetzte Auffassung STUMPFs, daß ein solches Denken sehr wohl möglich sei, wird von ZIEHEN zu widerlegen versucht (Seite 295). Alle Erkenntnis ist aus der Erfahrung geschöpft, es gibt keine apriorische Erkenntnis. Die Relationen sind nicht Denkprodukte, sondern in den Tatbeständen gegeben. Die logizistische Hypothese eines dritten Reiches des Logischen oder des Geltenden neben dem Physischen und dem Psychischen ist überflüssig. - Die Mengenlehre ist nach ZIEHEN "kein Teil der Logik, aber ihre bevorzugte Tochterwissenschaft".

Während ZIEHEN sich vom Empiriokritizismus aus dem realistischen Standpunkt zwar näherte, aber den wirklichen Übergang zu ihn doch noch vermied, vollzieht diesen Schritt dagegen MORITZ SCHLICK (geb. 1882 in Berlin, 1911 Pädagoge in Rostock, 1921 ordentlicher Professor in Kiel, 1922 in Wien). Er ging von der Physik aus. Raum und Zeit in der gegenwärtigen Physik. Zur Einführung in das Verständnis der allgemeinen Relativitätstheorie, Berlin 1917. Allgemeine Erkenntnislehre, Berlin 1918. Philosophie ist nichts anderes, als das System der allgemeinsten Prinzipien, die in allem Erkennen enthalten sind. Die allgemeine Erkenntnislehre muß ausgehen von den exakten Wissenschaften, weil diese sich im Prinzip auf beliebige räumliche und zeitliche Fernen erstrecken. Die allgemeinsten Prinzipien sind überall dieselben, das Erkennen sei überall ein und dasselbe. SCHLICK steht in der ganzen Art seines Denkens dem Positivismus sehr nahe. Wie dieser erkennt auch er eine besondere Stellung des Ich nicht an. Es ist ihm lediglich die EInheit des schlechthin seienden "Bewußtseinsstromes", kein ihn ständig begleitendes Moment, sondern nur ein Inhalt unter anderen. Gleichwohl lehnt er im Gegensatz zu MACH den Immanenzstandpunkt ab, da er zur LEIBNIZschen Monadenlehre weiterführe und außerdem mit dem Kausalitätsprinzip im Widerspruch sei. Er geht zum kritischen Realismus über. Die Dinge ansich sind nicht räumlich. Der Raum ist überhaupt kein anschaulicher Bewußtseinsinhalt. Alles unmittelbar Gegebene nennt SCHLICK psychisch. Der "Physische" soll ein bloßes "Zeichen" sein. Die Zuordnung zwischen beiden müsse parallelistisch sein. Auch die Bezeichnung "Monismus" nimmt SCHLICK für seinen Standpunkt in Anspruch, da er die Auffassung vertritt, daß alles Sein insofern von einer und derselben Art ist, als es der Erkenntnis durch quantitative Begriffe zugänglich gemacht werden könne. Unter schärfster Ablehnung von HUSSERLs Begriffs- und Evidenzlehre wie auch der verwandten Lehren BRENTANOs erblickt SCHLICK in allem Erkennen ein bloßes "Bezeichnen", "ein Wiederfinden eines in anderem" (Seite 66). Alle Begriffe seien "Fiktionen", die eine exakte Bezeichnung der Gegenstände zu Erkenntniszwecken ermöglichen sollen. Auch die Urteile sollen bloße Zeichen für Tatsachen sein (Seite 39). Die Auffassung, daß Anschauung Erkenntnis gewähre, wird von SCHLICK unter lebhafter Polemik gegen BRENTANO und STUMPF abgewiesen. Es dürfe das "Kennen" nicht mit dem "Erkennen" verwechselt werden. In Bezug auf den Syllogismus schließt sich SCHLICK der Auffassung MILLs an, daß in jedem Schluß die Prämisse bereits den Schlußsatz in sich enthalte. Es gibt keine apriorischen Denk- und Anschauungsformen, denen die Dinge sich fügen müssen.

§ 34. IV.  Die Immanenzphilosophie,  deren Hauptvertreter WILHELM SCHUPPE (1836 - 1913) war, weist mit dem Empiriokritizismus und auch dem korrelativistischen Positivismus von LAAS manche Ähnlichkeiten auf, indem auch sie rein empirisch sein will, mit aller Metaphysik auch das Ding ansich ablehnt und Subjekt und Objekt untrennbar verkettet; aber sie unterscheidet sich von jenen anderen Richtungen durch das Festhalten am  Ich,  das ihr als ein letztes nicht weiter auflösbares Moment erscheint. Alle Wirklichkeit ist  immanenter Natur,  d. h. existiert nur innerhalb des Bewußtseins als sein Inhalt, nicht außerhalb von ihm. Aber auch das Bewußtsein (Ich) kann nicht ohne Inhalt sein. Später ist SCHUPPE dazu übergegangen, neben den individuellen Ichen noch ein sie tragendes allgemeines Ich (Bewußtsein) anzunehmen, dessen Inhalt die überindividuelle Wirklichkeit sein soll.

Verwandt, nicht identisch mit der Immanenzphilosophie ist die  Philosophie des Gegebenen  JOHANNES REHMKEs (siehe § 52).

Ein besonderes Organ für die immanente Philosophie wurde 1895 gegründet: Zeitschrift für immanente Philosophie. Unter Mitwirkung von WILHELM SCHUPPE und RICHARD SCHUBERT-SOLDERN, hg. von MAX R. KAUFFMANN, seit 1897 von SCHUPPE. Es erschienen nur 4 Bde. Über die Richtung gibt Aufschluß die von KAUFFMANN verfaßte Einführung in Heft 1. Vgl. auch ie Einleitung von SCHUBERT-SOLDERNs Werk: Das menschliche Glück und die soziale Frage. Ferner WILHELM WUNDT, Über naiven und kritischen Realismus, 1. Artikel, Philosophische Studien 12, 1896; 13, 1897. Siehe dazu von SCHUBERT-SOLDERN, ebd. Seite 305f und die Erwiderung von WUNDT, ebd. Seite 318f und WILHELM SCHUPPE, Die immanente Philosophie und WILHELM WUNDT, Zeitschrift für immanente Philosophie, Bd. 2.

Die durchaus phänomenale Auffassung der Natur vertritt ANTON von LECLAIR (geb. 1848 in Verona, Schulrat), Der Realismus der modernen Naturwissenschaft im Lichte der von Berkeley und Kant angebahnten Erkenntniskritik, Prag 1879. Beiträge zu einer monistischen Erkenntnistheorie, Breslau 1882. Lehrbuch der allgemeinen Logik, Leipzig 1894 u. a. LECLAIR erkennt ein extramentales Sein nicht an und lehnt alle Metaphysik ab. Sein Fundamentalsatz ist: Denken = Denken eines Seins; Sein - gedachtes Sein.

SCHUPPEs Schriften. Das menschliche Denken, Berlin 1870. Erkenntnistheoretische Logik, Bonn 1878, Grundzüge der Ethik und Rechtsphilosophie, Breslau 1882. Das metaphysische Motiv und die Geschichte der Philosophie im Umrisse, Rede, Breslau 1882. Der Begriff des subjektiven Rechts, Breslau 1887. Das Gewohnheitsrecht, Breslau 1890. Das Recht des Besitzes, ebd. 1891. Grundriß der Erkenntnistheorie und Logik, Berlin 1894. Begriff und Grenzen der Psychologie, 1896. Die immanente Philosophie 1897. Der Solipsismus, 1898. Das Problem der Verantwortlichkeit, Berlin 1913.

SCHUPPE (geb. 1836 in Brieg, seit 1873 ordentlicher Professor in Greifswald, gest. 1913) hat den Standpunkt der Immanenzphilosophie entwickelt in seiner "Erkenntnistheoretischen Logik" (besonders Kapitel IV und XII), die in scharfem Gegensatz zur traditionellen Logik steht, da sie gleichzeitig  Erkenntnistheorie  ist. Beide, Logik und Erkenntnistheorie, können nach SCHUPPE überhaupt nicht getrennt werden, da alle Logik es mit dem Unterschied zwischen wahrem und falschem Denken zu tun hat, dieser Unterschied aber das Problem der Erkenntnistheorie ist. Die Tendenz SCHUPPEs ist  rein empirisch,  auf Ausscheidung metaphysischer Konstruktionen gerichtet. Die wichtigste und völlig aufzugebende metaphysische Theorie ist der transzendente Realismus, der Bewußtsein und Objekte trennt und diese auch außerhalb jenes existieren läßt. Nach SCHUPPE gibt es keine außerbewußten Objekte, sondern nur das  Bewußtsein  samt seinen  Inhalten.  Beide sind untrennbar, auch das Bewußtsein ist ohne Inhalt nicht möglich. SCHUPPE faßt dasselbe durchaus personal: die Inhalte sind stets einem Ich bewußt. Dieses - dauernd identisch bleibende - Ich ist nicht etwa ein Komplex von Inhalten, sondern ein durchaus eigenartiges, faktisch feststellbares, nicht weiter reduzierbares Moment. Das Ich ist unräumlich, auch nicht irgendwo im Raum als Punkt. Es enthält den Raum als Bewußtseinsinhalt. Einen ganz konstanten Bewußtseinsinhalt hat das Ich im eigenen Leib. - Die Existenz der übrigen Menschen ist erschlossen, nicht wahrgenommen. Ein großer Teil des Bewußtseinsinhaltes ist allen Individuen gemeinsam, ein anderer ihnen individuell zu eigen. - Auch SCHUPPE kehrt also in gewissem Umfang zum naiven Realismus zurück. Die Bewußtseinsinhalte sind die Dinge selber. Das "Sein" von Dingen, die momentan nicht im Bewußtsein sind, besteht auch nach SCHUPPE nur in der  Möglichkeit,  dieselben unter bestimmten Bedingungen wahrzunehmen (vgl. LAAS, MILL, CORNELIUS u. a.). Das Wirkliche selbst - die Bewußtseinsinhalte - besteht keineswegs bloß in Empfindungen, sondern auch in Gefühlen, Abstrakta usw., SCHUPPE steht nicht auf einem sensualistischen Standpunkt. Andererseits lehnt aber auch er alle Funktionen, alle "Seelentätigkeiten" ab (Vorstellen, Empfinden usw.), er meint sogar als erster gegen sie polemisiert zu haben; es gibt nach ihm nur Bewußtsein auf der einen, Inhalte auf der anderen Seite, nicht aber bestimmte Akte des Bewußtseins.

Im "Grundriß" schreitet SCHUPPE zu der schon in der "Logik" sich anbahnenden Annahme eines abstrakten Ich oder Bewußtseins fort, das, obwohl nicht konkret, doch das allen Individuen gemeinsame Wesen sein soll. "Es ist also dasselbe eine Ich oder Subjekt überhaupt, welche sich an soundso vielen Orten im Raum und Teilchen in der Zeit findet (dadurch eo ipso nicht mehr Bewußtsein überhaupt, sondern individuelles, nicht mehr reines Ich, sondern individuelles) und den ganzen Raum und die ganze Zeit außerhalb dieses Teilchens nur von ihm aus sieht und ebendeshalb löst sich der Raum und die Zeit aus dem individuellen Bewußtsein und gewinnt objektive, d. h. von den Individualitäten unabhängige, vom Bewußtsein überhaupt abhängige und zu ihm gehörige Existenz - der eine und selbe Raum und Zeit für alle." Diesem Bewußtsein überhaupt soll der allen Individuen gemeinsame Bewußtseinsinhalt, die objektive Welt, angehören. Die Lehre von der individuellen Gestaltung des allgemeinen Ich ist die Psychologie. - Begrifflich-logische Interessen haben SCHUPPE auch auf das in neuerer Zeit von Philosophen stark vernachlässigte Gebiet der  Rechtswissenschaft  geführt; er wandte auch auf sie seine erkenntnistheoretischen und logischen Ergebnisse an.

Eine Synthese zwischen der Immanenzphilosophie und dem Empiriokritizismus hat RICHARD von SCHUBERT-SOLDERN (geb. 1852, längere Zeit außerordentlicher Professor in Leipzig, später Gymnasial-Professor in Görz) versucht. Über Transzendenz des Objekts und des Subjekts, Leipzig 1887. Grundlagen zu einer Ethik, ebd. 1887. Der Gegenstand der Psychologie und das Bewußtsein, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 8, 1884. Über den Begriff der allgemeinen Bildung, Leipzig 1896. Das menschliche Glück und die soziale Frage, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaften, Tübingen 1896. Erkenntnistheoretische Betrachtung der Elemente der Gesellschaft, des Staates und der Geschichte, Archiv für Sozialwissenschaft 1904. Die menschliche Erziehung, Tübingen 1905, u. a. Der wichtigste Punkt, in dem er von der eigentlichen Immanenzphilosophie abweicht, ist seine Leugnung des Ich. Es gibt nach ihm nur Bewußtseinsinhalte, kein sie habendes besonderes Ich. Die Inhalte stellen einen kontinuierlich fließendem Zusammenhang dar, dessen Einheit durch die drei Momente des Raumes, der Zeit und der Unterschiedenheit bedingt sein soll, welche selbst wieder durch die Zeit zu einer höheren Einheit verbunden sind. "Das Ich ist nur eine Auffassung des Gegebenen als Bewußtseinsprozeß" (Über Transzendenz etc. Seite 96). Über diesen Bewußtseinszusammenhang hinauszukommen ist nicht möglich, jede Erschließung einer neuen Tatsache bedeutet nur eine Erweiterung desselben. SCHUBERT-SOLDERN nennt diesen Standpunkt  "erkenntnistheoretischen  Solipsismus". Er unterscheidet ihn aber ausdrücklich vom  metaphysischen  Solipsismus, nach welchem die Wirklichkeit nur eine Art Traum eines außerhalb seiner stehenden Wesens (Seelenatom usw.) sei. Nach dem erkenntnistheoretischen Solipsismus dagegen ist das individuelle Ich in einen umfassenderen Zusammenhang eingeschaltet, obschon sein Zentralpukt (Das menschliche Glück, Seite X). Auch leugnet SCHUBERT-SOLDERN nicht die Existenz anderer menschlicher Bewußtseine (Über Transzendenz, Seite 86). Im Gegensatz zu AVENARIUS erklärt SCHUBERT-SOLDERN die Introjektion (siehe oben) für notwendig. Nur mittels ihrer kann ich aus meinen und meiner Mitmenschen Erfahrungen die "gemeinsame" Erfahrungswelt konstruieren. In seiner gedankenreichen Ethik vertritt SCHUBERT-SOLDERN einen sozial-eudämonistischen Standpunkt; er fordert materielle und geistige Hebung des vierten Standes, aber auch die Aufrechterhaltung materieller und kultureller Unterschiede.

Auf dem Standpunkt des erkenntnistheoretischen Solipsismus von SCHUBERT-SOLDERN steht auch MAX KAUFFMANN (1896 in den Alpen verunglückt), Fundamente der Erkenntnistheorie und Wissenslehre, Leipzig 1890. Immanente Philosophie, 1. Band: Analyse der Metaphysik, Leipzig 1893. Eine Verschiedenheit von Subjekt und Objekt existiert nicht. In seiner Begriffslehre ist Kauffmann entschiedener Nominalist, wie er überhaupt von BERKELEY und HUME am stärksten beeinflußt ist. Abhängig von LAAS und SCHUBERT-SOLDERN scheint MARTIN KEIBEL zu sein (geb. 1863, lebt in Eisenach), Wert und Ursprung der philosophischen Transzendenz, Berlin 1886. Die Religion und ihr Recht gegenüber dem modernen Moralismus, Halle 1896. Die Abbildungstheorie und ihr Recht in der Wissenschaftslehre, Zft. für immanente Philosophie 3, 1898. In seinen Ansichten über die Entstehung der Religion schließt sich KEIBEL an WILHELM BENDER an. Teilweise von der Immanenzphilosophie beeinflußt ist ferner ILARU SOCOLIU, Die Grundprobleme der Philosophie kritisch dargestellt und zu lösen versucht, Bern 1895, früher erschienen unter dem Titel: J. SEGALL-SOCOLIU, Zur Verjüngung der Philosophie, Psychologische Untersuchungen auf dem Gebiet des menschlichen Wissens, Berlin 1893, der die Lehre von der Immanenz zu vereinigen sucht mit Realismus, Rationalismus und einem teleologischen Mechanismus. - Manche kleinere Schriften immanenzphilosophischer Richtung müssen übergangen werden. Erwähnt sei noch, daß ähnliche Ansichten auch in Frankreich und England vertreten sind. SOCOLIU darüber bei SCHUBERT-SOLDERN, Das menschliche Glück, Seite Vf.

Grundfragen der Ästhetik im Lichte der immanenten Philosophie" behandelt FRITZ MARSCHNER, Zft. für immanente Philosophie, Bd. 4, Seite 1 - 56.

§ 35. V.  Idealistisch-pragmatischer Positivismus.  In eigentümlicher Weise umgebildet worden ist der Positivismus in VAIHINGERs "Philosophie des Als-Ob". Am Sensualismus festhaltend erklärt er die Wissenschaft dennoch für unfähig, objektive Erkenntnis der Wirkichkeit zu geben, sie ist lediglich ein biologisch wertvoller Faktor für die Selbsterhaltung. Alle menschliche Erkenntnis besteht aus bloßen  Fiktionen,  sie betrachtet die Dinge, als wenn sie in bestimmter Weise beschaffen wären, ohne daß sie das wirklich sind. An ihre wirkliche Beschaffenheit reicht das Denken nicht heran. Wie auf dem Gebiet der Einzelwissenschaft ist auch auf religiös-metaphysischem Gebiet alles Fiktion. Für die Zukunft handelt es sich darum, auch hier möglichst lebensfördernde Fiktionen aufzustellen und anzuerkennen. - VAIHINGERs Philosophie ist die (tiefere) deutsche Parallelerscheinung zum amerikanisch-englischen Pragmatismus.

HANS VAIHINGER (geb. 1852 in Nehren, durchlief das Tübinger Stift, habilitierte sich 1877 bei LAAS in Straßburg, 1884 außerordentlicher, 1894 ordentlicher Professor in Halle, 1906 infolge eines Augenleidens zurückgetreten, jetzt fast erblindet) ist, zugleich durch KANT und SCHOPENHAUER (Pessimismus und Irrationalismus), auch von AVENARIUS und STEINTHAL beeinflußt, der einzige unmittelbare Anhänger LANGEs. Er hat dessen System in eigentümlicher Weise um- und fortgebildet. Schon in seiner Schrift: Hartmann, Dühring und Lange, Iserlohn 1876, erblickt VAIHINGER in LANGEs Philosophie den Standpunkt, auf den die Lage hindränge, während die Systeme HARTMANNs und DÜHRINGs - nächst LANGE die nach VAIHINGER damals bedeutendsten - ein letztes Aufflackern der idealistischen bzw. materialistisch-dogmatischen Metaphysik darstellten. Doch bezeichnet VAIHINGER schon damals den Kritizismus als "keineswegs ein streng geschlossenes  System,  sondern eine streng-wissenschaftlich  Methode"  (Seite 235). Ein eigentliches System erschien ihm als vor der Hand nicht möglich. VAIHINGER hat dann selbst in die Kantbewegung in bedeutsamer Weise eingegriffen. Das Entwicklungsgesetz der Vorstellungen über das Reale, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 2, 1878. Die Philosophie im Staatsexamen, Berlin 1905.

VAIHINGERs systematisches Hauptwerk ist die  Philosophie des Als Ob,  System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus. Mit einem Anhang über Kant und Nietzsche, Berlin 1911 (mit einem Vorwort über die Einflüsse, unter denen das Werk entstand). Ergänzungen: Ist die Philosophie des Als Ob Skeptizismus, Annalen der Philosophie, Bd. 2, 1921; Kants antithetische Geistesart erläutert an seiner Als-Ob-Lehre, in der Festschrift: "Den Manen Friedrich Nietzsches". Weimarer Weihgeschenke zum 75. Geburtstag von Frau Elisabeth Förster-Nietzsche, München 1921 (gegen ADICKES). Das Werk ist in seinen Hauptpartien (Erster prinzipieller Teil) ein bereits 1876-78 geschriebenes Jugendwerk VAIHINGERs, das eigentlich erst posthum erscheinen sollte. Die geistige Situation der Gegenwart hat den Verfasser jedoch bestimmt, es in den Jahren 1906 - 11 zu vollenden und noch bei Lebzeiten herauszugeben. Historisch verdankt das Werk nächst dem Darwinisums am meisten F. A. LANGE, der denn auch dem Verfasser nicht lange vor seinem Tod schrieb: "Ich bin überzeugt, daß der von Ihnen hervorgehobene Punkt einmal ein Eckstein der philosophischen Erkenntnistheorie werden wird." Dieser zentrale Punkt des ganzen Werkes betrifft das Verhältnis der Wissenschaft zum Sein. Die gewöhnliche Auffassung nimmt hier ein Verhältnis des Sichentsprechens in der Weise an, daß das Erkennen eine unabhängig von ihm bestehende Wirklichkeit in gewisser Weise nachbildet. Dieser Gedanke hat besonders im Neukantianismus viel Gegnerschaft gefunden. So weit geht VAIHINGER nicht: jedes wahre Urteil bildet nach ihm zweifellos in gewisser Weise die Wirklichkeit im Verstand ab. Wohl aber leugnet er, daß der größte Teil unserer sogenannten Erkenntnis von diesem Charakter sei. Die Erkenntnis ist nur ein intellektuelles Mittel im Kampf mit der Außenwelt, das den höchsten  biologischen  Wert, aber keinerlei eigentlichen Wahrheitswert besitzt. In jenen Partien seines Werkes, die seine Ideen am konsequentesten aussprechen, entwickelt VAIHINGER, daß überhaupt alle und jede Wissenschaft nur  Fiktion  ist und nirgends an die Wirklichkeit selbst heranreicht, denn schon jeder Begriff, selbst die einfachste Kategorie, sei bereits eine Fiktion, der keine Realität mehr entspricht. Da aber in allen Erkenntnissen Kategorien stecken, so kann es eigentliche Erkenntnis im echten Sinne überhaupt nicht geben. "Unser Vorstellungsgebilde der Wel ist ein  ungeheures Gewebe von Fiktionen,  voll logischer Widersprüche." "Die Kategorien sind nichts als  bequeme  Hilfsmittel, um die Empfindungsmassen zu bewältigen:' weiter haben sie ursprünglich keinen Zweck. Sie sind entstanden aus diesem praktischen Bedürfnis und die Zahl und spezielle Art derselben war bestimmt durch die verschiedenen Äußerungsformen des Seienden, denen sich die Psyche mit diesen Fomen anpaßte - aber oft recht äußerlich." Auch der Begriff des  Dinges  mit seinen Eigenschaften ist eine bloße Fiktion. Doch ist zu beachten, daß VAIHINGER eine gewisse Einschränkung des Begriffs der Kategorien vornimmt. Die Begriffe Einheit, Vielheit, Dasein usw. scheint er gar nicht aus eigentliche Kategorien anzusehen, jedenfalls behandelt er sie nicht als solche und sieht demnach einfache Wahrnehmungsurteile über das Vorhandensein von Empfindungen auch nicht als Fiktionen an. Die einzigen Kategorien, die nach ihm noch wissenschaftliche Verwendung finden, sind die Begriffe des Dings mit seinen Eigenschaften und die der Kausalität, des Grundes und der Folge. Streift man die Fiktionen von der Wirklichkeit ab, so sei das, was übrig bleibt, nichts als ein Aggregat von Sinnesempfindungen. Insoweit ist VAIHINGERs Philosophie also durchaus  sensualistisch,  wie er denn ausdrücklich nicht Skeptizismus sein will. Auch ein besonderes Ich im Sinne der Seelenmonade wird von ihm nicht angenommen. Wahrscheinlich sind schon in den elementarsten physikalischen Vorgängen Strebungen enthalten. Außer den Einzelempfindungen (und den Strebungen und Gefühlen) ist nach ihm objektiver Natur nur noch ihr Zusammenhang, die Reihenfolge, in der sie aufeinanderfolgen, bzw. ihre Koexistenz. Die Welt weist überaus viel Zweckmäßiges, aber auch überaus viel Unzweckmäßiges auf.

Der Begriff der  Fiktion  selbst, betont VAIHINGER, ist von dem der  Hypothese  streng zu unterscheiden. Die Hypothese versucht wirklich zu erkennen und will an der Wirklichkeit nachgeprüft werden, ob sie ihr entspricht. Die Fiktion dagegen ist sich schon im voraus völlig im klaren, daß sie kein Abbild der Wirklichkeit ist. Sie will es auch gar nicht sein. Sie ist sogar stets mit inneren Widersprüchen behaftet, wie etwas die Begriffe des unendlich Großen und unendlich Kleinen, der Begriff des Atoms und andere mehr. Die Fiktion ist überhaupt nicht verifizierbar und dient zu weiter nicht, als die Wirklichkeit der Berechnung oder andersartiger intellektueller Bemächtigung zugänglich zu machen. Das Altertum vermied den Gebrauch von Fiktionen nach Möglichkeit, da es den logischen Widerspruch unter allen Umständen scheute, die Neuzeit war kühner, sie fragte lediglich nach dem Resultat der Einführung von Fiktionen und dieses Resultat ist, das zeige die ganze höhere Mathematik, die auf der unklaren und widerspruchsvollen FIktion des Unendlich-Kleinen basiert, ein ganz ausgezeichnetes gewesen. Das war möglich, weil die widerspruchsvollen fiktiven Größen vor Abschluß der Rechnung oder sonstigen Deduktion regelmäßig wieder ausgeschieden werden. Was bisher aber auch in der Neuzeit gefehlt hat, das ist eine klare Einsicht in das Wesen und die erkenntnistheoretische Stellung der Fiktionen gewesen, von denen man einen so weitgehenden Gebrauch machte. Es bestand völlige Unklarheit über ihren eigentlichen Charakter. Zwar nicht die Praxis, wohl aber die Theorie der Erkenntnis blieb nach wie vor beherrscht von dem Vorurteil, daß alles logisch Widerspruchsvolle für das Erkennen wertlos sei, während, wie VAIHINGER meint, logisch widerspruchsvolle Begriffe oft die wertvollsten Begriffe sind. Fiktionen solcher Art sind in der Mathematik z. B. die Begriffe des Negativen, Irrationalen, Imaginären. Nach VAIHINGER lösen sich alle Schwierigkeiten durch die Annahme, daß es nur willkürlich eingebildete, fingierte Größen seien, denen keine Realität irgendwelcher Art entspräche. Aber nicht nur die Mathematik, auch sehr viele andere Wissenschaften arbeiten mit Fiktionsbegriffen, so die Nationalökonomie. ADAM SMITHs Begründung der Nationalökonomie hatte zu ihrer Grundlage die Fiktion, daß die Menschheit nur von materiellen Interessen beherrscht wird. Ganz ähnlich war die Art, wie BENTHAM eine Theorie der Staatseinrichtungen zu geben versuchte. Andere berühmte Fälle von Fiktionen sind CONDILLACs Fiktion einer langsam die einzelnen Sinne nacheinander erlangenden menschenähnlichen Statue, STEINTHALs Fiktion eines noch der Sprache entbehrenden Menschen, des sogenannten homo alalus, ferner LOTZEs "hypothetisches Tier", das nur einen einzigen, zugleich sensiblen und beweglichen Hauptpunkt an der Spitze eines Fühlhorns besitzen sollte. Auch die Robinsonaden sowie FICHTEs geschlossener Handelsstaat werden von VAIHINGER genannt. Überall handelt es sich nicht um wirkliche Hypothesen, um Vermutungen über faktische Tatbestände, sondern bloße Phantasievorstellungen, die von dem klaren Bewußtsein begleitet sind, daß es nicht mehr als bloße Phantasien sind. Rein logisch angesehen läßt sich nach VAIHINGER die fiktive Betrachtung stets auf die Form bringen: ich betrachte das Ding oder den Vorgang, auf dessen Erkenntnis es mir ankommt, als wenn sie so und so beschaffen wären. Ich nehme also mit vollem Bewußtsein eine Veränderung am wirklichen Sachverhalt vor, um ihn leichter erfassen zu können. VAIHINGER glaubt in diesem eigenartigen Denkvorgang eine neue Klasse von Urteilen fixieren zu können, die die bisherige Logik übersehen hatte. Die positive, praktische Forschung hält den rein fiktiven Charakter der einmal gemachten Fiktionen freilich nicht immer fest. Gar nicht so selten schwindet ihr im Lauf der Zeit das Bewußtsein des fiktiven Charakters bestimmter Vorstellungen: die Fiktion wird zur Hypothese und noch etwas später wird diese Hypothese dann sogar zum vermeintlich bewiesenen Lehrsatz, zum Dogma. Dieser Entwicklungsprozeß ist verhängnisvoll. Aber es ist nicht der einzige. Es gibt noch einen anderen, in umgekehrter Richtung verlaufenden, dem der größte Teil aller sogenannten Erkenntnisse unterworfen gewesen ist. Die Kritik zersetzt die Dogmen und wandelt sie um, zunächst in Hypothesen. Dringt sie noch weiter vor, so erkennt sie, daß diese Hypothesen oft keines Beweises fähig oder gar innerlich widerspruchsvoll sind. Da die Hypothesen aber für den Denkprozeß der Erkenntnis von großem Nutzen sind, so macht sie in diesem Fall aus ihnen Fiktionen.

Was nun aber VAIHINGERs Stellung noch weiter charakterisiert, ist, daß er die Fiktionen auch in Zukunft nicht nur innerhalb der Wissenschaften, wo sie unentbehrlich sind, festgehalten wissen will, sondern darüber hinaus für sie auch in der Weltanschauung Anerkennung fordert. Er folgt hier mit vollem Bewußtsein den Spuren F. A. LANGEs: auch als Phantasie soll nach ihm die metaphysische Weltanschauung ihre Bedeutung behalten und einen vollen Lebenswert darstellen. Sie ist dazu da, uns das Leben lebenswert zu machen und es in seiner Intensität zu steigern.

Mit diesen Gedanken eines bewußten Subjektivismus begegnet sich VAIHINGER mit NIETZSCHE, der, wie VAIHINGER überzeugend nachweist, zur gleichen Zeit wie er selbst, also Ende der siebziger Jahre und zwar unter dem unmittelbaren Einfluß der Lektüre F. A. LANGEs zu verwandten Anschauungen gekommen ist. Gegen ADICKES hat VAIHINGER nachgewiesen, daß auch KANT in gewiisen Augenblicken die Begriffe Ding ansich, Gott u. a. als Fiktionen auffaßte, obwohl er dann doch auch wieder am religiösen Glauben festhielt, so daß seine Schriften von Widersprüchen durchsetzt sind ("antithetische Geistesart").

Eine Identifizierung mit dem Pragmatismus lehnt VAIHINGER jetzt ab. Während dieser Wahrheit und Nützlichkeit gleichsetzte oder wenigstens in der letzten ein Kriterium der ersten erblickte, erklärt VAIHINGER all das abzulehnen und nur zu behaupten, daß auch Vorstellungen, von deren Falschheit wir überzeugt sind, sowohl theoretisch als auch praktisch nützlich, ja für uns unentbehrlich sein können. - Selbstdarstellung in Die Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Leipzig 1921, Bd. 2.

Die Pflege der Philosophie des Als Ob im Sinne einer Prüfung ihres logischen Wertes, ihrer psychologischen Grundlagen und des Umfanges ihrer Anwendbarkeit in Wissenschaft, Leben und Weltanschauung setzen sich die seit 1919 erscheinenen  Annalen der Philosophie  zum Ziel, herausgegeben von HANS VAIHINGER und RAYMUND SCHMIDT. 1921 wurde ferner eine Vereinigung von Freunden und Förderern des positivistischen Idealismus gegründet. Die Zeitschrift hat eine Anzahl recht wertvoller Arbeiten gebracht.

Mehr oder weniger auf den Standpunkt VAIHINGERs haben sich für ihre eigenen Gebiete gestellt die Mathematiker EMIL MÜLLER in seiner Festrede in der Wiener Akademie der Wissenschaften: Bedeutung und Wert der mathematischen Erkenntnisse (1917); ERNST TISCHER (Die mathematischen Fiktionen und ihre Bedeutung für die menschliche Erkenntnis in Bd. 1 der "Annalen"); M. PASCH, Die Begründung der Mathematik und die implizite Definition (in Bd. 2); der Physiker OTTO LEHMANN, Das "Als-Ob" in der Molekularphysik (in Bd. 1); Fiktionen in der Elektrizitätslehre (in Bd. 2); die Fiktion vom Universum als Maschine usw. (in Bd. 2); der Mediziner CARL COERPER, Die Bedeutung des fiktionalen Denkens für die medizinische Wissenschaft (in Bd. 1); die Juristen KRÜCKMANN, Wahrheit und Unwahrheit im Recht (in Bd. 1); HANS KELSEN, Zur Theorie der juristischen Fiktionen (in Bd. 1). Ein besonderes Interesse besitzt die Diskussion über die Relativitätstheorie in ihren Beziehungen zur Philosophie des Als Ob, die im Mai 1920 auf der "Als-Ob-Tagung" in Halle stattfand und an der sich OSKAR KRAUS, FRIEDRICH LIPSIUS, PAUL FERDINAND LINCKE und JOSEPH PETZOLDT beteiligten (= Bd. 2, Heft 3).

Verwandte Ideen wie VAIHINGER haben geäußert: FRIEDRICH DREYER (Zoologe), Studien zur Methodenlehre und Erkenntniskritik, 2 Bde. Leipzig 1895 - 1903 (vgl. die Rezension von VAIHINGER, Kantstudien 10, 1905). - WALTER POLLACK (1880 - 1915), Über die philosophischen Grundlagen der wissenschaftlichen Forschung als Beitrag zu einer Methodenpolitik, Berlin 1907. Perspektive und Symbol in Philosophie und Rechtswissenschaft, Berlin 1912 (umfangreich). Er fordert einen universellen "Perspektivismus". Es gibt keine Tatsachen. Alle Wissenschaft ist ein geistiges Spiel nach bestimmten Spielregeln, alles Erkennen ein produktiver Vorgang. Er erstrebte ferner eine "Symbologie", welche die wissenschaftlichen Gedankengänge in visuellen Schematen darstellen und das Finden neuer Gedanken erleichtern soll und hat für die Jurisprudenz selbst umfangreiche Beispiele dafür gegeben. Ein Verzeichnis seiner Arbeiten in den Kantstudien Bd. 21, Seite 347. POLLACK war stark von SIMMEL angeregt. - GÜNTHER JACOBY (geb. 1881, Pädagoge in Greifswald, im Weltkrieg als Professoer an die Universität Konstantinopel berufen), Der Pragmatismus, Leipzig 1909, steht dem amerikanischen Pragmatismus nahe. - ADOLF LAPP, Die Wahrheit. Ein erkenntnistheoretischer Versuch orientiert an Rickert, Husserl und an Vaihingers Philosophie des Als-Ob, Stuttgart 1913 - GILBERT W. CAMPBELL, Fiktives in der Lehre von den Empfindungen, Berlin 1915.

Gegen die Als-Ob-Weltanschauung VAIHINGERs und KANTs wendet sich als katholisch scharf HUGO BUND, Kant als Philosoph des Katholizismus, Berlin 1913. Antikritik: VAIHINGER, Der Atheismusstreit gegen die Philosophie des Als-Ob und das Kantische System, Berlin 1916.

Auf  ästhetischem  Gebiet wurde die Als-Ob-Theorie ganz selbstänig schon vor langen Jahren von KONRAD LANGE aufgestellt (geb. 1855, ordentlicher Professor in Tübingen, gestorben 1921), Gedanken zu einer Ästhetik auf entwicklungsgeschichtlicher Grundlage, Zeitschrift für Psychologie 14, 1897. Das Wesen der Kunst, 2 Bde., Berlin 1901. Über die Methode der Kunstphilosophie, Zeitschrift für Psychologie 36, 1904. Über den Zweck der Kunst, Stuttgart 1912. Die ästhetische Illusion und ihre Kritiker, in Annalen der Philosophie, Bd. 1, 1919 (Verteidigung gegen MEUMANN und STREITER) u. a. Er begründete die Theorie des Jllusionismus: das Wesen der Kunst bestehe in der Illusion, in bewußter Selbsttäuschung. Der Zweck der Kunst ist das Gefühl der Befreiung von der Wirklichkeit. Anhänger LANGEs ist ERICH HEYFELDER (lange Pädagoge in Tübingen), Ästhetische Studien, Berlin 1901-05.

Auf dem Boden des Pragmatismus steht in erheblichem Umfang auch RICHARD MÜLLER-FREIENFELS (Oberlehrer in Berlin-Halensee), ohne jedoh von VAIHINGER abhängig zu sein. Psychologie der Kunst, 2 Bde., Leipzig 1912. Poetik auf psychologischer Grundlage, Leipzig 1914. Individualität und Weltanschauung. Differentialpsychologische Untersuchungen zu Religion, Kunst und Philosophie, Leipzig 1916. Das Denken und die Phantasie. Psychologische Untersuchungen nebst Exkursen zur Psychopathologie, Ästhetik und Erkenntnistheorie, Leipzig 1916. Psychologie der Religion, 2 Bde., Berlin 1920. Bildungs- und Erziehungsideale in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Leipzig 1921. Psychologie des deutschen Menschen, München 1921. Philosophie der Individualität, Leipzig 1921, außerdem zahlreiche Zeitschriftenarbeiten, vielfach als Vorstudien zu den Büchern. Neben NIETZSCHE, von dem er ausging, wirkte besonders WILLIAM JAMES auf ihn. Wir besitzen nach ihm keine objektive Erkenntnis, auch alles Erkennen ist ein Stellungnehmen, nicht ein Abbilden der Welt. "Das Wesen unseres Geistes liegt nicht im rein intellektuellen Erkennen, sondern in seiner logischen Funktion als Mittel zur Erhaltung des Lebens."

MÜLLER-FREIENFELS' Hauptarbeitsgebiet ist die deskriptive Psychologie einschließlich der psychologisch-deskriptiven Ästhetik. Besonders zugewandt ist er dem Problem der Individualität. Versuche auf den verschiedenen geistigen Gebieten Individualitätstypen herauszuarbeiten, machen einen wesentlichen Teil seiner Bestrebungen aus. Auch seine Kunstpsychologie ist dadurch charakterisiert, daß sie zum ersten Mal verschiedene Typen des ästhetischen Erlebens der Kunstwerke festzuhalten sucht. Der Anteil, den MÜLLER- FREIENFELS den niederen Sinnen (Bewegungs- und Gemeinempfindungen) am ästhetischen Erleben zuschreibt, geht über das gewöhnlich ihnen zuerkannte Maß hinaus. Das letzte Kriterium und den letzten Sinn der Kunst sieht er in der durch sie bewirkten Lebenssteigerung. Auch für das Denken versucht er die Bedeutung von motorischen Phänomenen, ebenso auch der Gefühle nachzuweisen. Denken und Phantasie sind nach ihm nicht als reproduktive, sondern vor allem als "reaktive Phänomene" zu verstehen. Er tritt damit in bewußten Gegensatz namentlich zur Assoziationspsychologie. Das wirkliche Denken ist charakterisiert durch ein teleologisches Moment, durch eine "affektiv-motorische Einstellung" des Ich. - Die kunstpsychologischen Schriften von MÜLLER-FREIENFELS sind am wertvollsten und basieren auf einem reichen eigenen Kunsterleben. - Irrationalismus. Umrisse und Erkenntnislehre, Leipzig 1922.
LITERATUR: Friedrich Überwegs Grundriß der Geschichte der Philosophie, Vierter Teil, Berlin 1923